Phantomschmerzen im Kinosaal: San Sebastián Film Festival
Christos Nikous High-Concept-Indie-Film Fingernails um eine Folterpraxis als Liebesbeweis entpuppt sich als angenehm altmodische RomCom, Isabella Eklöfs panskandinavische Koproduktion Kalak als aufdringlich intime Arthouse-Tortur.
Einen Phantomschmerz teilen: Das ist schon fast eine Definition von Kino, und nicht die schlechteste. Eine Definition der sogenannten und sonst oft schwer fassbaren theatrical experience, genauer gesagt. Denn das ist in der Tat etwas, das sich vor dem heimischen Fernseher oder Laptop nicht nachstellen lässt: die Erfahrung, gemeinsam mit anderen Menschen mit anzusehen, wie jemandem ein Fingernagel vom Finger gebrochen wird.
Habemus Amore

Beziehungsweise: wie jemandem ein Fingernagel vom Finger abgebrochen werden wird. Denn Fingernails von Christos Nikou ist kein Horrorfilm, sondern eine US-Indie-Komödie, weshalb die blutige Tat selbst stets entweder im Schnitt oder durchs Framing verschwindet. Aber wie beim echten, so ist auch beim Phantomschmerz die Erwartung oft schlimmer als der tatsächliche Vollzug. Ich zumindest halte mir, als auf der Leinwand zum ersten Mal in eindeutiger Absicht zur Nagelzange gegriffen wird, die Hand vor die Augen (obwohl ich genau weiß, dass der Film meinen Impuls selbst aufgreifen und seinerseits wegschauen wird). Aus den Augenwinkeln, und eben das ist es, was die Kinoerfahrung ausmacht, sehe ich, dass ich damit beileibe nicht der einzige bin im K1 des Kursaals, der Hauptspielstätte des International Film Festival San Sebastián, wo Fingernails als Teil des Internationalen Wettbewerbs gezeigt wird.

Genau wie ich später sehe, dass ich nicht der einzige bin, bei dem der Effekt sich abnutzt. Fingernails ist klug genug, mit der ersten Nagelszene eine Weile zu warten, schiebt dann aber leider ein paar zu viele weitere nach. Ausgerissen werden die Fingernägel, das ist die High-Concept-Pointe des Plots, als naturwissenschaftlicher Liebesbeweis. Als Paar unterzieht man sich dem Test gemeinsam, lässt sich gemeinsam jeweils einen Nagel entfernen und wartet dann gemeinsam darauf, was die mikrowellenartig ausschauende Liebesmaschine mit den Nägeln anstellt. Wie im Fall der Papstwahl kündigt aufsteigender Rauch an, dass ein Ergebnis vorliegt. Nur wenn dieses Ergebnis exakt „100%“ lautet, lieben sich die beiden Partner aus ganzem Herzen und reziprok.
Fundamentale Zukunftsoffenheit
Es geht also darum, Unsicherheit zu eliminieren – was natürlich, eine naheliegende, aber deshalb keineswegs eine schlechte Pointe, nur zu noch mehr Unsicherheit führt. Vor allem vorher („Sollen wir wirklich? Was, wenn wir keine 100% erreichen?“), aber eben auch hinterher, weil: Hält das wirklich ein Leben lang? Wollen wir den Test nicht lieber auffrischen?

Es sind, mit wenigen Ausnahmen, heterosexuelle Paare, die sich im Film dem Test unterziehen (tatsächlich hat die Maschine ausgerechnet in dem Moment, in dem sie doch einmal die Nägel eines schwulen Paars testen soll, einen technischen Defekt). Allerdings würde der Film genauso gut funktionieren, wenn anstatt Anna (sehr gut: Jessica Buckley), die sich zwischen Amir (auch sehr gut: Riz Ahmed) und Ryan (nicht ganz so gut: Jeremy Allen White) entscheiden muss, ein gleichgeschlechtliches Liebesdreieck im Zentrum gestanden hätte. Nicht um Heteronormativität geht es, und auch nicht um das Patriarchat, sondern um die fundamentale Zukunftsoffenheit, mit der wir alle zurechtkommen müssen, seitdem (beziehungsweise: soweit) nicht mehr Familien- und Klassenzugehörigkeit, sondern das opake Konzept Liebe über die Aufnahme und den ‚Erfolg‘ erotischer Beziehungen entscheiden.
Erotisches Schmuckstück

Die unzähligen küchensoziologischen beziehungsweise -psychologischen Ausführungen über vermeintliche Veränderungen im Liebes- und Beziehungsalltag verdecken oft genug nur die Konstanz dieser in letzter Konsequenz nicht lebbaren, aber auch nicht vermeidbaren, sondern lediglich, zum Beispiel als Komödie, aushandelbaren Zukunftsoffenheit. Auch Fingernails entpuppt sich alsbald als eine durchaus altmodische, gut gemachte RomCom. Und wäre in der Tat vielleicht ein noch etwas besserer Film geworden, wenn Nikou die tradierten Formen des Genres etwas selbstbewusster umarmt hätte. Denn der Film ist immer dann am besten, wenn die aufblühende Liebe zwischen Anna und Amir als Komödie der missverstanden Kommunikation aufgefaltet anstatt in selbstquälerischer Nabelschau stillgestellt wird. Auch aus seiner High-Concept-Idee macht Fingernails etwas zu wenig: Luke Wilson zum Beispiel ist umwerfend komisch als „Liebescoach“, der Paare absurde Übungen durchführen lässt, die ihre romantische Kompatibilität steigern sollen; nur leider taucht er von Anfang an viel zu selten und bald fast gar nicht mehr auf.
Eine der Luke-Wilson-Übungen: Lasst uns simulieren, dass im Kino Feuer ausbricht. Das lässt Paare enger zusammenrücken und weckt Beschützerinstinkte. Ein Extremfall der theatrical experience sozusagen, zu dem es glücklicherweise nicht allzu oft kommt. In Fingernails müssen wir mit den gemeinsamen und eben auch: aneinander beobachtbaren Phantomschmerzen der Nagelausreißszenen vorliebnehmen. Ob hingegen meine Nebensitzerinnen und Nebensitzer die Szene, in der Anna und Ryan duschen, ebenso heiß finden wie ich, kann ich nicht abschätzen. Buckleys Gesicht verändert sich komplett, wenn ihre halblangen Haare vom Wasser eng an die Kopfhaut angelegt werden und perlende Wassertropfen ihr Gesicht weniger benetzen als ornamentalisieren, glamourisieren. Die Nacktheit der beiden verschwindet bald darauf geschickt und suggestiv hinter dem Milchglas der Duschkabine. Ein kleines, erotisches Schmuckstück in einem auf unauffällige Weise gut (und, nach wie vor bzw. mehr denn je eine Wohltat: auf analogem Filmmaterial) fotografierten Film.
Schnell an den Strand

Ein paar Stunden später sitze ich dann im selben Kino und will nur möglichst schnell weg. Wo Fingernails seine Attraktionen klug zu dosieren versteht, verschießt Isabella Eklöfs Kalak sein Pulver gleich in der allerersten Szene, die einen expliziten Hand- und einen fast expliziten Blowjob zeigt. Danach folgt eine Tour de Force der Arthouse-Miserabilismen, die einen Krankenpfleger auf seinem Leidensweg durch grönländische Betten, Drogeneskapaden und, worst of all, ein Inzesttrauma verfolgt, in einer aufdringlich intimistischen Post-Dogma-Bildsprache, die das skandinavische Kino (eine grönländisch-dänisch-schwedisch-norwegisch-finnische Koproduktion ist Kalak laut Abspann; selbst auf dieser Ebene fast schon eine Parodie des Stands der Dinge im europäischen Autorenkino) auch langsam hinter sich lassen könnte.
Aber ich möchte mich nicht in Rage reden. Der Film ist mit seiner auf tote Pferde einprügelnden Männlichkeitskritik, verbunden mit einer Prise white man’s burden (der Krankenpfleger steht besonders auf indigene Grönländerinnen), in der Tat exakt dafür gemacht, mich und eventuell ja tatsächlich nur mich auf die Palme zu bringen. Zumindest ein Teil des Publikums hatte offensichtlich seinen Spaß. Und ich bin nach dem Kino in zwei Minuten am Strand, wo Surfer sich dutzendweise in die Wellen stürzen. Also was soll’s. Es werden schöne Tage hier in San Sebastián.
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