Oldenburg Filmfestival 2008
So sieht ein eindeutiger Sieg aus: Emily Atefs Drama Das Fremde in mir über eine Frau, die ihr Baby nicht lieben kann, hat beim Filmfest Oldenburg alle drei Preise gewonnen. Publikumspreis, Otto-Sprenger-Preis und den Preis der Jury „German Independence Award – Bester deutscher Film“.

Zu den weiteren Höhepunkten der 15. Ausgabe des Festivals gehörte eine Retrospektive des amerikanischen Regisseurs James Toback (siehe auch unser Interview) und so manche Entdeckung – unter anderem das sehenswerte Regiedebüt von Star-Trek-Star LeVar Burton, die Rückkehr von Nicolas Roeg (Wenn die Gondeln Trauer tragen, Don't Look Now, 1973) mit einer Gruselgeschichte aus der irischen Provinz und eine Begegnung mit der Independent-Ikone Seymour Cassel.
Der Mann mit dem Zigarrenstumpen in der Hand beherrscht den Raum in dem Moment, in dem er in den Kinosaal tritt, kurz nachdem das Licht wieder angegangen ist. Seymour Cassel wartet keine Fragen aus dem Publikum ab, er redet einfach drauf los. Lobt und veralbert das Team gleichermaßen, sagt Sätze wie „I love this motherfucker“ und umarmt Regisseur Ben Rodkin, der hier seinen Film Big Heart City vorgestellt hat, aber kaum zu Wort kommt. Cassel bringt eine Frau aus der dritten Stuhlreihe dazu, rot zu werden, und seine Zigarre gerät in gefährliche Nähe zur Leinwand, die im kleinen Kommunalen Kino Oldenburgs niedrig hängt. Der Schauspieler, der mit John Cassavetes gearbeitet hat und dessen Gesicht zu den bekanntesten im US-Independent-Kino gehört, ist hier der Star, obwohl er in Big Heart City nur eine kleine Rolle hat und meist hinter einem Schreibtisch sitzt, und obwohl Hauptdarsteller Shawn Andrews wirklich gut ist.

In dem zweiten Film mit Seymour Cassel, der in Oldenburg zu sehen ist, bewegt er sich auch nicht viel. Die meiste Zeit liegt er in einem Bett, denn Reach for Me, das Regiedebüt von LeVar Burton (der Ingenieur Geordi La Forge aus Star Trek: Die nächste Generation, Star Trek: The Next Generation, 1987-1994), spielt in einem Hospiz. Es geht um Alvin, einen krebskranken Kotzbrocken, der Mitpatienten und Krankenschwestern terrorisiert, aber Cassel wäre nicht Cassel, wenn er diesem sozial inkompetenten Individuum nicht herzlich rührende und todkomische Seiten abgewinnen würde. In Alvins Biestigkeit spiegelt sich nichts anderes als seine Verbitterung über ein gescheitertes Leben. Sein junger Zimmergenosse (Johnny Whitworth) ist das genaue Gegenteil, ein Todgeweihter, der noch mit ganzem Herzen bei den Lebenden ist, vor allem bei seiner bildschönen Verlobten. In einer sehr schönen Szene versucht Alvin, mit einer älteren Patientin (die sehr elegante und mit Würde leidende Adrienne Barbeau) anzubändeln, indem er seinem voyeuristischen Trieb feien Lauf lässt. Er öffnet die Tür zum Badezimmer, um einen Blick auf die Nackte zu erhaschen, und als sie sich umdreht, sich ihm mit erhobenem Kopf präsentiert, da sieht er, dass sie nur noch eine Brust hat, und schließt leise die Tür.

Voyeurismus und allerlei sexuelle Merkwüdigkeiten gibt es auch in On the Doll, ebenfalls ein Regiedebüt. Thomas Mignone breitet ein Panoptikum von Verdorbenheit aus, von Prostitution, Drogensucht, Kindesmissbrauch und Schulmädchensex. Sein an Musikvideos geschulter Film greift zu Mitteln wie extremen Zeitlupen und Zeitraffern, um die Schicksale einiger Menschen zu illustrieren; am Schluss werden alle Geschichten durch ein tragisches, aber auch arg konstruiertes Ereignis verbunden. Sex ist hier eine rein destruktive Kraft, vor der der Regisseur selbst Angst zu haben scheint. Verbal wird die Geschichte äußerst deutlich erzählt, dennoch ist kein bisschen Nacktheit zu sehen. Eine Frau, die bei einem Pornoproduzenten vorspricht und ihre Brüste zeigt, filmt er nur verschämt von hinten.
Den Gegenpol zur negativen Energie von On the Doll bildet Choke von Clarg Gregg, der der zerstörerischen Kraft des Triebs vor allem lustige Seiten abgewinnt. Sam Rockwell spielt einen Sexsüchtigen, Anjelica Huston seine undurchsichtige Mutter, und Kelly MacDonald eine Ärztin, die mit vollem Körpereinsatz versucht, ihm zu helfen.

Um Sex in seiner Funktion als Mittel zur Fortpflanzung geht es in Puffball. Der erste Kinofilm des Altmeisters Nicolas Roeg seit 13 Jahren kreist um einen von seelischer Zerrüttung begleiteten Kinderwunsch. Lustigerweise scheinen sich viele Elemente aus Roegs Klassiker Wenn die Gondeln Trauer tragen in seinen neuen Film geschmuggelt zu haben. Es geht um ein Architekten-Paar, das in der Abgeschiedenheit Irlands ein Haus renoviert, es gibt ein Mädchen mit roter Kappe, eine verrückte alte Frau, und zwischendurch taucht sogar Donald Sutherland auf. Auch der Verlust eines Kindes spielt wieder eine Rolle; zur Kompensation will die merkwürdige Nachbarin mit Hilfe von Voodoo-Zauber die Schwangerschaft der Architektin zu ihrer eigenen machen. Und es gibt wieder bemerkenswerte Sexszenen, deren Besonderheit dieses Mal nicht im Schnitt liegen, sondern in den unter dem Mikroskop vergrößerten Aufnahmen von Sperma, das in den Uterus entladen wird. Der Voodoo-Zauber versucht, das Schicksal zu steuern, aber unter dem Mikroskop wird deutlich: Es ist alles nur Biologie.
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