Locarno 2022: Unbekannte Territorien

Zu den wichtigen Unternehmungen des Festivals von Locarno gehört, das Kino entlegener Regionen und unterbelichteter Stilrichtungen zu fördern. Dazu gehört auch ein deutscher Film im Wettbewerb.

Morgens ein Film aus der klassischen Periode des Hollywoodkinos, nachmittags ein tastender, suchender, experimentierender Film aus Malaysia: Auch unter der künstlerischen Leitung von Giona Nazzaro ist das Festival von Locarno ein Hafen für eine breite, eklektische Mischung aus Filmen und Kinematografien. Die Retrospektive bildet oft den größten Kontrast, gerade in diesem Jahr, wenn ein Großteil der älteren Filme reich an ökonomischem Storytelling und großen, expressiven Gefühlen sind. Genau diese Abwechslung zwischen den Melodramen und Lustspielen von Douglas Sirk (und seinen früheren Filmen als Detlef Sierck) und den neuesten Werken oftmals junger Filmemacher*innen macht einen großen Reiz des Festivals aus.

Offen für das Unsubtile

Die Rhythmen, aber auch die Referenzen der unterschiedlichen Filme liegen weit auseinander, gerade das macht es so spannend, in sie einzutauchen. Stone Turtle legt zu Beginn eine falsche Fährte. Der malaysisch-indonesisch-philippinische Film von Ming Jin Woo zeigt eine Frau, die versucht, ein Mädchen für die Schule zu registrieren, aber beiden fehlen die dafür notwendigen Papiere und Nachweise. Nebenbei erwähnen sie ihren Aufenthaltsort, die titelgebende Insel, die als Habitat für die seltene Lederschildkröte bekannt ist. Kurz darauf erscheint auf der menschenleeren Insel ein Besucher, ein Mann, der angeblich Schildkröten erforscht. Der Verdacht liegt nah, dass hier jemand den Frauen auf der Insel schaden will, und dass der Film ein Sozialdrama ist. Beides entpuppt sich spätestens mit der ersten überraschenden Wendung als falsch.

Stone Turtle ist ein Film, der anders aussieht, sich auch anders anfühlt als die akademischen, ernsten, formalistischen Werke, die europäische Filmfestivals oftmals aus Südostasien auswählen. Und obwohl Ming Jin Woo Genrefilmbezüge einwebt, entspricht der Film auch nicht dem zweiten großen Strang asiatischer Exporterfolge: den früher von Hongkong, heute von Südkorea angeführten Action- und Science-Fiction-Reißern. Sehr eigenständig und verspielt kommt sein Film daher, offen für das Unsubtile, aber auch für die emotionale Nuance. Was ihn mit einem weiteren Höhepunkt im Programm verbindet, dem thailändischen Beitrag Arnold Is a Model Student (Arnon pen nakrian tuayang).

Sorayos Prapapans Spielfilmdebüt verbindet zwei Erzählstränge, ohne sie zusammenzuführen: Von seiner Schule, allen voran dessen Rektor, wird Arnold gefeiert, weil er an der Mathe-Olympiade teilgenommen hat und gute Werbung für die Schule macht. Weswegen er auch von Bee angeworben wird, Teil eines illegalen Netzwerks zu werden, das schlechteren Schülern hilft, bei Aufnahmeprüfungen zu schummeln. Während Arnold ans Geld denkt, formiert sich an seiner Schule Widerstand gegen die korrupte und autoritäre Institution Schule, ausgelöst von einer Lehrerin, die Schüler mit Stockschlägen bestraft hat. Inspiriert von einer tatsächlichen Protestbewegung in Thailand, ist der Film nicht nur überraschend kritisch gegenüber dem autoritären Staat, sondern prinzipiell unversöhnlich. Seinen sympathisch antiautoritären Protagonisten Arnold, der seine Verdienste auszunutzen weiß, um sich an keine Regeln der Schule zu halten, lässt er just nicht zum Unterstützer der Protestbewegung werden.

Konzepte auf 16mm

Aus Costa Rica, das zu den Ländern gehört, die das große Förderprogramm des Festivals Open Doors seit letztem Jahr unterstützt, läuft ein unheimlich intensiver Film im Wettbewerb: Tengo sueños eléctricos von Valentina Maurel. Als Familiendrama betritt er ein Terrain, das vielfach ausgeleuchtet wird: Ein pubertierendes Mädchen will nach der Trennung der Eltern lieber zum Vater, der weder Geld noch Bleibe hat. Die Beziehung zur Mutter, die gerade geerbt hat und damit ihre vier Wände renoviert, ist angespannt. Das Coming of Age wird sehr konsequent aus der Perspektive des Mädchens erzählt, samt allen Versuchungen und Verstrickungen, die in dem Alter naheliegend sind. Mit einer bewegten und bewegenden Handkamera stürzt uns der Film in die wechselhafte Gefühlslage der Protagonistin und antizipiert die Dramen, die sich abzeichnen. Besonders schön ist, wie sich dabei die unterschiedlichen Ebenen der Konflikte (Geld, Status, Poesie, Erotik) gegenseitig durchdringen und bedingen.

Ein international wie auch national wenig erkundetes Kino hält ausgerechnet ein deutscher Beitrag in Locarno bereit: Mit Piaffe von Ann Oren läuft ein experimenteller Spielfilm im internationalen Wettbewerb, der eher der Kunst- als der Filmwelt entspringt. Die in Israel geborene Regisseurin macht das formal, aber auch narrativ schnell kenntlich: Eine Frau muss einspringen, weil ihre Schwester in einer psychiatrischen Anstalt gelandet ist. Sie beginnt mit großer Mühe, für einen Werbeclip die Geräusche herzustellen und ein Pferd nachzuvertonen, woraufhin ihr ein Pferdeschwanz am Rücken wächst. Eine wilde Geschichte entspinnt sich in gemächlichem Rhythmus, wirft Fragen nach Geschlechterbeziehungen und Filmproduktion auf, mit einer Ernsthaftigkeit, die die Absurdität noch verstärkt. Ein Film, der komplett deplatziert im Wettbewerb von Locarno wirkt, weil seine Idee von Kino primär konzeptuell ist und Sinnlichkeit nur behauptet, was den obligatorischen 16mm-Bildern auch mal gut tut.

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