Neues, Altes, Geliehenes: Duisburger Filmwoche 2021

Ist die berüchtigte Duisburger Debattenkultur zurück? Diskutiert wird über zwei Filme, die sich in Selbstreflexion üben – einmal souverän, einmal hilflos. Und über die vermeintliche Obsession einer Regisseurin, die ihren Mitbewohner liebt und filmt.

Ein ungleiches Spiel zwischen Katz und Computermaus, als letztere mit ihrem Pfeil über das Fell des 3D-Modells vom Haustier fährt. Halb Flausch, halb Glitch, der Klick verändert die Perspektive. Eine Schere und ein paar Schnipsel von Eintrittskarten dienen als Hintergrund des Desktops, auf ihm wiederum eine Anhäufung von Fotos, Videos, Textdateien, Protokolle sind es möglicherweise. Eberhard Fechner, eine Gurkenscheibe, die Handtasche von Christine Lagarde. Ein Toastbrot wird verschoben. Die Kamera folgt den durch Verkehrshütchen und Flatterband abgesteckten Bahnen, schon wieder ein Pfeil, der vermeintlich eine Richtung vorgibt, ehe ein Teller einmal mehr demonstriert, dass oben und unten keine brauchbaren Angaben sind, um sich den Bildern aus Michel Klöfkorns Festivaltrailer zur diesjährigen Duisburger Filmwoche zu nähern.

Erneuerung durch Erinnerung

„Dokumentarfilm, das ist Schreibtischarbeit“, heißt es in Klöfkorns Collage, die zwischen digitalen und analogen Darstellungsweisen wechselt und in der sich „das Beobachten beobachten“ lässt, wie eine Stimme sagt, dann den Satz flüstert, wie ein Mantra wiederholt, weil er programmatisch ist für ein Festival wie die Duisburger Filmwoche. Zu diesem Modus der Reflexion und des Recyclings (die auftretenden Materialien bei Klöfkorn sind aus den Mitschrieben der Filmgespräche ab 1978 entnommen, seit letztem Jahr online bereitgestellt und mit Schlagwort-Suchfunktion aufbereitet) passt es, dass mit der Halbzeit des Festivals eine weitere Schnittversion zirkuliert. Verschiebungen werden bemerkbar, „more emphasis in the end“. War die Gurkenscheibe schon vorher da oder noch in der Stapelei des Burgerbrötchens versteckt?

Die Aufnahmen und Wahrnehmungen der Fassungen überlagern sich, Zitate werden im Trailer um-, über-, weitergeschrieben: „Vorwärtsgehen kann nur die Erinnerung, nicht das Vergessen. Die Erinnerung kehrt zum Anfang zurück und erneuert ihn“, notiert Michail Bachtin 1940, und an diese hübsche Formulierung muss ich immer wieder denken bei dieser Ausgabe, die unter der Überschrift der „Schichten“ läuft. Wie sehr die Setzung eines Themas für die 16 gezeigten Beiträge und die Diskussionen in Duisburg tatsächlich wirkt, wird jedes Jahr aufs Neue zur Frage. Es lässt sich feststellen: Die Schichten sind überall, die Schichten sind catchy, in den Gesprächen mit den Filmemachenden wird die Auswahlkommission nicht müde, Bezüge herzustellen. Und doch hält das Thema neben einer Metaphorik des Grabens und Entfaltens einen Vorschlag bereit, um über Filme reden und nachdenken zu können. Es rückt Verhältnisse in den Blick zwischen denen, die filmen, denen, die gefilmt werden, und denen, die zuschauen. Angelegenheiten des Kompliziertseins, der Vielschichtigkeit (einmal muss der Witz erlaubt sein), in denen die Erwartungen an das Dokumentarische wohnen, wenn es darum geht, was es in den betörenden Bereichen des Dazwischen zu entdecken gibt.

Täter filmen: Anmaßung und Uncomfortably Comfortable

Zwei Filme über Täter sind es, die in Duisburg hintereinander programmiert wurden und auffallend unterschiedlich mit den Menschen umgehen, die sie zeigen. Bei Anmaßung von Stefan Kolbe und Chris Wright handelt es sich zweifelsohne um die lautere, sprödere Arbeit. Zumindest wird sich über diesen Film und das Auftreten des Regie-Duos so rege gestritten, dass einige Besucher*innen eine Reinkarnation der berüchtigten Duisburger Diskussionskultur beschwören. Anmaßung will sich anhand des Mörders Stefan S. mit der Lust der Welt auseinandersetzen, Gesichter des Bösen zu produzieren, und ja, damit könnte dieser Film ein Kommentar auf die zeitgenössische Faszination am True Crime sein. Über den Schnitt und den Einsatz von Musik stellen Kolbe/Wright Spannung her, der es in diesem Fall nicht bedarf, und sich selbst mit ihrem Film in die Tradition eines Genres, das sie wider Willen eher reproduzieren als karikieren.

Über ihre versuchte „Bebilderungsverweigerungsbebilderung“, so Ekkehard Knörer wortschöpferisch in der März-Ausgabe des Filmmagazins Cargo, schaffen sie vielmehr eine „Melodramatisierung des Verhältnisses zum Gegenstand“. In einem anderen Text habe ich bereits ausführlicher über Anmaßung und sein Selbstverständnis geschrieben, das gerade im Hinblick auf eine enttäuschte Männlichkeit interessant wird, der sich Kolbe/Wright im Film eigens überführen, als sie bemerken, eventuell von Stefan S. für kostenlose Museumsbesuche und Trips nach Berlin benutzt worden zu sein. Was passiert, wenn der Blick auf die Personen gelenkt wird, die hinter der Kamera wohnen? Anmaßung demonstriert eine Hilflosigkeit, das Scheitern von zwei Regisseuren an einer selbstgewählten, filmischen Aufgabe, bei der die Selbstreflexion blinde Flecken hat.

In Uncomfortably Comfortable hingegen übt sich Maria Petschnig im Zuhören, wenn Marc Thompson über seine Gefängniszeit spricht, traumatische Momente wie den Verlust des Bruders und rassistische Erfahrungen aufarbeitet. Thompson ist obdachlos, lebt im Auto – deshalb klingt es absurd, Uncomfortably Comfortable als Aussteiger-Film zu beschreiben. Öffentliche Räume wie das Fitnessstudio oder die Bibliothek sind für Thompson Anlaufstellen, die das Duschen und die Nutzung technischer Apparate ermöglichen. Petschnig lernt ihn kennen, weil er mehrfach auf der Straße in Brooklyn parkt, in der ihre Wohnung liegt. Per Vertrag wird abgefragt, bei welchen Aktivitäten er nicht zu sehen sein will im späteren Produkt ihrer Zusammenarbeit (Nase bohren und der Gang zur Toilette). Sex im Auto ist nur dann zulässig, wenn aus der Ferne gedreht wird.

Wieso Thompson im Gefängnis war, erfahren die Zuschauenden (anders als bei Kolbe/Wright) nicht, auch weil fraglich bleiben muss, ob der schwarze Protagonist rechtmäßig dort gelandet ist, so wie er Begegnungen mit der Polizei beschreibt und wie gefährlich und angstbehaftet das für ihn ist. Wie sehr Perspektiven auseinanderdriften können, zeigt eindrücklich eine Szene, in der die weiße Regisseurin Ereignisse außerhalb des Autos völlig anders sortiert als ihr Gegenüber. Es ist bemerkenswert, das Petschnig nicht auf ihre Version einer Geschichte pocht, sondern, wie auch im Rest von Uncomfortably Comfortable, Thompson in die Position des Erzählers rückt, seiner Stimme Raum gibt.

Thompson schreibt, die lyrische Begabung ist seinen Chatnachrichten anzumerken, und der Art, wie er kontinuierlich spricht. Der Filmtitel stammt aus einer Nachricht von Thompson an Petschnig, und er wird in Handschrift, seiner Handschrift, am Anfang eingeblendet. So wird Uncomfortably Comfortable zum Film zweier souveräner Künstler*innen und zum Zeugnis einer Kooperation, die beide als Autor*innen anerkennt. Die Risiken, die Anmaßung wagt, werden nicht großräumig abgefahren. Vielmehr parkt Petschnig in ihnen, um sich als Film und Filmemacherin zu formulieren.

Obsessionen in Köln-Bickendorf: Picnic at Hanging Rock

Nochmal zwei Künstler*innen, zwei Kunststudierende, diesmal aber mit einer ambivalenteren Beziehung: Für Picnic at Hanging Rock filmt Naama Heiman ihren Mitbewohner Biniam bei alltäglichen Tätigkeiten und dem Musizieren in der gemeinsamen Wohnung. Manchmal hat er keine Lust, gefilmt zu werden, dann schließt er die Zimmertür. Heiman und die Kamera können diese Tür nur anstarren, zusammen weitere Vorwände suchen, um das Objekt der Begierde vor die Linse zu bekommen. Picnic at Hanging Rock ist ein Pandemiefilm und, so stellt sich in seinem Verlauf heraus, ein Liebesfilm, einer über das verschlingende Gefühl zu lieben, das unerwidert bleibt, wenn Bekenntnisse geflüstert und Sommertage am See erinnert werden müssen; ein „goodbye film“, wie Heiman im Voice-over bemerkt, weil Biniam bald wegzieht und den komischen Stadtteil Köln-Bickendorf und damit auch die israelische Regisseurin verlässt.

Zielführend ist die Frage, ob das Verhalten von Heiman und ihr Umgang mit der Person, die im Zentrum des Filmes steht, übergriffig sind, eigentlich nicht. In Duisburg wird sie trotzdem gestellt und diskutiert, der Eindruck der Asymmetrie und Obsession entsteht, weil die Regisseurin über Biniam spricht, als würde sie wissen, dass er nie das Geschirr in der Spüle wegräumt und dass der Wille zur Veränderung, die er sich mal von der Hormoneinnahme, mal von einer langen Wanderung verspricht (Biniam hat Thoreau gelesen), nicht lange andauern wird. Die nächste Phase wird kommen, die Wanderung, vorher groß angekündigt und geplant, bricht er nach drei Tagen ab, weil Wandern doch ganz schön langweilig ist.

All das ist in Picnic at Hanging Rock aber nicht zu sehen, sondern wird ausschließlich über Heimans Text und ihre Stimme vermittelt, eine Dramatisierung des Geschehens, während der Blick auf den Putzplan verrät, dass es noch eine dritte Person in dieser Wohngemeinschaft gibt, die im Film gänzlich fehlt. Heiman weiß genau, was sie hier tut. Sie ist keine Stalkerin, sondern eine Filmemacherin, die sich in ihrem Mut, unsympathisch zu wirken, außerordentlich verletzlich zeigt, mir als Zuschauerin abseits der großen Komik, die auch im Film steckt, nahe rückt, wie es wenige Beiträge in diesem Duisburger Jahrgang tun.

Über den Titel, von Peter Weir geborgt, spielt sie mit Erwartungen und Zitaten in einem Film, den sie mit einer von Biniam geliehenen Kamera auf Schmalfilm dreht. Das Drehen auf 16-mm-Material hat sie von dem Mitbewohner gelernt, der seine Kamera nur zurückfordern müsste, um das Filmprojekt zu beenden, dem somit die ultimative Kontrolle über den Drehprozess und das eigene Bild obliegt. Heiman geht mit dem analogen Filmmaterial nostalgisch um, zärtlich, es lässt sich im Gegensatz zum Liebesobjekt anfassen und immer wieder neu bei der Belichtung und Entwicklung beobachten: wie Biniam erscheint, nicht verschwindet wie in der drohenden Zukunft. Während die Menschen in Köln-Bickendorf aus pandemischer Langeweile ihre Vordächer säubern, die Tauben auf dem Balkon tanzen und scheißen, hinterlässt Biniam im Filmmaterial Abdrücke, an die sich Heiman haftet, um letztlich bloß sich selbst und mir auf die Schliche zu kommen.

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