Lustvolle Überfrachtung – Notizen aus Venedig (2)
Der zweite Tag am Lido bringt unter anderem neue Filme von Noah Baumbach. Valérie Donzelli und László Nemes. Dabei reicht die Bandbreite von gutgelaunter Farce bis zu indiskutablem Bullshit. Zum Glück warten am Ende die rettenden Arme von ABBA.
Zweiter Tag Venedig. Wovon sich andere Festivals eine Scheibe abschneiden könnten, auch wenn das bei einigen Cinephilen für Zähneknirschen sorgen könnte: Die englischsprachigen Filme werden neben Italienisch auch auf Englisch untertitelt. Ich liebe es. Genauso wie die tägliche Fahrt mit dem Vaporetto zum Lido. Nicht so schön: Ewige Schlangen auch vor den Männerklos, weil man hier auf Pissoirs gerne verzichtet. Ich verbuch’s unter ausgleichender Geschlechtergerechtigkeit.

Jay Kelly von Noah Baumbach (Wettbewerb) ist einer von drei Netflix-Filmen in Venedig dieses Jahr. Mal wieder steht ein alternder Mann im Vordergrund, wenn auch mit George Clooney ein ausgesucht schöner, der seine Lebensentscheidungen melancholisch reflektiert und hinterfragt. Baumbach macht daraus eine altmodisch-gutgelaunte Hollywood-Farce, die zugleich wie ein versöhnlicher, aber dennoch unzweideutiger Abgesang auf das Hollywood-Starsystem wirkt. Sichtlich auf Clooney zugeschnitten, der auf Schritt und Tritt von einer schmeichelnden Kamera bestmöglich in Szene gesetzt wird, scheut der Film kein Klischee und lässt keinen Fremdscham-Moment aus. Der Höhepunkt dabei: Ein lustvoll überfrachteter Zug-Trip durch Europa, der wie von einer TikTok-Influencer-KI produziert scheint. Der Film weiß um seinen ästhetischen Überschuss und steuert trotzdem oder genau deswegen auf ein hochgradig emotionales Finale zu. Dieses funktioniert gerade deshalb, weil sich der Film nie zurücknimmt und in falscher Bescheidenheit übt. Neben Clooney punkten Laura Dern und vor allem Adam Sandler, der irgendwann still und leise den kompletten Film an sich reißt. Darf man auf einen Schauspielpreis für ihn hoffen?

Mit At Work / À pied d'œuvre von Valérie Donzelli (Wettbewerb) haben wir dann hoffentlich den Tiefpunkt des Festivals erreicht. Ein Vater mittleren Alters schmeißt seinen gut dotierten, aber scheinbar völlig energieraubenden Fotografenjob hin, um sich dem Schreiben zu widmen. Weil sich Kunst nicht verkauft, sieht er sich gezwungen, im selbstausbeuterischen Kapitalismus niedere Arbeiten zu verrichten, wie zum Beispiel Pflanzen umzutopfen. At Work ist die Art Film, die wohl dabei herauskommt, wenn wohlstandsverwahrloste Salonkommunisten etwas über die echten Probleme echter Menschen zum Besten geben wollen: Redundantes Bullshit-Karaoke, das ähnlichen Mehrwert und Erkenntnisgewinn bietet wie die neueste vom McKinsey-Praktikanten hingeschluderte PowerPoint-Folie zu einer anstehenden Unternehmens-Restrukturierung. Ein komplett indiskutabler, ärgerlicher Film.

Laszlo Nemes spürt in Orphan / Árva (Wettbewerb) dem kommunistischen Terror und Fragen nach jüdischer Identität im Ungarn der 1950er Jahre nach. Dabei fördert er wenig inhaltlich Interessantes, dramaturgisch Kongruentes oder irgendwie Beachtenswertes zutage. Stattdessen reiht er hübsch kadrierte grün- und gelbstichige Bildchen im Academy Ratio aneinander und präsentiert mechanische Figuren in mechanischer Umgebung und vorbildlicher Ausstattung. Im Finale auf einem Riesenrad gelingen ihm ein paar prägnante Momente. Für diese muss man allerdings 132 sehr zähe Minuten über sich ergehen lassen. Für mich zumindest hat sich die Mühe nicht wirklich gelohnt.

The Last Viking / Den sidste viking von Anders Thomas Jensen (Außer Konkurrenz) mischt wild Familiendrama, blutigen Splatter und absurde Komödie ineinander. Die Geschichte eines ungleichen Brüderpaars, das nach einem missglückten Raub wieder zueinander finden muss, ist etwas zu sehr vom Drehbuch her gedacht und nicht immer geschmackssicher. Durch Themenwahl, sprunghafte Tonalität und aus den Angeln gehobene Erzählweise wirkt der Film allerdings jederzeit frisch. Auf der Soundtrack-Ebene droht er uns mit Jazz und den Beatles, landet aber letztlich bei ABBA. Da sage ich nicht Nein.
To be continued…
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