Nach unten offen – Venedig 2024

Nahostkonflikt, Ukraine-Krieg, US-Migrationspolitik: Das Filmfestival von Venedig brachte widersprüchliche Standpunkte miteinander in Dialog. Während man sich über mangelnde Empathie und allzu kalkulierte Bilder ärgerte, sorgte ein aus alten TV-Aufnahmen montierter Monumentalfilm für tiefgreifendes Verständnis.

Zum Abschluss der diesjährigen Filmfestspiele von Venedig wiederholte sich, was seit dem 7. Oktober bereits bei zahlreichen Filmfestivals und Kulturveranstaltungen passiert war: Einzelne Preisträger*innen verurteilten deutlich den israelischen Feldzug in Gaza und die steigende Anzahl ziviler Opfer. Am deutlichsten äußerten sich Scandar Copti (Happy Holidays) sowie die jüdische Regisseurin Sarah Friedland, die mit ihrem Film Familiar Touch in der Orizzonti-Sektion des Festivals gleich dreifach ausgezeichnet wurde.

Boykotts und Distanzierungen

In Venedig hatte das Bündnis „Artists for Palestine Italia“ im Rahmen eines Boykottaufrufs den Vorwurf des Artwashing – also der Legitimation oder Verharmlosung von Kriegsverbrechen durch die Mittel der Kunst – gegen zwei israelische Filme im Programm erhoben: Why War? von Amos Gitai und Of Dogs and Men von Dani Rosenberg. Beide Regisseure beteuerten daraufhin ihre Absicht, mit ihren Filmen für Frieden und Humanismus einzutreten. In beiden Fällen war außerdem klar: Die Verfasser*innen des Boykottaufrufs hatten die Filme zuvor nicht sehen können und gingen auch nicht auf diese ein. Und überhaupt verkennt, wer Kurator*innen zu Boykotts auffordert, dass der Umgang mit widersprüchlichen Standpunkten im Kern jeder kuratorischen Arbeit stehen muss, die ihren Namen verdient. Auch Festivalleiter Alberto Barbera hatte sich in Stellungnahmen an die Presse von dem Boykott distanziert und weigerte sich grundsätzlich, Filme aus ideologischen Gründen aus seinem Programm zu nehmen.

An der Diskussion um Barberas kuratorische Entscheidung zeichnet sich eine Veränderung des Diskurses ab: War nach Beginn von Israels Feldzug zunächst vehement die Forderung an Veranstalter*innen herangetragen worden, selbst Position gegenüber der Politik der israelischen Regierung zu beziehen, rücken mittlerweile auch die Filme und Regisseur*innen selbst stärker ins Kreuzfeuer. Was die Frage aufwirft, weshalb Barbera Rosenbergs Film erst ganz zum Ende seines Festivals programmiert hatte. Vielleicht ein Schachzug, um den aktuellen Kontroversen zunächst aus dem Weg zu gehen?

Ein Hund vom Kibbuz nach Gaza

Sollte es so gewesen sein, war die Angst unbegründet, denn Of Dogs and Men erhält bis heute viel Rückenwind. Rosenberg hatte unmittelbar nach den Angriffen des 7. Oktober im Kibbuz Nir Oz gedreht, wo zahlreiche Zivilist*innen ermordet oder entführt worden waren. Seine Methode war simpel, der Dreh minimalistisch: Die junge Schauspielerin Ori Avinoam wandert durch die verlassenen Straßen und Häuser von Nir Oz, spielt eine junge Frau namens Dar auf der Suche nach ihrem Hund Shula. Rosenberg drehte mit Personen vor Ort, die von dem Angriff selbst betroffen waren: Soldat*innen und verbliebene Bürger*innen, denen Dar begegnet, werden durch Laien verkörpert. Die Dialoge des Films sind improvisiert, basieren auf den Erfahrungen und Haltungen der Beteiligten. Rosenberg nutzt die Mittel des Filmemachens, um sich den Ereignissen zu nähern und gleichermaßen eine Distanz zu wahren, das Geschehen mit der Kamera und den Anwesenden zu interpretieren. Zunächst ergebnisoffen und ohne vorgefasstes Skript entstanden Szenen, die später zu einer simplen Handlung montiert wurden.

Of Dogs and Men spielt sich langsam ab, wird dominiert von einer erstickenden Trauer und Leere. Angst und Ressentiments treffen auf Hoffnung, den fragilen Glauben an Frieden für alle Seiten. Eine Tierrechts-Aktivistin, die verstreue Haustiere im Kibbuz rettet, greift die Reaktion von Netanjahus Regierung auf die Angriffe des 7. Oktober auf und widersetzt sich der Rhetorik der Entmenschlichung: „There is no creature more awful, crueler than human beings, and I still live among you. So I prefer dogs“. Gewalt findet nur auf Handybildschirmen statt, wo Gräueltaten in zwei Momenten des Films direkt zu sehen sind. Rosenfeld unterstreicht Taten, die nicht mehr ungeschehen gemacht werden können und präsentiert Bilder, die nicht mehr verschwinden – nicht aus der Welt, nicht aus den Köpfen.

Gaza wiederum zeigt er nur einmal, als Animation, als Fantasma derjenigen Israelis, die nie die Grenze übertreten haben und ihre Augen, womöglich bis heute, vor dem Handeln ihrer Regierung verschließen. Rosenfelds Gaza-Vision ist eine der Zerstörung, in der menschliche Wärme und die Utopie von einer Welt ohne Ausweise zwischen lauten Bomben nur als Hauch der Hoffnung anklingen können: Der vermisste Hund ist als israelischer Hund nicht erkennbar, streunt durch die Straßen und wird zwischen einschlagenden Bomben von einem palästinensischen Jungen aufgenommen. Rosenbergs Film ist plakativ, aber geschickt: Auf dem ausgeblichenen Shirt der Protagonistin ist den ganzen Film über eine Wassermelonen-Scheibe zu sehen, deren Fruchtfleisch nach oben wegspritzt, als wäre eine Kugel eingeschlagen, oder als würde sie sich auflösen. Das Shirt gibt zu denken. Es war anwesend am Set, beim Dreh im Kibbuz, bei den Begegnungen mit den Darsteller*innen und dem Militär vor Ort. Rosenfeld hat seine Haltung dort nie verborgen.

Kultur ist alles, was uns bleibt

Auch Amos Gitai macht in Why War? seine Haltung unmissverständlich klar, setzt sie sogar in den Titel seines Films. Basierend auf dem berühmten Schriftwechsel zwischen Einstein und Freud über den Krieg als Phänomen der modernen Zivilisation entspinnt er einen Essayfilm, der in vielfacher Hinsicht verfremdet ist. Die Schauspieler Mathieu Amalric und Micha Lescot re-enacten Freud und Einstein, sprechen die Brieftexte frontal in die Kamera. Um sie herum, das deutet der Film erst nur an, entsteht zugleich eine Bühneninszenierung. Dort läuft alles anders ab: Ein Chor tritt auf, strenger Operngesang mit instrumentaler Begleitung dominiert den Film in ausgedehnten, minutenlangen Passagen, auch gleich zu Beginn als strenger Auftakt. Eine Frau kreuzt die Wege der beiden Philosophen, die Schauspielerin Irène Jacob. Auch sie schreibt einen Brief, der an Gitai gerichtet ist. Hinzu kommen Bilder aus der Vergangenheit, sie zeigen römische und jüdische Soldaten in einem erbitterten Kampf.

Nur einmal, ganz früh im Film, wird Gitai explizit: Eine lange, ungebrochene Kameraeinstellung zeigt eine Kunstinstallation für israelische Geiseln, die durch die Hamas festgehalten werden. Daneben sind Plakate zu sehen, die die Befreiung der Entführten fordern. Anders als Rosenfeld hatte Gitai viel Zeit, um seinen Film zu strukturieren. Aus unerfindlichen Gründen wählt er eine durch und durch prätentiöse Form, die keine Lust aufs Diskutieren macht und die Verzweiflung des Denkens im Angesicht von Kriegsbildern und Opfern nicht emotional ergründet, sondern in einer abstrakten Sprache und teils hinter einem befremdlichen und wenig eingängigen Humor verbirgt. Krieg und Kultur sind nicht voneinander zu trennen, und was gegen den Krieg wirkt, wirkt auch gegen die Kultur, trägt einer der Denker sinngemäß vor. Und doch sei die Kultur alles, was den Menschen bliebe. Dann wird es noch abstrakter: Liebe schafft Zerstörung. Gitai garniert die Plattitüden und akademischen Gedankengänge der Männer mit kahlen, kalkulierten Bildern, die einem das Herz brechen.

Unklar bleibt, weshalb Gitai, wenn er Krieg und Gewalt als vernichtendes Problem der Zivilisation beschreiben will, als einzig konkreten Bezugsrahmen nur auf israelische Geiseln verweist. Zielt er auf die Rhetorik hinter Netanjahus Feldzug ab? Auf Israels Rolle und Verantwortung als Militärmacht? Auf die Vorwürfe gegen Netanjahu als Kriegsverbrecher? Eine Einordnung macht der Film unmöglich, angesichts der Drastik der Weltlage ist das ein großes Ärgernis. Als Reaktion auf den Boykottaufruf gegen seinen Film äußert sich Gitai zugleich greifbarer und komplexer, benennt und verurteilt die israelische Regierung sowie die Hamas gleichermaßen als Hindernisse für jeden Friedensprozess und beschreibt die aktuelle Situation als Geiselnahme der Bevölkerung durch Machthabende, deren Interesse die anhaltende Gewalt sei.

Filme politisch zeigen?

Barberas Filmauswahl griff dieses Jahr auch über die Israelfrage hinaus gezielt politische Fragen auf, er kuratierte mitunter deutlich thematisch und damit stärker für die Öffentlichkeit als für die anwesende Branche. Venedig scheint er als Publikumsfestival ernst zu nehmen, will lokale Zuschauer*innen mit formal klassischen Filmen mitnehmen. Dabei ist der Versuch zu spüren, widersprüchliche Standpunkte miteinander in Dialog zu bringen und Themen aus mehreren Richtungen zu beleuchten. M: Son of the Century, Riefenstahl und The Order behandelten den Faschismus in Deutschland, Italien und den USA stilistisch völlig unterschiedlich. Russians at War und Songs of Slow Burning Earth erzählten vom Krieg zwischen Russland und der Ukraine aus gegensätzlichen, vielleicht unvereinbaren Perspektiven. In der Politdoku Separated klagt Errol Morris pünktlich zum Wahlkampf die kriminelle US-Migrationspolitik unter Trump und dessen Programm zur Trennung von Eltern und Kindern an der US-Grenze zu Mexiko an. Im Wettbewerb lief zudem I’m Still Here, Walter Salles’ Aufarbeitung der Militärdiktatur in Brasilien.

Trotz dieser vielen politischen Themen klagte die Presse über ein schwaches Jahr, noch dazu mit schwachem Wettbewerb. Und diese Unkenrufe waren nicht nur Attitüde. Vieles, was sich auf dem Papier gut las, war im Kino besonders schmerzhaft, Riefenstahl und Separated regelrecht problematisch und als Programmentscheidungen kaum erklärbar. Errol Morris inszeniert in Separated Bilder von Flucht und Verhaftung sensationsheischend mit Thriller-Musik, im Wechsel dazu sind Interviews mit Regierungsbeamten zu sehen, die für Menschenrechte kämpften und kämpfen. Die Ambition ist klar, doch Laura Poitras macht das mit ihren stilisierten Agitationsfilmen um ein vielfaches besser, und missachtet nicht wie Morris dreist die Würde der Abgebildeten.

In Riefenstahl macht Andres Veiel um die politische Gesinnung der Filmemacherin Leni Riefenstahl ein Mysterium auf, das keines ist. Im TV-Stil reiht er eine Überfülle widersprüchlicher Fakten aneinander und trägt zur Relativierung ihrer Gesinnung mehr bei als zu einer dringend benötigten Positionierung zum Einfluss ihrer Filme. Zentrale Fakten werden zudem ausgespart, etwa Riefenstahls Lektüre von „Mein Kampf“ in den 1930er Jahren. Ebenso spart der zu streng biografische Film die Frage nach dem Zusammenhang von Faschismus und Ästhetik konsequent aus.

Walter Salles lässt in I’m Still Here jede künstlerische Ambition fehlen und erzählt auf die denkbar einfachste Weise ein weltweit bekanntes Thema erneut aus. Gut konsumierbar, frei von Fallstricken und Widersprüchen, entwickelt sich sein Film um liebenswerte Menschen ohne Schattenseiten, suhlt sich in Opferpathos und schablonenartigem Gut-Böse-Denken.

Es geht auch anders

Diese Entscheidungen sind umso frustrierender, weil Barbera auch zeigte, dass es besser geht. Etwa mit der Platzierung der Nachwuchsregisseurin Dea Kulumbegashvili (Beginning) im Wettbewerb, was für die Georgierin ein wirklicher Durchbruch war. Ihre Ästhetik könnte der von Walter Salles kaum ferner sein: Sie dreht Filme, die schwer in Worte zu fassen sind. Filme, die in ihrer Form politisch sind, weil sie Vertrautes nicht wiederholen, Geschmäcker nicht bedienen und über Wochen nachwirken.

Neben Gitais und Rosenbergs Filmen fand sich im Programm übrigens auch eine dritte Arbeit, die sich mit der Gewalt zwischen Israelis und Palestinänser*innen befasst: In Israel Palestine on Swedish TV 1958-1989 zeigt Göran Hugo Olsson (The Black Power Mixtape) anhand von 40 Jahren schwedischer TV-Berichterstattung die Ursprünge der Gewalt um die israelische Staatsgründung bis 1989. Der Film entstand über fünf Jahre hinweg und vermittelt die kritische, journalistische Aufarbeitung der jahrelangen Konflikte in der Region in analogen, teils extrem konfrontativen Aufnahmen. In dem dreieinhalbstündigen Film treffen Interviews mit israelischen und internationalen Politiker*innen sowie wichtigen Stimmen der PFLP und PLO auf Gespräche mit Zivilist*innen, bis die Lage in ihrer Komplexität in allen Extremen, allen Ressentiments und Hoffnungen tiefgreifend verständlich wird. Der Film bleibt als eindrucksvollster des Festivalprogramms und minimalistischer Monumentalfilm tief im Gedächtnis. Barbera ist bei der Premiere in einem der kleinsten Säle des Festivals persönlich anwesend. Zur richtigen Zeit am richtigen Ort.

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