Pier Paolo Pasolini. Figurationen des Sprechens.

Bernhard Groß beschreibt Pasolinis Werk, und das ist das Spannende der Arbeit, als Entfaltung von Bildräumen, also von optisch-akustischen Konstellationen, die eine phantasmatische, nicht eine abbildende Struktur besitzen. Sie prägen das Gesamtwerk des Italieners – sowohl die Dialektgedichte und die Romane der 1940er als auch die Romane und die Lehrgedichte der 1950er sowie die Filme und die Theorie-Essays der 1960er Jahre.

Pier Paolo Pasolini. Figurationen des Sprechens.

Durch die Skizzierung von Bildräumen wird eine durchgehende poetische Logik nachgezeichnet, deren Basis das „crossing der Medien“ (S. 13) bildet. Es sind die Medien- und Gattungswechsel, die Verknüpfungen unterschiedlicher Ausdrucksformen und Redeweisen, die Groß als ein grundlegendes, werkkonstituierendes Strukturprinzip herausstellt. Die Darstellung ästhetischer Prozesse lässt sich bei Pasolini ausschließlich medienübergreifend erfassen. Eingebettet ist Groß’ Herangehensweise in eine historische Verortung von Pasolinis Arbeiten. Dieser ‚modus operandi’ steht im Gegensatz zu den biografisch orientierten Analysen anderer Autoren.

In präzisen Werkanalysen arbeitet Groß die Vielschichtigkeit von Pasolinis Werk heraus. Neben der Heterogenität des Stils, der Form und des Inhalts macht Groß auf die Prägung Pasolinis durch die jeweils zentralen Diskurse ihrer Zeit aufmerksam. Bemerkenswert ist, dass Groß sich dabei dankenswerterweise nicht zu lange mit einem Referat strukturalistischer, neoavantgardistischer, psychologischer und politischer Debatten aufhält, sondern sehr präzise und pointiert die  „Diskursfäden“ aufgreift, die es mit den Werkanalysen zu vernähen gilt.

In dem zentralen Kapitel „Das Paradigma des Kinematographischen“ führt Groß die bisherigen Ergebnisse der Analysen zusammen und stellt die filmischen Arbeiten als Fluchtpunkt des Schaffens Pasolinis dar. Die Hypothese lautet, „dass die Literatur Pasolinis von Anfang an ihre Themen kinematographisch bearbeitet, während sein Kino sich mit literarischen Problemen auseinandersetzt“ (S. 13). Das Kino wird auf der Basis exzellenter Einzelanalysen zum Paradigma von Pasolinis Poetik erklärt. Es stellt die Matrix der Erfahrbarkeit von Wirklichkeit dar, „indem es den prozessualen Charakter einer grundlegenden Raum- und Zeiterfahrung als mimetische Erfahrung für den Zuschauer entfaltet“ (S. 28). Pasolini entwickelt und formuliert diese These in seinen Essays Empirismo eretico – Ketzerfahrungen, die für sich genommen ein Vexierspiel an Intermedialität darstellen. Dabei sei erwähnt, dass die 1960er Jahre gemeinhin in der Forschung als entscheidende Zäsur bei Pasolini begriffen werden, die sich in einer programmatischen Abkehr von der Literatur und damit einhergehend der Hinwendung zum Kino ausdrückt. Groß weist jedoch ganz richtig auf die bloße Aufzählung hin, die verdeutlicht, dass die These von der radikalen Zäsur, das heißt vom Bruch mit der Literatur zugunsten des Kinos, eines der hartnäckigsten Missverständnisse zu Pasolini darstellt.

Die umstrittene Verfilmung des Matthäus-Evangeliums von 1964 sieht Groß als zentrale Markierung in Pasolinis Werk. Besteht Pasolinis Figurenkosmos seit seinen ersten Gedichten in den 1940er Jahren bis hin zu den frühen Filmen Accattone – Wer nie sein Brot mit Tränen aß (1961) oder Mamma Roma (1962) aus subproletarischen Figuren, deren Fluchtpunkt Jesus Christus ist, so werden die folgenden Arbeiten um die Skizzierung vielschichtiger Facetten des bürgerlichen Lebens erweitert. Das 1. Evangelium – Matthäus (Il Vangelo secondo Matteo) begreift Groß als Schlüsselfilm zum Verständnis von Pasolinis Werk sowie als „ästhetische Implosion“ (S. 167).

Groß schafft ein komplexes System anregender inner- sowie außerfilmischer Diskursräume. Dabei verschwendet er keine unnötigen Zeilen für inhaltliche Hinführungen, sondern spitzt seine Gedanken auf den ihn interessierenden Fokus poetisch konstruierter Bildräume sowohl sprachlich äußerst geschickt als auch filmanalytisch auf höchstem Niveau zu. Darüber hinaus ebnet Groß nahezu en passant den Weg zwischen Kunst- und Mainstream-Kino, indem er Pasolinis Werk zwischen diesen beiden Polen verortet. Beide haben nach Groß das Potenzial zur lyrischen Entwicklung, sie sind graduell, nicht wesensmäßig unterschieden (S. 265).

In ihrer Aktualität und Anschlussfähigkeit für andere Werkanalysen straft Groß’ Studie Eduardo Sanguineti Lügen, der nach Pasolinis Tod sagte: „Endlich sind wir ihn los, diesen Wirrkopf, dieses Überbleibsel aus den fünfziger Jahren.“ Glücklicherweise ein Trugschluss.

Bernhard Groß: Pier Paolo Pasolini. Figurationen des Sprechens. Berlin: Vorwerk 8 2008, 287 S., 978-3-940384-00-3, EUR 25,00

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