Pathos und Patente: Locarno 2024 (2)

Drei verlorene Seelen an Weihnachten in Monaco, andauernde Arbeitskämpfe in chinesischen Sweatshops und die Suche nach den Spuren eines besonderen Vaters: Zweiter Streifzug durch das diesjährige Festival von Locarno, mit neuen Filmen von Virgil Vernier, Wang Bing und Courtney Stephens.


Betonte Behutsamkeit

Das Still, das die Festival-Seite von Cent mille milliards ziert, ist aus einem Film, den ich gern gesehen hätte, der dieser Film aber nicht ist. Nur für ein paar Minuten gewährt Virgil Vernier uns einen Einblick in die WG von vier Sexarbeiter:innen, die sich in einem Anwesen an der französischen Mittelmeerküste eingerichtet haben. Alle vier erzählen sie eines Nachts von besonders schwierigen, bizarren oder auch gefährlichen Escort-Diensten, eine von ihnen hat einen Zukunftsplan für die Gruppe, das alles ist mit viel Neugier und Empathie gefilmt, ich hänge an ihren Lippen. Am nächsten Morgen aber reisen die drei Frauen über die Weihnachtstage nach Dubai, zurück bleibt Afine (Zakaria Bouti).

Vernier, der schon 2018 mit Sophia Antipolis einen ungewöhnlichen Ort an der Côte d’Azur porträtiert hatte, erzählt nun von diesem gerade mal 18-jährigen Afine und, vermittelt über diese Figur, über ein Leben in Monaco, im Schatten der Casinos und Paläste, ein wenig erinnert das an Sean Bakers The Florida Project (2017). Afine mäandert durch diese Welt, bewegt sich zwischen Kund:innen, die teilweise zu Bezugspersonen geworden sind. So etwa Vesna (Mina Gajovic), eine serbische Therapeutin, die hier gestrandet ist, und so eine wird auch die 12-jährige Julia (Victoire Kong) aus reichem Elternhaus, auf die Vesna über Weihnachten aufpassen soll. Der überwiegende Teil von Cent mille milliards folgt der Beziehung zwischen diesen drei Figuren zwischen Weihnachten und Silvester.

Für sich genommen sind das schöne Einblicke, überhaupt ist Cent mille milliards ein Film von jener behutsam beobachtenden, aber vor Zuspitzung trotzdem nicht zurückschreckenden Art, die es mir in den letzten Jahren häufig angetan hat. Und doch stört hier was, vielleicht weil das alles doch etwas zu gewollt wirkt, weil die Behutsamkeit etwas arg betont wird, weil die Zuspitzungen nach einem nicht immer verdienten Pathos schmecken: drei verlorene Seelen zu Weihnachten in Monaco; eine Hauptfigur, die schon erwachsen sein muss, obwohl sie selbst noch ein Kind ist, das erzählt uns eine etwas arg plakative Szene, in der eine ältere Kundin Afine auf ihrer Schulter Trost spenden muss anstatt vom jungen Mann Sex zu bekommen; der betont selbstverständliche Umgang mit der Escort-Arbeit, ohne dieser etwas Neues abgewinnen zu können.

Das Material und die Figuren, aus denen Cent mille milliards gebaut ist, sind für sich genommen faszinierend, aber Vernier verhilft diesen Elementen weniger zum Ausdruck, als sie für eine filmische Konstruktion zuzurichten, die dann etwas selbstgefällig im Vordergrund herumsteht.

Zustände und Überschüsse

212 Minuten dauerte der erste Teil von Wang Bings Trilogie über Näher:innen im Süden Chinas, der im vergangenen Jahr im Wettbewerb von Cannes Premiere hatte. Noch einmal eine Viertelstunde länger ist der zweite Teil namens Youth (Hard Times), der nun um den Goldenen Leoparden in Locarno konkurriert. Kennt man den ersten Film, wähnt man sich im zweiten zunächst auf vertrautem Gebiet: Wieder beobachtet Wang nüchtern und geduldig die Abläufe in den Sweatshops der südchinesischen Metropole Zhili, in denen größtenteils Wanderarbeiter:innen aus dem Norden an unendlich langen Arbeitstagen Klamotten für den heimischen Markt nähen – und dabei eine ganze Menge erzählen.

Wiederum bekommt man schnell ein Gefühl für diese Orte, wegen der langen Zeit, die man in diesem Film insgesamt verbringt, aber auch weil die Kamera den Leuten mitunter auf Schritt und Tritt folgt, wie auf einer Touri-Tour. Schnell sind so die Orte vermessen, von den Nähräumen unten zu den Schlaflagern obendrüber, dazwischen die Innenhöfe, die im Übergang von den einen zu den anderen aus den offenen Treppenhäusern zu sehen sind; lange Zeit die einzige frische Luft, die einzige Helligkeit im Film.

Auch hier spielen wie im ersten Teil zwar Flirts und andere jugendliche Dinge eine Rolle, stärker im Zentrum stehen nun aber konkrete Arbeitsbedingungen, die sich wiederum nur allmählich erschließen, verzichtet Wang doch auf jeden Off-Kommentar und jede extradiegetische Kontextualisierung – nur die Namen und Herkünfte der Porträtierten werden hie und da eingeblendet.

Es passiert so einiges: Ein Boss etwa ist nach einem Streit getürmt, ohne die Arbeiter:innen zu bezahlen, diese versuchen nun durch den Verkauf der Maschinen einen Teil des Ausfalls wieder reinzuholen. Mit einem anderen Boss wird hart um jeden Stückpreis einer Klamotte verhandelt, ein anderer Arbeiter hat das Dokument verloren, auf dem er seine verrichtete Arbeit einträgt. Es sind anarchokapitalistische Zustände, von denen Youth (Hard Times) erzählt, oder besser: von denen er erzählen lässt, und zwar von denjenigen, die es wissen und erleben müssen, von denen, deren Alltag von diesen Zuständen bestimmt wird, deren Leben aber niemals ganz in diesen Zuständen aufgeht. Diesen Überschuss mit ins Bild zu holen, dafür ist das Kino noch immer ein guter Ort.

Stimmige Spannung

Niemand geringeres als Mumblecore-Legende Joe Swanberg bittet die Protagonistin Carrie irgendwann zum Gebet: Swanberg spielt einen so skurrilen wie gottesfürchtigen Tüftler, der die junge Frau, die wohl eher selten in seine Werkstatt kommt, so lange wie möglich bei sich behalten will, also schreibt er der Besucherin eine große Einsamkeit nach dem Tod ihres Vaters zu und bittet sie schließlich, auf die Knie zu gehen.

Courtney Stephens’ Langfilmdebüt Invention ist eine Ansammlung solcher Begegnungen und dabei so komisch wie nachdenklich. Callie Hernandez, die Carrie spielt, hat vor Kurzem ihren Vater verloren und gemeinsam mit Stephens daraus ein Drehbuch entwickelt. Dieser Vater, ein stets querdenkender Erfinder mit Hang zum Esoterischen, hat seiner Tochter das Patent einer Energie-Heilungsmaschine vermacht, und weil die nicht ganz sicher ist, ob sie das Erbe antreten will, geht sie auf Spurensuche, lernt alle möglichen windigen Geschäftspartner ihres Vaters kennen, ein paar Gläubiger, aber auch Leute, die den Verstorbenen für einen Revolutionär der alternativen Medizin hielten und sich sogar vorstellen können, er sei aus dem Weg geschafft worden.

Mitunter zieren Archivaufnahmen des Vaters, der sogar ein paar Fernsehauftritte hatte, den Film, bürgen für die Authentizität der Geschichte, überhaupt funktioniert die persönliche Verarbeitung einer Begebenheit über den Umweg der Fiktion sehr gut. Vielleicht ist die Autofiktion im Kino ohnehin besser aufgehoben als in der Literatur, ist die filmische Umsetzung doch auf ein Außen angewiesen, das vor allzu intimer Selbstbeschau schützt. Die persönliche Betroffenheit lässt sich stets an Callie Hernandez’ Gesicht ablesen, zugleich ist die filmische Welt von Figuren bevölkert, die der persönlichen Geschichte von außen ihre eigenen Stempel aufdrücken. Aus dieser Spannung entsteht hier etwas sehr Stimmiges.

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