Politische Anklageschrift und cinephiler Freispruch

Filme sind keine kontextlosen Artefakte, sondern Eingriffe in die Welt. Warum sich das Kino aus der Politik nicht herauswinden kann und eher in den Zeugenstand als auf die Anklagebank gehört.

Es ist nun schon eine Weile her, dass ich eine Essayreihe zu konzipieren hatte, die sich in irgendeiner Form um die Zukunft des Kinos drehen sollte. Ein gutes halbes Jahr später sitze ich in einer Welt, in der dem Kino schon die Gegenwart abhanden gekommen ist, über einem selbst gewählten Titel brütend, der wie so vieles gerade aus einer ganz anderen Welt zu kommen scheint. Andererseits war „Politische Cinephilie” schon damals ein Verlegenheitstitel. Nicht weil mir kein besserer eingefallen war, sondern weil er eine sehr konkrete Verlegenheitserfahrung zum Ausdruck bringen sollte: in „politischen” Debatten mit Freunden über Filme stets das Kino und seine Eigenlogik ins Spiel zu bringen, in filmkritischen Diskussionen dagegen immer wieder „politische” Argumente zu formulieren.

Herrje, die hässlichen Anführungszeichen, noch so eine Verlegenheit, aber es geht mir eben um keinen abstrakten Begriff des Politischen, der sich leicht in filmphilosophischen Abhandlungen über das Verhältnis von Politik und Ästhetik verstecken könnte. „Politisch” meint hier erst mal schlicht das, worüber gesellschaftlich gestritten wird. Denn das Ungenügen, das ich empfinde, wenn ich mich gezwungen sehe zu trennen, was ich eigentlich gern vereinen würde, hat meist mit einem Themenkomplex zu tun, über den seit ein paar Jahren sehr heftig gestritten wird – und der mit dem Begriff Identitätspolitik mehr schlecht als recht auf einen Nenner gebracht scheint.

Dabei lohnt ein Blick in die Geschichte dieses Begriffs. Für die schwarzen Feministinnen des Combahee River Collective, die den Begriff in ihrem Manifest von 1977 prägten, war Identitätspolitik erst mal die strategische Umwandlung einer negativen Zuschreibung in eine politische Perspektive. Und diese Perspektive zielte wiederum auf die Überwindung aller Zuschreibungen, sollte also gerade nicht nur das Eigene in Stellung bringen, sondern einen neuartigen Blick aufs Ganze ermöglichen.

Mit Zuschreibungen, Perspektiven und neuartigen Blicken sollte sich das Kino eigentlich auskennen. Trotzdem wird die Identitätspolitik mitunter als etwas beschrieben, das dem Kino selbst äußerlich wäre: als neuartiger politischer Diskurs, der sich der Filmkultur bemächtigt und dabei Fragen der Repräsentation nicht nur in die Filmbranche, sondern auch in die Filme selbst hineinträgt, wo sie angeblich nichts zu suchen hätten. Dabei mag die Form identitätspolitischer Debatten neu sein, ihr Gegenstand aber ist zunächst mal Ausdruck von kulturellen Verteilungskämpfen, die seit Jahrhunderten toben. Und weil es in diese Kämpfe seit seiner Geburt verstrickt ist, wird das Kino sich aus diesen Debatten nicht rauswinden können. Wichtiger wäre also zu fragen, ob dieses Kino (als Kunstform, als Archiv bewegter Bilder, als ethische Praxis) zu diesen Debatten einen eigenständigen Beitrag leisten kann.

Der Verlegenheitstitel „Politische Cinephilie“ zielte damals also zunächst auf ein Problemfeld, das ich für noch nicht ausreichend beackert hielt. Wenig Wochen später stieß ich auf das Manifest „For a New Cinephilia” des indisch-amerikanischen Filmkritikers Girish Shambu, das sich ähnlichen Fragen widmete. Auch wenn Shambus Manifest, wie es sich für ein Manifest vielleicht auch gehört, von blinden Flecken, Strohmann-Argumenten und Vereinfachungen durchzogen ist, ist es mir ein wichtiger Referenzpunkt geworden. Es endet mit den Worten: „Egal wie brennend und leidenschaftlich unsere Liebe für dieses Medium ist, die Welt ist größer und weitaus wichtiger als das Kino.“

Die Zukunft des Kinos, über die von mir zu schreiben verlangt wurde, sei von der Zukunft der Welt nicht zu trennen, hatte ich ein paar Wochen zuvor in mein Konzept geschrieben. Im Corona-Frühling 2020, nach mehrmonatiger Kino-Abstinenz, stelle ich fest: So hatte ich das jetzt auch nicht gemeint. Ein bisschen befreiend ist es andererseits auch, nun ein Projekt anzugehen, das mich mit der alten Welt verbindet, und über politische Fragen zu schreiben, die in Zeiten einer globalen Pandemie für viele in den Hintergrund getreten sein mögen, dort aber nicht weniger virulent sind.

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Zum Auftakt der Reihe will ich noch nicht ins filmische Geschehen selbst einsteigen, sondern das eingangs beschriebene Ungenügen näher bestimmen – anhand von zwei Phänomenen, die ich die politische Anklageschrift und den cinephilen Freispruch nenne. Ich bleibe bei der Beschreibung dieser Phänomene bewusst unkonkret, weil sie eher Tendenzen als klare Positionen benennen und in unterschiedlichsten Kontexten auftreten: in der Filmkritik wie in der Wissenschaft, im gesprochenen wie im geschriebenen Wort, mal mit Pathos vorgetragen, mal im Subtext verborgen.

Auch Filme selbst können politische Anklageschriften sein; etwa jene Thesen- und Themenfilme, die in filmkritischen Kreisen gern verspottet werden und für die exemplarisch der Berlinale-Wettbewerb Kosslick’scher Prägung stand: subtil nur zum Schein, eigentlich immer lesbar, vor allem übersetzbar in einen entsprechenden politischen Diskurs. Filme wie Abbildungsverzeichnisse akademischer Studien. Statt (siehe Abbildung 3) dann eben (siehe Szene 17). Und wenn die immer klar formulierte Fragestellung einmal nicht abschließend beantwortet, sondern bewusst ambivalent gehalten wird, dann gleicht selbst ein solch offenes Ende dem Hinweis aus einem Studienfazit, dass noch weitere Forschungsarbeit nötig ist.

In der Filmkritik wie in den Film Studies richtet sich die politische Anklageschrift dagegen nicht auf einen gesellschaftlichen Missstand, sondern auf konkrete Filme, getrieben von einem hehren Anspruch und bewaffnet mit einem Arsenal von akademischen Begriffen. Diese Form der Kritik mag berechtigt oder unberechtigt sein, sie wird allerdings zum Problem, wenn sie den Filmen selbst den Mund verbietet oder ihnen nur das eigene begrenzte Vokabular zur Verfügung stellt, anstatt sie selbst sprechen zu lassen. Texte dieser Art laufen häufig im Modus der Beweisführung ab. Dann findet sich hier ein latent diskriminierendes Stereotyp, dort eine problematische Dialogzeile, im Subtext noch ein paar weitere Indizien, und schon ist das Plädoyer formuliert und das Urteil gleich mitgesprochen: von der Ästhetik her ganz in Ordnung, aber politisch durchgefallen.

An die Stelle der Auseinandersetzung tritt ein Polit-TÜV, der jene genuin politischen Debatten verhindert, die gerade ein bewegtes Medium erhellen könnte. Anstatt etwa einen Film an sich als rassistisch oder sexistisch zu deklarieren, wäre eine wichtigere Frage, ob er, bewusst oder unbewusst, zeigt, wie Rassismus funktioniert, wie sich Geschlecht in Körper einschreibt, wie sich machtvolle Zuschreibungen zueinander verhalten, wie sie sich wandeln, wo sie verwundbar sind. Und ob er nicht vielleicht gerade durch seinen problematischen Gehalt eine Einsicht in die eigene Verstrickung ermöglicht, wie es ein dozierender Film niemals könnte. Dieser Film wäre dann nicht mehr Angeklagter, sondern ein Zeuge, der möglicherweise Interessantes zu berichten hätte, unabhängig von seinen Absichten.

Das Problem an der politischen Anklageschrift ist also weniger, dass sie parteiisch, moralisierend, hysterisch, radikal oder kunstfeindlich wäre, sondern dass sie keine Vorstellung des Politischen mitliefert, die über die Sammlung politischer Zumutungen hinausgeht. Sie funktioniert damit analog zu einer Form der Identitätspolitik, die mit dem Anspruch des oben erwähnten Combahee River Collective nichts mehr zu tun hat, weil sie Identitäten gerade nicht politisch denkt, als Bewegtbild, sondern stillstellt, als Abbildung.

So unbefriedigend es jedoch ist, Filme nach gelungener politischer Anklage einfach ins Gefängnis zu sperren, so unzureichend ist eine Reaktion, die sich damit begnügt, im Dickicht der beschuldigten Werke subversive Blümchen zu pflücken und zu einem Kautionsstrauß zusammenzubinden. Diese Geste, die ich cinephilen Freispruch nenne, versucht, jeglichen Versuch der Politisierung – ob in Bezug auf narrative Dynamiken, ästhetische Entscheidungen oder Produktions- und Rezeptionsbedingungen – als unzulässigen Übergriff abzuwehren. Als wäre jede ernst gemeinte Verknüpfung eines Films mit der Welt da draußen eine nicht hinnehmbare Zumutung, als wären Filme nicht aus Materialien gebaut, die selbst soziale Verhandlungsmasse sind.

Eine Romantik der Transzendenz spricht aus dieser Geste, geboren aus der nachvollziehbaren (oder besser: nachfühlbaren) Kinoliebe, genährt wohl auch von einer Filmwissenschaft, die sich um die Jahrtausendwende mit großer Geste endgültig aus den Zwängen von Ideologiekritik und Psychoanalyse alter Schule befreien wollte und sich in Richtung Formalismus oder Affekttheorie hinwand. Diese Romantik geht in etwa so: Filme funktionieren anders, und sobald man versucht, sie mit den Begriffen des Politischen zu fassen, sind sie längst entfleucht. Ihnen mit Politik, mit Identitätspolitik gar!, zu Leibe zu rücken, ist versuchte Körperverletzung, denn Filme sind ja selbst Körper, repräsentieren keine Welt, sondern stellen eine eigene her, sind keine ideologischen Täuschungsversuche, sondern affektive Erfahrungen, finden zum Inhalt nur in der Form.

Die Literaturwissenschaftlerin Rita Felski hat diese Geste einmal so beschrieben, dass hier „die Pracht des Textes gegen die gefletschten Zähne des Kontexts” verteidigt würde, als gäbe es ein „Nullsummenspiel, in dem die eine Seite besiegt werden muss, damit die andere triumphieren kann.” (The Limits of Critique, S. 164) Hier scheint mir das Missverständnis auf den Punkt gebracht: Dass Filme in politischen Anklageschriften manchmal allzu platt auf Begriffe wie Whiteness, Rape Culture oder Kolonialität gebracht werden, heißt nicht, dass sie nichts zu tun hätten mit den Phänomenen, die diese Begriffe zu beschreiben suchen.

Die Rezeption von Todd Phillips’ Joker war ein einschlägiger Fall des Zusammenspiels beider Tendenzen. Während liberale US-Filmkritiker wie Richard Brody den Film in politischen Anklageschriften zu einer einzigen Ausgeburt toxischer Männlichkeit, Incel-Kultur und rassistischer Ikonografie erklärten, mahnte man aufseiten der Verteidigung diese Vereinfachungen zurecht an, problematisierte aber kaum jene von Regisseur Todd Phillips selbst ins Spiel gebrachte Lesart des Films als Anklage einer verweichlichten linksliberalen „Political Correctness”-Kultur, in der man gar nichts mehr dürfe. All das wirkte wie die Kinopremiere eines Theaterstücks, das schon zigmal auf anderen Bühnen gespielt worden war.

Filme sind aber nicht kontextlose Artefakte, sondern Eingriffe in die Welt, stehen in einem größeren Zusammenhang, der nicht zuletzt geprägt ist vom Erstarken eines neofaschistischen Diskurses, der sich wiederum eben jener Geste des Widerstands gegen die neue Korrektheit bedient. So wie die politische Anklageschrift analog zu einer allzu schlichten Identitätspolitik funktioniert, wirkt der cinephile Freispruch analog zur reaktionären Zurückweisung identitätspolitischer Ansprüche ans Kino, und offenbart damit eine zumindest strukturelle Ähnlichkeit zu Diskursstrategien der Neuen Rechten. Vor allem dann, wenn er keine eigene politische Kritik mitliefert, sondern die Politisierung selbst zurückweist (als Korrektheit, als Moralkeule, als Kunstfeindlichkeit) oder sich in einer bloßen Feier des angeblich unpolitischen Affekts ergeht (als Transgression, als Rausch, als Edginess).

Zu dem größeren Zusammenhang, in dem Filme stehen, gehören nämlich auch diejenigen, die über Filme schreiben. Wenn Girish Shambu in seinem Manifest eine „self-conscious cinephilia“ einfordert, dann meint er damit eben gerade nicht, wie eine leichtfertige Übersetzung ins Deutsche meinen könnte, eine selbstbewusste Cinephilie, sondern eine, die sich ihrer selbst bewusst ist, und das heißt vor allem: ihres Subjekts. Das Bewusstsein um die eigene Position muss kein Schuldbewusstsein sein, wie es im Imperativ „Check your privilege“ manchmal anklingt. Aber eben: ein Bewusstsein. Vielleicht auch darüber, dass sich das Pathos des Unmittelbaren am ehesten die leisten können, für die Intensität etwas mit Genuss und nichts mit Überleben zu tun hat.

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In einer historischen Studie zur Neuen Linken und ihrem Authentizitätsbegriff in den USA der 1960er und 1970er Jahre stoße ich auf folgende Überlegung zum Ausfransen der Counterculture: „Es wurde zunehmend deutlich, dass unterschiedliche Teile der Gegenkultur unterschiedliche Vorstellungen davon hatten, gegen was sich diese Gegenkultur richten sollte: Hierarchien oder Moralismus.“ (Doug Rossinow, The Politics of Authenticity, S. 315) Rossinow schreibt über eine historische Spannung innerhalb der Linken, doch genau die wirkt heute in kulturpolitischen Debatten nach. Denn wo die Ergebnisse der Kämpfe um gesellschaftliche Ressourcen sich auch oder sogar vorwiegend in einer Zunahme kultureller Sichtbarkeit niederschlagen, bilden Ungerechtigkeit und herrschende Moral eben keinen gemeinsamen Feind mehr.

Und wo „die Identitätspolitik“ als neue herrschende Moral erscheint, werden lustvolle Tabubrüche im Namen der Ungerechtigkeit möglich, und Schlagfertigkeit wird zur Trittfertigkeit nach unten. Die politische Anklageschrift verfestigt diesen Schein der neuen Moral, der cinephile Freispruch macht sich im schlimmsten Fall mit der Reaktion gemein. Diese Reaktion allerdings hat noch immer die schärferen Waffen, das wissen nicht zuletzt jene kulturell Unsichtbaren, die derzeit in den USA massenweise auf die Straße gehen, weil institutionelle Identitätspolitik weitertötet, während die moralische ein paar Spiele verdirbt.

Politische Cinephilie, um zum Verlegenheitstitel dieser Essayreihe zurückzukommen, wäre also der Versuch, sich aus diesem Zwiespalt zu befreien. Für sie sind die Ungleichheiten, Zumutungen und Zurichtungen der politischen Realität keine Blockaden auf dem Weg zum reinen Kino-Affekt, sondern stets Ausgangspunkt, auf dem sich wiederum niemals verharren lässt. Sie fragt nicht, welche Werte ein Film trägt, sondern welche Welt er sich vorstellt. Sie versteht die Liebe zum Kino nicht als uneingeschränkte Ehrerbietung, sondern als Liebe zum Gegenstand, das Kino selbst nicht als Kathedrale, sondern als sozialen Raum. Sie speist sich weniger aus einem politischen Bewusstsein als einem politischen Begehren.

Dieser Text ist eine leicht überarbeitete Fassung des Essays Politische Cinephilie, der am 29.4.2020 im Filmdienst erschien.

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