„Mensch zu sein heißt, etwas zu wollen.“ – Über Selbstfindung im Kino seit New Hollywood
Manche begehren die Intensität des Lebens, manche sind ihr hilflos ausgeliefert. Warum das Kino die Flucht aus den Umständen zu häufig als heroischen Akt denkt.

Als ich ein zweites Mal Leonie Krippendorffs schönen Coming-of-Age-Film Kokon (2020) im Kino sehe, muss ich, wann immer Rabenmutter Vivienne die Szene betritt, an Wanda denken, die Protagonistin aus Barbara Lodens gleichnamigem Film von 1970. Der assoziative Sprung vom gegenwärtigen Kottbusser Tor in Berlin zum US-Nirgendwo von vor 50 Jahren hat mit einem kleinen Vorbehalt gegenüber Kokon zu tun, und der Vorbehalt wiederum mit dem Thema dieser Essayreihe: dem Verhältnis zwischen der Feier des Kinos einerseits – als eines Raums der Affekte, der ungeahnten Möglichkeiten, des Exzesses – und dem sogenannten Politischen andererseits, der Nachbarin, die bei dieser Feier irgendwann dann doch mal klingelt und das Kino dran erinnert, dass es nicht alleine auf der Welt ist.
Aber erstmal feiern, dann beschweren: Kokon ist ein toller Sommerfilm, ein toller Berlin-Film, ein toller Film über weibliches Erwachsenwerden, über Schwesternschaft, Freundschaft, über erste Lieben und erste Enttäuschungen. Es ist ein Film über Selbstfindung. Wer sich selbst findet, ist Nora (Lena Urzendowsky), zarte 14 Jahre alt, unter die Fittiche genommen von ihrer größeren Schwester Jule (Lena Klenke), aber unter diesen Fittichen auch ganz schön viel aushaltend. In ihrem mit Jule geteilten Zimmer hält sich Nora dafür wunderhübsche Raupen, und schon der Filmtitel verspricht: Wo Raupe war, wird Schmetterling sein, und aus jedem unscheinbaren Mädchen kann ein Einhorn werden. Als solches verkleidet geht Nora irgendwann auf die große Party, im Kopf nur die zwei Jahre ältere Romy (Jella Haase), die eine dröge Schulaufgabe in eine Videoinstallation mit Performance zu Bowies „Space Oddity“ verwandelt hat, und damit war es endgültig um Nora geschehen.

Wer sich hier aber nicht selbst findet, oder vielleicht schon mal gefunden, aber wieder verloren hat, ist Noras Mutter Vivienne (Anja Schneider). Die säuft in der Kneipe, bis ihre zwei Töchter im Nachthemd reinkommen, weil sie Hunger haben. Sie wacht an ihrem Geburtstag verkatert auf und hat keinen Nerv auf das Frühstück, das die Mädchen liebevoll für sie vorbereitet haben. Sie kümmert sich nur spaßeshalber um die Baby-Puppe, die Tochter Jule aus der Schule mitbringt, um Mutterschaft zu üben. Während Jule und ihre Clique zwar auch zunehmend Reibungsfläche für Noras Selbstfindung werden, dabei aber trotzdem bei sich bleiben können, steckt Vivienne eigentümlich in ihrer Rabenmutter-Funktion fest. Der Film urteilt nicht über sie, dafür ist er zu klug. Und natürlich sollten Erwachsene in Coming-of-Age-Filmen keine Rolle spielen. Vivienne aber spielt eine, nur eben keine eigene. Der Film nutzt sie, fragt sich aber nicht so richtig, wer sie ist und was sie will. Will sie überhaupt was?
Der Fall Wanda
„Wanda beweist uns einmal mehr, dass Mensch zu sein heißt, etwas zu wollen, und dass lebendig zu sein heißt, in Bewegung zu sein. Wanda ist das nicht. Deshalb spielt sie keine Rolle.“ So sprach Kritiker Winfried Blevins fünfzig Jahre zuvor im „Los Angeles Herald Examiner“ sein Urteil über eine andere Rabenmutter des Kinos. Dabei bewegt sich Wanda in der Anfangssequenz von Barbara Lodens Film ziemlich viel, muss nämlich zu Fuß durch ein endloses Ödland gehen, um zu einem Gerichtstermin zu kommen. („Ich wollte zeigen, dass es ganz schön dauern kann, von hier nach dort zu kommen“, antwortete die Regisseurin und Hauptdarstellerin, als man ihr mitteilte, die Sequenz sei Teilen des Publikums langatmig vorgekommen.) Betreff des Gerichtstermins: Scheidung und Sorgerecht. Wanda kommt zu spät. Wanda raucht im Gerichtssaal. Wanda verzichtet freiwillig. Beim Mann sind die Kinder besser aufgehoben, sagt sie. Dann geht sie raus ins Leben, um zu überleben.

Wanda „hits the road“, wie man so sagt, verlässt ihren angestammten Platz, driftet durch Amerika, ohne jemals anzukommen, aber anders als die anderen, anders etwa als Bobby Dupea (Jack Nicholson) in Five Easy Pieces, ebenfalls von 1970. Bobby hat einen freiwilligen sozialen Abstieg hinter sich, hat die Kälte seiner Familie voller klassischer Musiker verlassen, um sich das roughe Arbeiterklassenleben auf den Ölfeldern von Kalifornien anzueignen, mitsamt White-Trash-Freundin und Bowling-Nächten. Über das Verhältnis des Films zu seinem Helden war sich die Kritik uneinig: Die einen feierten Bobby als Kritiker einer heuchlerischen Gesellschaft, die anderen sahen in ihm nicht mehr als einen weinerlichen Möchtegern-Playboy, der mal klarkommen soll. Doch das große Thema des Films schien allen klar: das Problem der inneren Entfremdung, und das schwierige Projekt der Selbstfindung.
Dieses Problem und dieses Projekt vermisste man bei Wanda. Der „Film Comment“ beschwerte sich darüber, dass Wandas Innenleben überhaupt nicht nachzuvollziehen sei und Loden ihr Publikum zu bloßem Mitleid verdammte. Schien Bobby Dupea von einer emphatischen Identitätskrise geplagt, innerlich aufgewühlt, immer nervös am Rande des Ausbruchs, wie es Jack-Nicholson-Figuren seither immer sind, ließ sich Wanda mit der herrschenden Affektökonomie und ihren Pfeilern emotionale Expressivität, innere Entfremdung und Identitätssuche kaum in Einklang bringen. Wanda driftete nicht aus Leidenschaft, nicht, weil sie sich selbst suchte, sondern schlicht, weil sie weiterleben, was essen, irgendwo schlafen musste. Wanda suchte nicht nach der metaphysischen Freiheit, sie suchte nicht nach Amerika, wie es auf dem Poster von Easy Rider (1969) stand, sie suchte ein Bett und eine Mahlzeit, und wenn es der schweigsame Kriminelle Mr. Dennis (Michael Higgins) war, der ihr diese Dinge zwischen den gemeinsamen Beutezügen liefern konnte, dann war das eben so.

Auch wenn allein in der asymmetrischen Variante des Couple-on-the-Run-Motivs eine feministische Kritik am Unterwegs-Pathos von Easy Rider und Bonnie und Clyde (1967) steckt, taugte Wanda nicht zum filmischen Manifest einer gerade erstarkenden Frauenbewegung. Vor allem bürgerlich-liberale Feministinnen, die sich aus der Entfremdung durch rigide Geschlechterrollen befreiten und gegen die Reduktion auf Hausfrau-und-Mutter zur Wehr setzten, konnten wenig anfangen mit einer Frau, die sich derart ihrem Schicksal zu ergeben schien, die sich noch beim Boss bedankte, als der ihr erklärte, er habe nichts für sie, sie nähe zu langsam. Während Feministinnen rebellierten, geriet Wanda an Männer, widerfuhr ihr etwas, ergab sich etwas, stieß ihr etwas zu. Kaum mal schien sie aktiv zu handeln, die Dinge zu formen, zu agieren. Sie forderte keine Wahlfreiheit ein, weil sie gar nicht davon ausging, eine solche zu besitzen. Sie begehrte nicht die Intensität des Lebens, sondern war ihr einigermaßen hilflos ausgeliefert.
Auch die Filmkritik vermisste in Wanda Motor, Antrieb, Begehren. Die berüchtigte Pauline Kael wurde gar ausfallend: „Normalerweise gärt etwas in jemandem, der so unglücklich ist, aber Wanda ist so dumm, dass wir nicht einmal mehr sagen können, was sie so elendig gemacht hat.“ Die am wenigsten umständliche Antwort auf Kaels Frage wäre wohl: die Umstände. Doch in einer Filmkultur, die Wanda so schnell vergaß, wie sie Five Easy Pieces (ebenfalls 1970) in einen sich gerade erst konstituierenden Kanon singulärer Meisterwerke des New Hollywood lobhudelte, waren diese Umstände nicht mehr Fluchtpunkt filmischen Begehrens, sondern nur Hindernisse auf dem Weg zur Selbstfindung. Sie interessierten vor allem dann, wenn sich das Individuum heroisch aus ihnen befreien oder anti-heroisch an ihnen zugrunde gehen konnte, als zurückgelassener Rest oder als feindselige Gesellschaft.
New Hollywood und der Wandel in der materiellen Basis

Tatsächlich scheint um 1970 herum ein kultureller Wandel stattzufinden, der nur indirekt mit den ästhetischen Innovationen des New Hollywood zu tun hat, dafür umso mehr mit dessen materieller Basis. Der Filmwissenschaftler Derek Nystrom hat sich in einer Studie über Repräsentationen der Arbeiterklasse im New Hollywood an einer solchen materialistischen Analyse versucht, begreift darin die aufstrebenden Regisseure und Produzenten mit ihrer Auteur-Ideologie als Teil einer neuen kreativen Klasse, die zunehmend auf gewerkschaftlich nicht-organisierte Film-Arbeiter*innen zurückgriff, während sie individuelle Freiheit und künstlerische Autonomie auf die Fahnen schrieben, die sie den Studios entgegenschwenkten.
„Was ist die Auteur-Theorie“, fragt Nystrom provokant, „wenn nicht eine Unabhängigkeitserklärung von den Interessen des Kapitals?“ Der New-Hollywood-Auteur, der sich auf der Suche nach kreativem Ausdruck gegen die Zwänge der Studios durchsetzte, war gewissermaßen das Äquivalent zum von der Gesellschaft entfremdeten, sich nach dem authentischen Leben sehnenden Bobby Dupea aus Five Easy Pieces. Hier wie dort ging es um Selbstverwirklichung, um Distinktion, und in fertigen Filmen waren jene materiellen und kulturellen Ressourcen, die dieses Projekt voraussetzte, meist verschleiert – oder fuhren wie in Easy Rider als blinder Passagier im Motortank mit. Selbst wenn nach den 1960ern die Helden unmotiviert und das Deleuze’sche Aktionsbild auch in Hollywood zerbrochen war: Als Norm wirkte die individuelle Agency wie eh und je. Und dass Krisendiagnosen ihren Gegenstand erst herstellen, gilt für Identitätskrisen wohl ganz besonders.

Im Kino der Identitätskrisen und Selbstfindungen aber scheint das Individuum dem Sozialen meist äußerlich, steht ihm gegenüber, und diese Struktur sucht (nicht nur) filmische Erzählformen bis heute heim. In Kokon ist dieses Soziale das Kotti-Milieu, die Familie, die Schule, die Clique, und Noras Queerness ist das, was dieses Milieu letztlich transzendiert, Marker jener Einzigartigkeit, zu der wir alle angehalten werden. Wo der Kokon als tierische Variante des „Closets“ aber noch mindestens eine weitere Bedeutung mit sich trägt, tötet diese Struktur andernorts jegliches komplexe Leben ab. In der Netflix-Serie Unorthodox etwa ist das Soziale die jüdisch-orthodoxe Gemeinde, der die Protagonistin entflieht und die von Drehbuch und Regie mühsam als totales Reich der Zwänge konstruiert wird, um die Befreiungs-Affekte in Berlin noch effizienter abgreifen zu können.
Das Kino der Selbstfindung und die Probleme seiner Produktion
Krise, Suche, Befreiung, immer wieder eine gute Erzählung, aber auch eine, die von Gesellschaft immer nur als das erzählen kann, was unterdrückt und was zurückgelassen wird, und die sich damit selbst ihrer kritischen Haltung gegenüber dieser Gesellschaft versichert. Wie alle politischen Fragen rund ums Kino ist das nicht nur ein Problem der Repräsentation, sondern der Produktion. Regisseur Franz Müller hat in einem Blog-Text nach der Berlinale 2019 einmal eine Quote für Nichtakademiker*innen in Gremien und Filmschulen gefordert. Wer weiß, ob dadurch etwas von dem ins Kino zu retten wäre, was in der Literatur bereits vermehrt einen Platz findet: der persönliche Blick auf soziale Verhältnisse, mit denen man verstrickt bleibt, selbst wenn man sie räumlich und geistig hinter sich gelassen hat.
So wie Annie Ernaux sich selbst in ihrem autofiktionalen Werk Der Platz ermahnt:
„Um ein Leben wiederzugeben, das der Notwendigkeit unterworfen war, darf ich nicht zu den Mitteln der Kunst greifen, darf ich nicht ‚spannend‘ oder ‚berührend‘ schreiben wollen. Ich werde die Worte, Gesten, Vorlieben meines Vaters zusammentragen, das, was sein Leben geprägt hat, die objektiven Beweise einer Existenz, von der auch ich ein Teil gewesen bin.“
Ernaux’ Selbstappell erinnert mich an das, was Barbara Loden gesagt hat, als sie das Thema von Wanda erklären sollte:
„Mein Thema sind Menschen, die nicht sehr artikuliert sind und sich ihrer Situation nicht sehr bewusst. Sie haben keine Zeit, geistreich ihre Umgebung zu begutachten. Sie sind mit nichts anderem beschäftigt, als von Tag zu Tag zu existieren. Sie sind nicht dumm. Sie sind ignorant … alles, was sie sehen, ist hässlich.“
Bei Édouard Louis, einem anderen französischen Autor, der sich ans eigene Aufwachsen in prekären Verhältnissen erinnert, heißt es am Schluss von Das Ende von Eddy:

„Mir liegt daran, hier zu zeigen, dass die Flucht nicht etwa ein Plan war, den ich innerlich schon lange hegte, als wäre ich ein gefangenes Tier, das sich nach Freiheit sehnte, als hätte ich schon immer weg gewollt, denn die Flucht war im Gegenteil die letzte noch verbleibende Möglichkeit nach einer langen Reihe von Niederlagen gegen mich selbst.“
Das Kino der Selbstfindung denkt die Flucht vielleicht noch zu häufig als den heroischen Akt, den Louis hier abstreitet, als Ende der Kluft zwischen Wunsch und Wirklichkeit, als finalen Sieg des gefangenen Tiers, als Befreiung des Schmetterlings aus dem Kokon, als rauschhaftes Werden, als Fahrt ins Leben. Aber in Charles Burnetts Killer of Sheep von 1977 springt das Auto gar nicht erst an, und der schwarze Protagonist Stan (Henry G. Sanders) muss einen Scheck einlösen, um seinem Onkel einen gebrauchten Motor abzukaufen. Zu zweit schleppt man den Motor eine Treppe herunter und hievt ihn irgendwie auf die Ladefläche des Pick-ups. Schon beim ersten Anfahren fällt das schwere Teil wieder hinunter und auseinander. Wie lässt sich hier an Flucht denken?
Es geht nicht darum, einen neuen Sozialrealismus einzufordern, der dem filmischen Rausch Einhalt gebietet, oder eine glorreiche Zeit des unabhängigen Kinos zu beschwören, das sich noch ums Politische scherte, als wären historische Perioden einfach so vergleichbar. Aber als ich die Szene aus Killer of Sheep im Jahr 2020 im Berliner Arsenal sehe, scheint sie mir doch ein schönes Symbol dafür, dass in vielen Lebenswelten der Motor der Autonomie erst mühsam beschafft werden muss, den die Filme der Selbstfindung ins Stottern geraten lassen. „Mensch-sein heißt, etwas zu wollen“, hatte Winfried Blevins in seiner Besprechung von Wanda geschrieben. „Er musste müssen“, heißt es dagegen in Burhan Qurbanis Film Berlin Alexanderplatz.
Antrieb als materielles Problem
Natürlich ist die Filmgeschichte voller Beispiele, die die hier genannten Fallstricke umschiffen. Und natürlich muss das Kino auch Gegenbilder der Ermächtigung schaffen, einen virtuellen Raum, in dem man an den Umständen eben nicht scheitert, sondern sie besiegt. Ich will noch tausend Schmetterlinge sich aus ihren Kokons befreien sehen. Aber auch ein genauerer Blick auf Lebensweisen, in denen Antrieb kein metaphysisches, sondern ein materielles Problem ist, scheint mir gerade heute zentral, nicht zuletzt weil sich in diesen „kulturelle“ Identitäten und Klassenzugehörigkeiten nie so einfach gegeneinander ausspielen lassen, wie es viele Debattenbeiträge um die sogenannte Identitätspolitik gern tun. Wanda etwa ist völlig unakademisch und weiß doch schon, was Intersektionalität bedeutet, lange bevor es cool war, das zu wissen.

Weil Wanda nicht die Einzelne und ihren Kampf gegen die Umstände in den Blick nimmt, sondern gar nicht auf die Idee kommt, beides zu trennen, endet der Film nicht „on the road“, nicht im Fade to Black, nicht im Kugelhagel und nicht im Selbstmord, nicht mit dem Riss des Zelluloids, sondern einfach im Freeze-Frame in einer Bar. Und als Barbara Loden einmal gefragt wurde, ob sie eine Lösung wüsste für die sozioökonomischen Probleme der ländlichen Region, in der Wanda spielt, antwortete sie knapp: „Just to change the whole society.“
Dieser Text ist eine leicht überarbeitete Fassung des Essays Politische Cinephilie (II): (Not) Looking for Freedom, der am 8.9.2020 im Filmdienst erschien.
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