Nature is healing? – Karlovy Vary 2024
Im Kurzfilmprogramm der Experimental-Reihe „Imagina“ geht es häufig um nichtmenschliche Akteure: den Mond, farbenfrohe halluzinogene Pilze, auf Hochkulturstätten posierende Affen. Jan Soldat dagegen seziert die Inszenierung von Frauenleichen in deutschen Fernsehkrimis.

Obwohl die Filme des Hauptwettbewerbs in Karlovy Vary nicht so geschliffen und glattpoliert daherkommen, wie es die namensgebende Trophäe – ein Kristallglobus – vermuten lässt, bewegt man sich dennoch innerhalb eines auf Verdaulichkeit verpflichteten Regelwerks aus ästhetischen und erzählerischen Konventionen. Was Kino sein kann, wird hier nicht neu definiert. Auch nicht in der wagemutiger aufgestellten Sektion „Proxima“, die neuen Stimmen und vielversprechenden Ansätzen eine Plattform bietet, vielleicht vergleichbar mit der „Encounters“-Reihe der Berlinale. Während meiner Zeit in Karlovy Vary gibt die Berlinale bekannt, die von Carlo Chatrian eingeführte Sektion unter der neuen Intendanz nicht weiterzuführen, stattdessen mit „Perspectives“ eine neue Sektion für Spielfilmdebüts zu schaffen. Kein überraschender, aber doch ein bedauerlicher Umbruch. Ob es auch einen Aufbruch markiert und falls ja, in welche Richtung, bleibt abzuwarten. Bedenklich sollte allein der Umstand stimmen, dass Tricia Tuttles Perspektiven lediglich im Fiktionalen liegen, als hätte es so etwas wie eine Hybridisierung der Formen nie gegeben, als wären wasserdichte Einteilungen in Spiel- vs. Dokumentarfilm nicht längst obsolet geworden.
Das Programm in Karlovy Vary macht hier jedenfalls keinen Unterschied. Sogar für das Experimental- und Avantgardekino, dem „Encounters“ immer wieder einen prominenten Platz eingeräumt hat, wurde vor gut zehn Jahren eigens die Nebenreihe „Imagina“ ins Leben gerufen, eine feine Auswahl an Lang- und Kurzfilmen unterschiedlichster Couleur. Laut Festival werden hier eigenwillige Formen präsentiert, die sich an der gängigen Filmsprache in radikaler Weise abarbeiten. Viele der Filme liefen bereits auf anderen Festivals, von der diesjährigen Berlinale sind etwa Tsai Ming-liangs Abiding Nowhere und Anna Cornudella Castros The Human Hibernation vertreten. Das tut der Originalität des Programms aber keinen Abbruch – umso mehr kommt es auf die Kuration an. Gerade Kurzfilme fristen in der Aufmerksamkeitsökonomie von A-Festivals ein randständiges Dasein. In der „Imagina“-Reihe erfährt das Kurzfilmprogramm nicht nur gleichrangige Wertschätzung, sondern überzeugt auch mit thematischer Kohärenz – so das denn möglich ist, wenn man Kurzfilme zusammenbringt, die bei ihrer Entstehung gar nichts voneinander wussten.
Den Blick einpendeln, bereinigen

Mare Imbrium von Siegfried A. Fruhauf nimmt sich einiges vor. Wenn nicht das Kino neu zu erfinden, so doch wenigstens unser Sehen neu zu kalibrieren. „Mare Imbrium“, so hat man die zweitgrößte dunkle Stelle auf der Mondoberfläche getauft, weil sie wie ein Meer aus Regen aussehen soll. Wenn der sonnenbeschienene Mond im Wasser der Erdenmeere glitzert, ist das eine kosmische Projektionssituation, die von der im Kinosaal nicht weit entfernt ist. Der Mond taucht in diesem Film auf als Pupille eines analog gefilmten Auges, die sich nach oben und unten verschiebt, als müsste sie den Blick, das heißt unseren Blick einpendeln, bereinigen. Den Andalusischen Hund (1929) lässt Fruhauf an der kurzen Leine, schwenkt anschließend aber weg von Buñuel und hin zu Jackson Pollocks Drip-Paintings oder Stan Brakhages fleckigen Zelluloidemphasen. Begonnen hat es ganz anders, sehr reduziert und digital: eine knisternde Wunderkerze aus Lichtpunkten inmitten von Schwarz, die von mehr und mehr Klonen flankiert wird – bis ein Orchester aus schwarzweißen, elektromagnetischen Störgeräuschen aus den Lautsprechern und von der Leinwand dringt. So ähnlich endet es wieder, der Lärm verebbt, der ASMR-Klangteppich rollt sich langsam ein, denn jedes Crescendo zieht ein Decrescendo nach sich. Eine Wellenbewegung.
Verschiebung in der Natur-Kultur-Achse

Deutlich effektärmer, allerdings nicht weniger effektiv, verfährt die indische Regisseurin Shambhavi Kaul in Slow Shift. Seit 1986 ist Hampi Weltkulturerbe, in seiner mittelalterlichen Blütezeit war es florierende Hauptstadt des Königreiches Vijayanagar mit prächtigen Bauten. Heute floriert hier der Tourismus, so kann man nachlesen, denn in Slow Shift sucht man Menschen vergeblich, geschweige denn Touristen. Stattdessen bevölkern Languren diese hochkulturelle Stätte, wandeln elegant durch Palastruinen aus riesigen Felsbrocken, als sei das alles für sie erbaut worden – eine Verschiebung in der Kultur-Natur-Achse nach dem Motto: nature is healing? Dass die Languren so ungeniert für die Kamera posieren, liegt an deren Gewöhnung an den Menschen durch den Tourismus. Auch die 16-mm-Kamera registriert die menschliche Präsenz, nimmt kleine Verschiebungen in der Rahmung vor, sodass die Affen dem Sonnenuntergang zuschauen wie Westernhelden. Auf die Planet der Affen-Filme oder Kubricks 2001: Odyssee im Weltraum (2001: A Space Odyssey, 1968) wird ebenfalls angespielt, wie überhaupt auf das filmisch Gemachte: Die Szenen, in denen die schweren Felsbrocken Hänge runterrollen und sich überschlagen, sind mit Miniaturmodellen im Studio entstanden.
Spirituelle Reise durchs Dickicht

Slow Shift war im Juni Teil des Programms „Animal, Mineral, Vegetable – Natur und Nichtmenschliches im Film“ im Berliner Kino Arsenal. Meine vorgeprägte Seherwartung hat also im „Imagina“-Programm nach Kontinuitätslinien gesucht – und sie ohne große Widerstände gefunden (Paula Ďurinovás Lapilli, der in „Proxima“ lief, würde sich ebenso nahtlos einfügen). Fragen nach dem Nichtmenschlichen sind nicht nur im Kino in den Vordergrund gerückt, wenn im Kino, dann aber vor allem im Experimentalfilm, der sich um menschliche Handlungsträger*innen nicht zu scheren braucht. Die Mexikanerin Azucena Losana hat ihren Performance-Film Nanacatepec (Co-Regie: Elena Pardo) im Forum Expanded der diesjährigen Berlinale vorgestellt. Ich habe ihn dort nicht gesehen, doch der Beschreibung nach zu urteilen, wirkt der achtminütige Allies, entstanden im mexikanischen Experimentalfilmlabor LEC, wie eine Auskopplung aus dem längeren Projekt. Die nichtmenschlichen Akteure sind hier Pilze, deren halluzinogene Wirkung bekannt sein sollte. Aber mit wem schmieden sie Allianzen und gegen wen? Etwa gegen den Menschen, der die Pilze mit Werkzeugen oder mit der bloßen Hand aus dem Boden zieht? Halluzinogen könnte man auch die Montagetechnik dieses Trips beschreiben, mindestens aber rhizomatisch, wuchernd. Durch Farngewächse und Bodenbeläge hindurch tastet sich Allies; doppelt- und mehrfachbelichtete Bilder tauchen auf und verschwinden wieder. Es ist auch eine spirituelle Reise durchs Dickicht, hin zu den farbenfrohen Pilzen, die am Ende in unterschiedlichen Schärfegraden in die Kamera gehalten, oder besser: von ihr beschnuppert werden.
Ein leichter Fall für Laura Mulvey

In allzu menschlichen Gefilden bewegt sich Jan Soldats Kompilationsfilm Die schöne Tote. In den 300 Episoden der ZDF-Krimiserie Ein Fall für zwei (1981–2013) hat Soldat nicht Pilze gesammelt, sondern Inszenierungsstrategien weiblicher Leichen. Der siebenminütige Film reiht Sequenz um Sequenz pausenlos aneinander und seziert, wie ermordete Frauen in der Serie gefilmt wurden. Eine derartige Verdichtung erleichtert die Mustererkennung: perfekt geschminkt, Augen offen, eine dekorative Blutspur umspielt den halboffenen Mund, die Beine lang, die Knöchel sichtbar, die Frisur sitzt (Drei Wetter Taft). Bemerkenswert auch die lasziven Kameraschwenks oder -zooms, die einzelne Körperteile herausheben, sodass schnell klar wird: Die Lust am Femizid in Ein Fall für zwei wäre ein leicht zu lösender Fall für Laura Mulvey, deren Theorien zum male gaze selten einschlägiger waren. Dass Soldat diese visual pleasures nicht reproduziert, sondern transparent macht, offenbart der Abspann: Neben den Kameramännern der einzelnen Episoden wird auch jede Darstellerin namentlich aufgeführt, es sei denn, der Name war nicht in Erfahrung zu bringen, dann markiert ein „unbekannt“ die Leerstelle.
Vermeintliche Beweismängel

Ebenfalls mit Found-Footage-Material arbeitet die Kanadierin Marisa Hoicka, verdichtet aber weniger anhand von Wiederholungsmustern denn als lyrisch-präzise Assoziationsmontage. Teen Girl Fantasy besteht aus Archivbildern unterschiedlicher Provenienz: Werbe- und Lehrfilme, Public Domain Footage, sogar nicht-explizite Versatzstücke aus Porno-Expositionen. Das meiste Material stammt aus den 1950er bis 1970er Jahren und zeichnet unter Hoickas flüchtigen Pinselstrichen ein kaleidoskopisches Porträt des unbeschwerten Highschool-Alltags irgendwo in Nordamerika. Die heile Welt der Americana hat jedoch – das weiß man spätestens seit David Lynch – seine abgründige Seite. Hoicka suggeriert diese nur; das Voice-over enthält mal deutliche, mal versteckte Hinweise auf sexuellen Missbrauch, der von einem Mann ausgeht, vermutlich von einem Lehrer, der von der mittleren dreier frei flottierender Voice-over-Stimmen nur als „Er“ bezeichnet wird. Im ersten Teil wird ein „Wir“ beschworen, vermutlich eine Gruppe Klassenkameradinnen, die gemeinsam Dinge unternehmen, Eis essen, Rollenerwartungen erfüllen, die sich mit dem Konzept des Teen Girls verbinden. Perfide mehrdeutig wird der Titel mit zunehmender Laufzeit dieses rasanten Kurzfilms, der von den Trommelschlägen einer Marching Band rhythmisiert wird: Wessen Fantasie bekommen wir hier zu sehen und zu hören? Entspringt der „problematische“ Lehrer etwa auch nur der Fantasie der Mädchen? Sicher nicht. Aber indem Hoicka Ambivalenzen einstreut, führt sie eine tief verankerte Kultur des Wegschauens vor, die vermeintliche Beweismängel anführt, wo sich Indizien längst hinreichend verdichtet haben.
Kommentare zu „Nature is healing? – Karlovy Vary 2024“
Es gibt bisher noch keine Kommentare.