Menschen des Kinos: San Sebastián Film Festival

Rodrigo Morenos dreistündiger Bankraub-Film The Delinquents erschafft einen cinephilen Schutzraum auf dem Lande, Ryusuke Hamaguchis Evil Does Not Exist verweigert sich holzhackend Kino-Nostalgie wie Landschwärmerei.

„Es ist das Vertrauen in Maschinen, das die Zivilisation voranbringen wird.” Mit diesem Satz endet Indi-reesu / Explosion Course, ein Dokumentarfilm – inszeniert von Hiroshi Teshigahara, dem die schöne Retrospektive des Festivals gewidmet ist – über ein Autorennen der US-amerikanischen IndyCar Series, das in den späten 1960ern in Japan ausgetragen wurde. Ein Film der dröhnenden Motoren und quietschenden Reifen, außerdem Zeugnis eines Technikoptimismus, der in der Gegenwart und erst recht im Kino der Gegenwart rar geworden ist. Wo im Gegenwartskino könnte der obige Schlusssatz überhaupt noch auftauchen? Vielleicht am Anfang eines Elon-Musk-Biopics, der Rest des Films wäre dann seine deprimierende Widerlegung.

Suspense und Lohnarbeit

Die technologische Moderne, die das Kino einst gleichzeitig verkörperte und zelebrierte, taucht in ihm heute fast nur noch als Problem auf. Wie dieses Problem positioniert und vor allem auch was als explizites oder implizites Gegenbild installiert wird, ist damit freilich noch nicht ausgemacht. Zwei der interessantesten Filme, die ich in San Sebastián gesehen habe, gehen in dieser Hinsicht sehr unterschiedliche Wege. Dabei teilen Rodrigo Morenos The Delinquents (Los delincuentes) und Ryusuke Hamaguchis Evil Does Not Exist sowohl den Ausgangspunkt – das Ungenügen am zeitgenössischen, städtischen Berufsleben – als auch den Sehnsuchtshorizont: eine grundlegend anders getaktete, entschleunigte, befreite Existenz fernab der Großstadt, in Kontakt mit der Natur. (Außerdem sind beides, darum wird es im Folgenden nicht gehen, Filme übers Rauchen, beziehungsweise dessen zunehmende Verdrängung aus den Räumen der Gegenwart.)

Bei Moreno schreibt sich die zentrale Dichotomie direkt in die Struktur der Erzählung ein. Der insgesamt gut dreistündige Film besteht aus zwei Teilen, die jeweils ungefähr so lang sind wie ein klassisches Feature. Insofern sehen wir zunächst einen einigermaßen kompakten 90-Minüter über einen Bankraub und dessen Nachspiel: Ein Bankangestellter, Morán, leert den eigenen Safe, übergibt die Beute an seinen Kollegen Román (die Namensähnlichkeit ist selbstverständlich kein Zufall) und stellt sich anschließend der Polizei. Román soll das Geld bis zu Moráns Entlassung behüten, eine Aufgabe, von der er bald überfordert ist.

Moreno lässt sich viel Zeit mit der Entfaltung dieser Konstruktion und reichert sie mit einigen gut beobachteten komischen Details aus der Welt der kapitalistischen Alltagstristesse an (der quietschende Drehstuhl des Filialleiters ist eines der komischsten), folgt jedoch gleichwohl den Regeln des gewählten Genres. Das Geld, das nicht mehr da ist, wo es sein soll, setzt die Bilder unter Spannung und verändert den Blick auf die alltägliche Umgebung. Die filmische Form des Suspense engt – das zeigt unter anderem Gilles Deleuze in seiner Hitchcock-Analyse – den Möglichkeitsraum der Bilder so weit ein, bis diese nur noch quasimechanisch über Ursache und Wirkung, Blick und Gegenblick, Schuss und Gegenschuss miteinander kommunizieren. Und die deshalb, das ist die Pointe des Films, mit der beengenden Lohnarbeiterexistenz in der Großstadt korrespondieren.

Halbherzige Gegenprojektion

Bei Deleuze antworten auf das zum Hitchcock’schen Suspense verengte Bewegungsbild die autonomen Opt- und Sonozeichen des Zeitbilds – und bei Moreno auf die konzentrierte, städtische erste eine mäandernde, ländliche zweite Filmhälfte. Das Geld verschwindet unter einem Stein inmitten einer malerischen Naturlandschaft, und sobald es dort begraben ist, übernehmen andere Ökonomien die Kontrolle über die Bilder. Die vorher strikt linear fortschreitende Handlung gerät ebenso aus den Fugen wie Románs bürgerliche Existenz. Ein Bad im Bergbach ist plötzlich wichtiger als alle Zukunftsplanung – und außerdem bleibt den Figuren plötzlich Zeit dafür, ins Kino zu gehen.

Ins Repertoirekino genauer gesagt. Gezeigt werden Nouvelle-Vague-Klassiker. Es hätte dieses vereindeutigenden intertextuellen Verweises gar nicht bedurft, um die zweite Filmhälfte als eine nicht nur romantisch-antiurbane, sondern auch cinephile Utopie zu kennzeichnen. Román/Morán zieht es nicht in eine real existierende, sondern in eine imaginäre Gegenwelt; in eine Welt des Kinos, eines anderen, freieren Kinos, genauer gesagt, zu dem sich der Film natürlich auch selbst zählen möchte. Man könnte also sagen: Letzten Endes erklärt Morenos Film sich selbst zur Alternative zu derjenigen Lebensform, die er in seiner ersten Hälfte nachzeichnet.

Das Problem dabei aus meiner Sicht: Die Welt der Kinos, in die The Delinquents sich hineinträumt, ist gleichzeitig eine Welt der Vergangenheit, und der Film macht sich nicht hinreichend klar, was daraus folgt. Das war auch schon ein wenig eine Schwierigkeit in Mariano Llinás’ deutlich stärkeren, aber strukturell verwandten La Flor. Um einem Missverständnis vorzubeugen: Beides sind keineswegs politisch regressive Filme, die die ‚gewachsenen‘ Traditionen des Landlebends gegen eine ‚entwurzelte‘ Großstadtexistenz ausspielen; es geht ihnen ganz im Gegenteil darum, dem Kino poetische Freiheitsgrade zurückzugewinnen – die sie allerdings in einer letztlich nur noch als nostalgisches Zitat aktivierbaren Kinoschwärmerei der Vergangenheit finden.

In The Delinquents schlägt sich das unter anderem darin nieder, dass die Sehnsucht der gedoppelten Hauptfiguren letztlich im klassischsten aller Kinomotive kondensiert: einer schönen, mysteriösen, den Zwängen des Alltags enthobenen Frau. Auch diese Wendung ist nicht für sich selbst Grund meiner mit zunehmender Laufzeit wachsenden Irritation. Die Verbindung von Bild und Begehren mag in der Kulturkritik der Gegenwart unter Generalverdacht geraten sein; erledigt hat sie sich damit noch lange nicht. Die Herausforderung bestünde darin, sie zu aktualisieren, ihr neue Facetten abzugewinnen, was The Delinquents nur sehr halbherzig versucht. Das weibliche Sehnsuchtsobjekt weigert sich bei Moreno zwar letztlich, als Projektionsfläche männlicher Fantasien zu dienen, aber diese Zurückweisung resultiert weder in einem Surplus an weiblicher Subjektivität noch in einem alternativen Horizont für die männliche Fantasieproduktion. Das Kino geht weiter, scheint die letzte Einstellung zu sagen. Obwohl der letzte Vorhang schon längst gefallen ist.

Glamping-Lobbyisten im Wutbürgerfrust

Dem Unbehagen an der Moderne Ausdruck verleihen, ohne sich in einer wie auch immer selbstgewählten nostalgischen Utopie einzuigeln, kann das Kino das? Ein Film, dem dies, glaube ich, gelingt, ist Evil Does Not Exist, das neue Werk des Drive My Car-Regisseurs Ryusuke Hamaguchi. Ein Film, der die Spuren der Gegenwart liest, ohne immer gleich schon zu wissen, wohin sie ihn führen. Im Schnee, der auf eine Bergregion in der japanischen Provinz fällt, zeigen feine Hufspuren zum Beispiel die Wanderungen des Wildes an. Ob beziehungsweise eher wie sehr die luxuriöse Ferienanlage (Stichwort „Glamping“, eine Mischung aus Glamour und Camping), die hier entstehen soll, die Wanderung der Tiere behindern wird, ist eine offene Frage. Drei Meter hoch müsste ein Zaun sein, damit Rehe ihn nicht überspringen können. Aber ist der überhaupt nötig? Normalerweise halten die Tiere sich von Menschen fern. Es sei denn, sie werden verletzt, zum Beispiel von einer Kugel aus dem Lauf eines Gewehrs. In der Ferne sind gelegentlich Schüsse zu hören.

So wendet der Film geduldig die Probleme hin und her, betrachtet sie von allen Seiten. Jede Antwort ist bestenfalls vorläufig und wirft drei neue Fragen auf. Als bösartige Komödie wird das in einer frühen Schlüsselszene durchgespielt: Während eines Bürgertermins, auf dem zwei Angestellte der Firma, die die Glamping-Anlage bauen will, die Pläne den Anwohnern vorstellen und um Feedback bitten. Das bekommen sie, und zwar reichlich. Hinten und vorne nicht durchdacht sei das Konzept, erregen sich die Ortsansässigen. Das mit den Rehen sei noch das geringste Problem, viel wichtiger die Abwasserfrage. Und was, wenn Gäste gleich die ganze waldige Gegend abfackeln? Die im japanischen Alltag sonst felsenfesten Höflichkeitsformeln entgleiten langsam, vor allem bei einem verbiestert dreinschauenden Typ mit blondierten Haaren in der ersten Reihe.

Die beiden Glamping-Lobbyisten klammern sich an ihre Informationsbroschüren, die die gewünschten Informationen natürlich gerade nicht enthalten. Entscheidungsgewalt haben die Firmenrepräsentanten ohnehin nicht, der Bürgertermin ist lediglich als Ventil für Wutbürgerfrust gedacht; an den Plänen selbst ist nicht oder zumindest nicht entscheidend zu rütteln. Was aber durchaus nicht heißt, dass damit Hamaguchis eigene filmische Investigation beendet ist und sein Film in dem klaren Gegeneinander von nachhaltigem Wirtschaften in kleinen, lokalen Communities auf der einen und rücksichtsloser, gewinnmaximierender Naturausbeutung auf der anderen Seite aufgeht (auch wenn einige Rezensionen Evil Does Not Exist durchaus in diese Richtung zurechtzubiegen versuchen).

Eskapismus des Kapitals

Nicht aufgelöst, aber verkompliziert (und damit tendenziell Rhetoriken der Moralisierung entzogen) wird dieses Gegeneinander ausgerechnet durch Takahashi und Mayuzumi, die beiden armen Tröpfe, die von ihrer Firma der Anwohnerwut zum Fraß vorgeworfen werden. Sie und nicht etwa die in fein gearbeiteten, teils wunderschönen, teils etwas arg enigmatischen Baum-und-Klang-Installationen eingepferchten Dorfbewohner entpuppen sich alsbald als das wahre Zentrum des Films. Weil sie sich beide, auf jeweils unterschiedliche Art und Weise, von dem Ort, in den sie unter so unglücklichen Umständen geraten sind, affizieren lassen.

Wie Román/Morán bei Moreno sind auch Takahashi und Mayuzumi Stadtmenschen – und irgendwie sind sie auch, eine weitere Verbindung zu The Delinquents, Menschen des Kinos. Nur dass Hamaguchi das Kino auf der Seite platziert, auf der es auch tatsächlich seinen Ort hat, und zwar seit seiner Erfindung: in der städtischen Moderne. Die Firma, für die die beiden arbeiten, ist hauptsächlich eine Talentagentur, die Schauspieler:innen an Filmprojekte vermittelt. Ins Glamping-Business steigt sie nur aufgrund kurzfristig verfügbarer Coronazuschüsse ein. Kino ist so auch bei Hamaguchi ein Medium des Eskapismus: Das in der Kulturindustrie erwirtschaftete Kapital entflieht in den Luxustourismus. Nur führt diese Fluchtbewegung keineswegs in die Freiheit eines anderen Kinos, sondern verstärkt lediglich die reale Instabilität der Gesellschaft.

Takahashi und Mayuzumis urbaner Arbeitsalltag wird im Film nur kurz aufgerufen, in einer ziemlich lustigen Büroszene, die eine Arbeitsbesprechung in das groteske Nebeneinander nicht miteinander kompatibler Perspektiven und Selbstbilder auflöst. Wichtiger ist eine andere, längere Gesprächsszene in einem intimeren Setting, das aus vorherigen Hamaguchi-Filmen vertraut ist: Takahashi und Mayuzumi sitzen im Auto und versuchen, die Frustration über den Arbeitsauftrag wegzuplaudern. Takahashi gerät richtig in Fahrt und beginnt irgendwann, sich ein Leben in der Provinz auszumalen. So plastisch, dass er nur wenige Sätze später überzeugt davon ist, genau das immer schon gewollt zu haben: ein Haus auf dem Land, mit Frau und Kindern und Hund. Eine reine Autosuggestion (und eben auch: Auto-Suggestion, automobile Selbstfantasie) ist das, die wenig später eine entscheidende Verstärkung erfährt, wenn Takahashi zur Axt greift.

Im Akt des Spaltens

Einen Holzscheit spaltet er, jetzt wieder in dem Bergdorf angekommen, und im Akt des Spaltens, der Bearbeitung von Materie mit eigener Kraft und eigenem Geschick, nimmt sein neuer Lebensentwurf endgültige, wenn auch vermutlich teilweise psychotische Gestalt an. Der Film führt uns diesen Instant-Naturburschen Takahashi durchaus als eine lächerliche Gestalt vor; aber seine Lächerlichkeit desavouiert noch lange nicht die ihr zugrunde liegende Sehnsucht. Es gibt, darauf legt Hamaguchi Wert, keine ontologischen Differenzen zwischen Land- und Stadtbewohnern und auch nicht zwischen den entsprechenden Lebensstilen. Die meisten der Dorfbewohner, die sich gegen das Glamping-Projekt wehren, wohnen selbst noch nicht lange da oben. Irgendwann müssen auch sie selbst oder ihre Vorfahren den Entschluss gefasst haben, hier eine neue Existenz aufzubauen und damit zwangsläufig in Umweltdynamiken einzugreifen. Wer weiß schon, was damals der ausschlaggebende Faktor war. Vielleicht ja ebenfalls eine Epiphanie beim Holzhacken.

Die entscheidende Differenz zu Morenos Film besteht in meinen Augen darin, dass mit dieser Epiphanie noch keine Entscheidung über das Leben, das Takahashi statt seinem bisherigen führen könnte, gefällt ist. Die das Holz zerteilende Axt schlägt keinen Pfad in einen nostalgisch-cinephilen Schutzraum frei; vielmehr scheinen im erfolgreich gespaltenen Holz zunächst erst einmal nur die Unsicherheiten einer plötzlich wieder offenen Zukunft auf. Einer Zukunft, die in diesem klug erzählten Film mit jeder Wendung noch ein bisschen unberechenbarer wird. Denn es gibt ja immer noch die Rehe im Schnee; und dann ist da noch ein kleines Mädchen, das ihren Spuren folgt.

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