Nur gucken, nicht anfassen – Terence Davies Retrospektive

Der britische Regisseur Terence Davies ist hierzulande noch immer ein Unbekannter. Jetzt widmet ihm das Arsenal eine umfassende Retrospektive. Über ein Werk, in dem die Kamera weniger durch den Raum als durch die Zeit zu gleiten scheint.

Häufig stehen Figuren von Terence Davies am Fenster und blicken hinaus. Und doch hat das Kino des Briten wenig zu tun mit dem berühmten Fenster zur Welt. Zwar lässt das Fenster als transparente Scheibe den Blick nach draußen zu, zugleich aber trennt es die Blickenden von diesem Draußen ab. Davies betont eher die Scheibe als die Transparenz.

In seinen frühen autobiografischen Filmen ist diese Trennung noch eine, die auf ihre Überwindung hoffen darf. Die Fensterblicke der jungen Protagonisten ahnen hier noch etwas vom Wunder der Welt, Regen und Schnee hinter der Scheibe sind noch kindliche Affekte, keine erwachsenen Stimmungen. Die Melancholie ist eher jenen Frauen vorbehalten, die in Davies’ späteren Literaturverfilmungen am Fenster stehen. Die diese Welt nur allzu gut kennen und durchblicken und die doch kein Teil von ihr sein können. Nur gucken, nicht anfassen, das ist die Tragik im Kino des Terence Davies.

Zeit und Musik

Seine ersten drei Filme, Children (1976), Madonna and Child (1980) und Death and Transfiguration (1983), werden später zur Terence Davies Trilogy zusammengefasst. Schon in diesem Werk deutet sich Davies’ eigenwilliger Umgang mit der Zeit an. Niemals linear, immer assoziativ: Mit Schlagworten wie „Rückblenden“ oder „Traumsequenzen“ kommt man Davies nicht auf die Spur. Erinnerung ist keine Reise in die Vergangenheit, sondern eine Erfahrung in der Gegenwart. Wenn unterschiedliche zeitliche Ebenen in fließenden Übergängen oder assoziativen Montagen miteinander verschaltet werden, dann geht es um den Versuch, der Koexistenz von Vergangenem und Gegenwärtigem auf den Grund zu gehen. Da kann dann auch mal ein kitschiger Popsong zur Zeitmaschine werden. Vor allem Davies’ erster Langfilm Distant Voices, Still Lives (1988) weist hin auf die entscheidende Rolle der Musik als gewissermaßen materielle Spur der Erinnerung, die einen direkteren Zugang zur Vergangenheit ermöglicht, als es das Erschaffen von Bildern je könnte.

Doris Day in Liverpool

Davies’ Umgang nicht nur mit der sorgsam ausgewählten extra-diegetischen Musik, sondern vor allem mit den Liedern, die die Figuren seiner Liverpooler Filme singen, ist dabei nicht zuletzt Korrektur jenes harten Realismus, der im englischen Kino der Nachkriegszeit den Anspruch auf ein authentisches Porträt der working class erhob und in dem kein Platz war für Hollywood-Musicals, für Doris Day und Debbie Reynolds. Für Davies hat Authentizität nichts mit Naturalismus, Armut nicht nur etwas mit Tristesse zu tun. Zwar schöpft er aus den eigenen Traumata – aus dem Aufwachsen als jüngstes von zehn Kindern in einem Liverpooler Slum, aus den religiösen Zwängen, die das erwachende homosexuelle Begehren von Beginn an zum schamvollen Makel machten –, reduziert seine Bilder aber nie auf die schonungslose Darstellung einer harten Realität, erschafft vielmehr unermüdlich filmische Gedanken und hochgradig konstruierte Sequenzen mit doppelten und dreifachen Böden.

Abkehr vom Autobiografischen

Mit The Long Day Closes (1992) dann, der weniger durchzogen ist von kindlichen Traumata, vielmehr an eine kurze Phase des Glücks zwischen dem Tod des tyrannischen Vaters und den Teenager-Jahren erinnert, schließt Davies diesen Teil seines Werks ab. Zu Beginn sieht der junge Bud einmal aus dem Fenster, auf einen Maurer, der oben ohne mit seinen Steinen hantiert und ihm schließlich zuzwinkert. Bud zieht sich zurück. Nur gucken, nicht anfassen. Auch die Protagonistinnen von Davies’ späteren Literaturverfilmungen sind Menschen, die mit den Angeboten der Welt nicht umgehen können, die das Leben begehren, aber nicht zurückzwinkern. Seine vielleicht notwendig gewordene Abkehr vom genuin Autobiografischen führt Davies in die USA, wo er John Kennedy Tooles Roman The Neon Bible (1995) über eine Baptisten-Gemeinde in den 1930er und 1940er Jahren verfilmt. US-Evangelikalismus statt irischem Katholizismus, aber auch dort findet Davies sich wieder, wie man oft so harmlos sagt, obwohl es furchtbar sein kann.

Durch Haus Bellomont (House of Mirth, 2000), nach dem Roman von Edith Warton, wird Davies dann auch erstmals einem breiteren Publikum bekannt, doch der Film über eine Außenseiterin in der New Yorker High Society um die Jahrhundertwende ist alles andere als ein Startschuss. Mehrere Anschlussprojekte scheitern, darunter auch der mittlerweile realisierte Sunset Song. 2008 trägt Davies mit dem eigenwilligen dokumentarischen Essay Of Time and the City zu einer Initiative der Liverpooler Kulturkommission bei. 2012 schließlich kommt The Deep Blue Sea in die Kinos, die Verfilmung eines Theaterstücks von Terence Rattigan, in der Rachel Weisz rauchend am Fenster steht und nicht mehr leben will. Wie Haus Bellomont seziert dieser Film ein weibliches Scheitern an gesellschaftlichen Konventionen, wenn es nun auch die Doppelmoral des Privaten in den 1950er Jahren ist, nicht mehr die quasi-aristokratische Etikette des gerade erst angebrochenen 20. Jahrhunderts.

Harte Melancholie

Sind die Heldinnen dieser beiden Filme klassische Außenseiterinnen, die mit sozialen Erwartungen zu kämpfen haben, so verhält es sich bei Davies jüngsten Filmen noch etwas anders. In A Quiet Passion, der 2016 auf der Berlinale unverständlicherweise nur in der Special-Sektion gezeigt wurde, spendiert er einer seiner großen Musen ein Biopic: der Dichterin Emily Dickinson, die ihren eigenen Ruhm nicht mehr erlebt hat, die ebenfalls – zumindest in der Davies’schen Lesart – an einem inneren Lebensdrang zerbrach, dem sie nicht nachgeben konnte. Und auch die Protagonistin von Sunset Song (2015) ist eine geistreiche junge Frau, die liest und schreibt, die Lehrerin werden will, die sich schließlich aber ganz dem geerbten Stück Land widmen muss, auf dem sie aufgewachsen ist. Durchzogen sind auch diese Filme von jener harten Melancholie, die bereits Davies’ Frühwerk bestimmte.

Die Terence-Davies-sensibility

Davies’ Kino hat viel mit der Psyche zu tun, wenig aber mit Psychologie. Der Motor dieses Kinos sitzt zwar tief im Inneren, aber diese Innerlichkeit drückt sich nicht durch jene Mittel aus, mit denen ihr das Kino oft beizukommen versucht hat. Sie drückt sich aus in filmischen Bewegungen, in präzise konstruierten Tableaus und den so leisen wie starken Übergängen zwischen ihnen, in denen die Kamera durch die Zeit und durch die Zeiten zu gleiten scheint. Davies’ teilweise radikale ästhetische Entscheidungen scheinen dabei niemals einem narzisstischen Kunstwillen unterworfen. Es gibt da weniger einen bestimmten souveränen Stil als eine bestimmte sensibility, die dem filmischen Material keinen Stempel aufdrückt, sondern ihm zum Ausdruck verhilft.

Vielleicht ist das Kino des Terence Davies eben dieses Fenster, vor dem seine Figuren stehen, eine transparente Scheibe, die sich zwischen den Blick und die Welt schiebt und dabei all die verschwommenen Erinnerungen trägt, die diesen Blick auf diese Welt trüben.

Das Arsenal zeigt vom 29. März bis zum 9. April alle acht Spielfilme von Terence Davies. Das gesamte Programm gibt es hier.

Der Text ist erstmals im Rahmen unseres Terence-Davies-Special erschienen und wurde leicht gekürzt und überarbeitet.

Zu den einzelnen Filmen von Terence Davies geht es hier:

The Terence Davies Trilogy (1983)

Distant Voices, Still Lives (1988)

The Long Day Closes (1992)

The Neon Bible (1995)

The House of Mirth (2000)

Of Time and the City (2008)

The Deep Blue Sea (2011)

A Quiet Passion (2016)

Sunset Song (2016)

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