Pandemie, physisch und psychisch: Encounters 2022

Medizinische Masken und virtuelle Albträume: Bertrand Bonellos Teenage-Angst-Essay Coma und Kivu Ruhorahozas Father’s Day docken an verschiedene Proteine der Covid-Erfahrungswelt an. Ist das Virus in einem Fall selbstverständlicher Teil der physischen Welt, sorgt seine Bekämpfung im anderen für eine Reise ins Innere.

Es sind viele medizinische Gesichtsmasken zu sehen in Father’s Day, und es fällt mir erst nach einer Weile auf. Etwas Neues ist das mittlerweile nicht mehr (Radu Judes Bad Luck Banging war wohl der Anfang), aber doch noch ungewohnt gewöhnlich: allzu vertraut, aber als Bild noch fremd. In Father’s Day ist das Virus Alltag und die Masken banales Element sehr schöner 4:3-Bilder, vor allem farbenfroher Bilder – realistisch erzählte Filme vom afrikanischen Kontinent scheinen mir sonst noch häufiger als ihre Kollegen von anderswo unter einer Staubsucht zu leiden, die nur die Gewänder bunt erstrahlen lässt, den ganzen Rest aber pflichtschuldig entsättigt.

Pandemische Gleischaltung

Hier, in der ruandischen Hauptstadt Kigali und Umgebung, leuchtet auch der Wald mal so richtig grün, und die Gesichter der Figuren sind komplexe Landschaften. Father’s Day ist ein Episodenfilm, auf den ersten Blick einer von der eher schlecht beleumundeten Babel-onischen Sorte, in der drei Geschichten so erzählt werden, dass sich nach und nach Verbindungen zwischen ihnen ergeben, narrativer und motivischer Art. Ausgangspunkt ist ein gelockerter Reifen, mit dem Hustler Karara (Yves Kijyana) und sein kleiner Sohn Kadogo (Cedric Gisubizo) Kohle machen wollen, der aber irgendwann einem jungen Mann auf Inline Skates mit tödlichen Folgen in den Weg springt. Zaninka (Médiatrice Kayitesi) trauert also im zweiten Strang um ihren Sohn, und dann gibt es noch Mukobwa (Aline Amike), die als Spenderin für ihren kranken Vater infrage kommt, sich aber selbst die Frage stellt, ob sie ihm überhaupt etwas spenden will.

Wie umgehen mit den Vätern in einem Land, das mit dem langen Schatten des Völkermords an den Tutsi von 1994 leben muss, an dem kaum ein Mann eines bestimmten Alters nicht in irgendeiner Form beteiligt war? Mukobwa fragt den Beichtvater, aber auch der hat keine Antwort. Und dann noch das Virus, das zum Akteur wird in dieser Welt. Zaninkas Mann will vom Chef mehr Geld, das Geschäft der Frau sei schließlich eingebrochen, das Virus, Sie wissen schon, doch der lehnt ab, das Virus, Sie wissen schon. Eine andere Dimension des Pan- in Pandemie: Sie trifft die Länder, sie trifft die Menschen auf sehr unterschiedliche Art, aber sie sorgt auf Ebene der Alltagsgespräche auch für eine interessante Gleichschaltung. Das Achselzucken, das Virus, Sie wissen schon, die medizinischen Masken, all das ist auf einmal Welterfahrung mit transkulturellem Wiedererkennungswert und fügt sich ganz organisch in den neorealistischen Modus eines Films ein, der seine Episoden dann eben doch vorwiegend für sich stehen lässt und nicht die große Geste sucht.

In den Träumen der anderen

Auch in Bertrand Bonellos neuem Film Coma ist Corona überall, nur Masken kommen kaum vor, und niemand fürchtet um seine finanzielle Existenz. Dafür geht es um existenzielle Ängste, um die Lockdown-Psyche einer Teenagerin (Louise Labeque), die wohl für Bonellos Tochter einsteht. Ihr ist der Film gewidmet, wie wiederum ein nun zum Prolog von Coma umfunktionierter Kurzfilm erklärt.

Dem ausgehgesperrten jungen Mädchen kommt die physische Gegenwart abhanden, es gibt nur noch das Zimmer und die virtuelle Welt: Eine Influencerin namens Patricia Coma (Julia Faure) bemächtigt sich aus dem stabilen YouTube-Rahmen irgendwann der ganzen Leinwand und einer immer brüchiger werdenden filmischen Welt; die True-Crime-Sucht generiert Fantasien über das Verschwinden der besten Freundin; auf einem scheinbar sinnlosen Gerät muss man sich Farbenfolgen merken und nachmachen; und die Puppen im Puppenhaus sind auf einmal Teil einer Soap Opera (vertont von Schauspielgrößen wie Laetitia Casta und Louis Garrel), die zu den unpassendsten Stellen mit Sitcom-Lachern unterlegt ist.

Eine Reise ins Innere also, die immer düsterer wird, irgendwann haucht Gilles Deleuze aus einer Archivaufnahme, man hüte sich vor den Träumen der anderen, wenn man ihn ihnen gefangen ist, sei man erledigt. Gemahnen die Überwachungskameras von Pariser Straßen, mit denen die Schritte der Teenagerin beobachtet und von anonymen Stimmen kommentiert werden, noch eher an die Truman Show (und bieten sich sicherlich irgendwie für Reflexionen zur Rolle des Staates in pandemischen Zeiten an), wird das mit der Kontrolle im Hintergrund bald lynchiger, spätestens als es in den Wald geht, und irgendwann kommen sogar Twin-Peaks-Synthies ins Spiel, und die Träume sind längst Albträume.

Schwebezustände überall

Man erzählt das so runter, weil Coma eben so aussieht, wie ein essayistisches Experiment eines selbstbewussten Regisseurs nun mal in aller Regel aussieht. Von manchen der Idiosynkrasien lasse ich mich verführen, von anderen irritieren, aber was man Bonello lassen muss: Tatsächlich fühlt sich der Film weniger generationsanalytisch denn persönlich an, wie der Kurzfilm-Brief an die eigene Tochter zum 18. Geburtstag im Prolog, und das ist schön: Seine Teenage-21.-Jahrhundert-Fantasie ist keine altväterliche, keine pseudo-kritische, fühlt sich nicht übergriffig an, ist aber auch nicht bloß affirmativ. Da fragt sich ein Filmemacher, wie das wohl so ist, wenn man jung ist und zu Hause, in diesen Zeiten. Und macht Hoffnung, dass der Schwebezustand, von dem in unterschiedlichen Ausformungen die Rede ist, bald vorbei ist und dieser Ausweg aus dem gegenwärtigen Neustart ungeahnte Kräfte freisetzt. Das gilt für den endemischen Zustand wohl aber leider so sehr wie für eine Welt im Limbo des Klimawandels, legen die apokalyptischen Schlussbilder nahe.

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