Nichts ist verloren – Die Filme von Noémie Lvovsky
Von den flüchtigen Empfindungen der Pubertät zur Erinnerung an die eigenen Eltern: Die Filme von Noémie Lvovsky, die ab diesem Freitag im Berliner Arsenal zu sehen sind, bemerken stimmungshaft und mit Lust an der Übertreibung die Abdrücke vergehender Zeit.

Wie gehe ich an einem Jungen so vorbei, dass sein Blick an mir haften bleibt? In Petites (1997) von Noémie Lvovsky probieren vier 13-jährige Mädchen alle Möglichkeiten durch: Sie stolzieren zusammen im Gleichschritt, den Kopf erhoben und den Blick scheinbar unbeteiligt ins Weite gerichtet, rennen aufgeregt den Gang und die Treppen der Schule entlang, fordern lächelnd heraus, auf dass jemand endlich zurückblicke. Lvovsky beschleunigt die Bilder und lässt sie dann wieder in Zeitlupe ablaufen, unterlegt die Sequenz mit mal schwelgerischer, mal treibender Musik, bis jegliches Gefühl für Dauer aufgelöst ist. Jedes Mal, wenn sich eine neue Szene etwas anderem zuwenden will, scheinen sich die Mädchen wieder davon losreißen zu wollen. Petites ist ein Film darüber, was es heißt, 13 Jahre alt zu sein, und er lässt nichts über diese Phase, den Anfang der Pubertät, hinaus gelten, die für 90 Minuten zu einer geradezu zeitenthobenen Ewigkeit wird.
Vom Glam Rock zum Punk

Die Protagonistinnen leben in einer Welt voller Riten, die seltsam und lächerlich wirken können für jene, die aus ihnen herausgewachsen sind. Für all die flüchtigen Empfindungen, Projektionen und Enttäuschungen der beginnenden Jugend gibt ihnen Lvovsky einen schützenden, filmischen Raum. So zärtlich, wie jemand nur sein kann, der sich an seine eigene Kindheit erinnert, so nüchtern und ohne süßliche Romantisierung, wie es im französischen Kino seit den Filmen von Maurice Pialat auch in einer eigenen Tradition des Coming-of-Age-Films möglich ist.

Der Film entstand als Fernseharbeit für die Reihe „Les années lycée“, und Lvovsky setzte sie einige Jahre später im Kino fort. La vie ne me fait pas peur (1999) beginnt mit einer kondensierten, 40-minütigen Fassung von Petites und erzählt mit denselben Schauspielerinnen die Geschichte drei Jahre später weiter. Aus einer ursprünglichen Momentaufnahme, den rhapsodischen Episoden weniger Wochen, wird so eine Erzählung des Älterwerdens und der Veränderung: an der Schwelle zur Abiturprüfung, beim ersten gemeinsamen Urlaub, den die Freundinnen ohne elterliche Begleitung machen, auf Partys und in Diskotheken, wo der Wandel vom Glam Rock zur Mitte der 1970er Jahre hin zum Punk und New Wave am Ende der Dekade auch einen Wechsel der eigenen Ausdrucksmöglichkeiten im schönen Spiegel der Popkultur verheißt.
Erwachsene Jugendwünsche

Die Zeit der Kindheit und Jugend weht wie ein nicht mehr ganz greifbarer und darum umso vehementer ersehnter Geist auch durch die meisten anderen Werke von Noémie Lvovsky. Bereits ihr Debütfilm Oublie-moi (1994) handelt von einer Frau Mitte 20, die nicht von der emotionalen Unbestimmtheit der Adoleszenz lassen möchte. Ihr Freund fragt sie: „Warum bist du so? So unentschlossen und schwermütig. Du treibst nur dahin.“ Aber sie sieht in seiner Zuneigung keine Verpflichtung und versteht die Zurückweisung durch einen ehemaligen Geliebten nicht als unverrückbares Hindernis. Die großartige Valeria Bruni Tedeschi spielt die Hauptrolle als ein expressives Enigma, das in jeder Szene des Films durch die ruhelose Kameraarbeit von Jean-Marc Fabre gesucht werden muss und selbst in Close-ups undurchdringlich bleibt. Die Performance von Bruni Tedeschi, die auch in weiteren Filmen der Regisseurin Rollen übernimmt, bleibt prägend für das Schauspielverständnis in Lvovskys Werk: wenig naturalistisch, stimmungshaft, von einer großen Lust an der gezielten Übertreibung beseelt.

In ihrem bekanntesten Film – dem einzigen, der in Deutschland regulär ins Kino kam – spielt Lvovsky zum ersten Mal in einem eigenen Film die Hauptrolle. Camille Redouble (2012) ist eine Rekonstruktion der Gefühle einer 15-Jährigen aus dem Bewusstsein einer Mittvierzigerin. Camille, die sich nach über zwei Jahrzehnten von ihrem Partner getrennt hat, erwacht nach einem Ohnmachtsanfall wieder als Teenager. Angelehnt an Francis Ford Coppolas Peggy Sue Got Married (1986) versucht sie ihrem bevorstehenden Leben eine andere Wendung zu geben, nur um festzustellen, dass sich die Wünsche einer erwachsenen Frau nicht auf die Lebenswelt einer Jugendlichen zurückprojizieren lassen.
Widerstand und Weiterleben

Zwischendurch entsteht Les Sentiments (2003), ein Film, der etwas herauszufallen scheint aus der Filmografie: eine großformatigere Mainstream-Komödie, inszeniert für den Erfolgsproduzenten Claude Berri, eine wundervoll artifizielle und verschlungene Versuchsanordnung über bürgerlichen Ehebruch und andere Wahlverwandtschaften. Eine cinephile Pastiche, die an die späten Filme von Alain Resnais gemahnt und in all ihren populärkomödiantischen Eigenheiten wiederentdeckt werden sollte. Aus heutiger Sicht betrachtet ist Les Sentiments möglicherweise ein erster Anlauf, Erzählformen auszuprobieren, bei denen die Grenze zwischen Drama und komödiantischer Form durchlässig gemacht werden kann – eine Vermischung, die zwei weitere Filme der Regisseurin bestimmen wird. In Faut que ça danse! (2007) und Demain et tous les autres jours (2017) trotzt sie dem Leben ihrer Eltern eine filmische Leichtigkeit ab, die in deren Geschichten eigentlich nicht angelegt ist.

Jean-Pierre Marielle spielt in Faut que ça danse! den 75-jährigen Salomon Bellinsky, einen in Paris ansässigen Juden, der als Kind der Deportation nach Auschwitz entkommen ist – ein Stellvertreter für Noémie Lvovskys Vater, „dessen Eltern und alle Verwandten, die auf der Flucht vor den Pogromen aus der Ukraine kamen, in den Lagern der Nazis starben“, so die Regisseurin in einem Interview. „Es gibt keine Spuren, keine Sterbeurkunden, keine Gräber, keine Fotos, keine Gegenstände, nur Namen und meine Geister. Das hat mich verfolgt und verfolgt mich noch immer.“ Der Ohnmacht und dem Trauma der Vergangenheit hält Salomon eine Form des Widerstands und des stolzen Weiterlebens entgegen: Mit stilsicherem komödiantischen Tonfall ist Faut que ça danse! ein Lustspiel über Begierde und Trotz im Alter – und neben Axelle Roperts meisterlichem Debüt La Famille Wolberg (2009) einer der wenigen neueren Filme über jüdisches Leben in der französischen Gegenwart und das Lebendighalten der Erinnerung an den Holocaust.
Kein Verblassen

Autobiografisch geprägt ist auch Demain et tous les autres jours, der die schwierige Beziehung einer Achtjährigen zu ihrer unter zunehmenden Bewusstseinsstörungen leidenden Mutter als ein farbenfrohes Märchen mit einer vermittelnden sprechenden Eule erzählt. Lvovsky verkörpert darin selbst eine fiktive Version ihrer eigenen Mutter, wodurch ihre Performance zu einer physischen Form der Gedächtnisarbeit wird: jede Geste und jede Miene ein Andenken, eine Annäherung an die Verstorbene.

Sich zu erinnern, frühere Empfindungen nochmals zu durchleben, das heißt in den Filmen von Noémie Lvovsky, die Abdrücke der vergehenden Zeit bemerken und bannen zu können. In Camille Redouble spricht die Protagonistin mit ihrer Tochter über die Stimme ihrer Mutter. Sie sei sanft gewesen und klar, aber die Erinnerung an den Klang verblasse nun, Jahre später, langsam. Das könne gar nicht sein, gibt die Tochter zu bedenken: „Es ist nichts verloren gegangen, wenn du noch darüber sprechen kannst.“
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