Locarno 2019 – Ziviler Widerstand bleibt Pflichtprogramm
In der zweiten Runde aus Locarno wird’s politisch: Terror in einem fiktiven Militärstaat, Gentrifizierungsnöte in San Francisco, Pariser Vorstadtkinder, die Wahlplakate kleben. Nebenan veranstaltet die Schweizer FDP ihren eigenen Filmwettbewerb.
In meinem Hotel in Locarno bekomme ich jeden Morgen meinen Kaffee mit einem Zuckerpäckchen serviert. Die Zuckerpäckchen sind Werbeartikel von I Liberali Radicali, so der italienische Name der Schweizer FDP. Zwei Sorten gibt es: mit dem Bild des Kandidaten Nummer 31 und des Kandidaten Nummer 50, beide im Rennen für den Großen Rat, das Kantonsparlament. Die Kandidaten sind süß – so einfach und so wirksam ist die Strategie dieser Wahlkampagne. Das Logo von I Liberali Radicali besteht aus einer brennenden Fackel, was mir politisch eher links vorkommt. Ich werde neugierig und erfahre, dass die Partei aktuell (parallel zum Locarno Film Festival, genial!) einen eigenen Filmwettbewerb veranstaltet. Die Vorgaben: ein kurzes Selfie-Video, klassisch im Querformat, in dem man sagen soll, wie man „die Schweiz, unsere Heimat, weiterbringen“ möchte. Der Preis: freie Kinokarten, und zwar ausgerechnet für Vice. Herrlich ausgesucht, denke ich mir, da der Film von Adam McKay vom Werdegang eines Politikers erzählt, für dessen spektakuläre Karriere Opportunismus und dreckige Spielchen ungefähr so verpflichtend waren wie Käse für Pizza.
Flucht ist keine Option

Rabah Ameur-Zaïmeche glaubt nicht an die Berufspolitik. Sein neuer Film Terminal Sud handelt vom totalen Staatsversagen, von Menschen, die Gesetzlosigkeit ausgesetzt sind und sehen müssen, wie sie in einem Klima des täglichen Terrors ihre Würde bewahren. Wo spielt der Film? In einem Land, in dem als Polizei getarnte schwerbewaffnete Männer unschuldige Passanten ausrauben und verschleppen. In dem es ein Krankenhaus gibt, wo den Umständen entsprechend viel Betrieb herrscht. Wo ein Arzt beschäftigt ist, der Verwundeten dauernd Kugeln aus dem Bauch zieht und nach Feierabend viel Whisky trinkt. Ein Arzt, der seiner Pflicht nachzugehen versucht und deswegen die Guten und die Bösen mit gleicher Sorgfalt behandelt. Die Bösen halten ihm Gewehre an den Kopf, die Guten reichen ihm in Person des von Jacques Nolot gespielten directeur die Kündigung. Dann folgt ein Rendezvous mit dem „echten“ Militär, Folter und Verhör inklusive.
Wo dieses Land liegt, ist nicht auszumachen. Gedreht wurde der Film im südfranzösischen Nîmes und in Griechenland, aufgrund der algerischen Herkunft des Regisseurs denke ich an Nordafrika, aber eigentlich könnte es überall sein. Diese Verschiebung erinnert an Christian Petzolds Transit (2018), mit dem Unterschied, dass in Terminal Sud etwas Unpräzises an einem ebenso unpräzisen Ort geschieht. Diese Ungebundenheit hat auch ihre Wirkung, stellenweise kommt mir der Film dennoch etwas zu abstrakt vor. Ich vermisse die klare Verortung, die Zähheit, diese gute Verbissenheit, die zum Beispiel Dernier Maquis (2008) von Ameur-Zaïmeche so stark gemacht hat. Was aber sehr wohl da ist, ist die aufrechte Haltung. Flucht ist keine Option, darum bleibt ziviler Widerstand in den Filmen des Regisseurs weiterhin Pflichtprogramm. Terminal Sud wird den Pardo d’oro vermutlich nicht bekommen, aber ich sage trotzdem: Rabah Ameur-Zaïmeche, definitiv mein Kandidat.
Joe und Jimmie können einziehen

Über Joe Talbot gibt es bis zum heutigen Tag (Stand: 13. August 2019) nicht einmal einen kurzen Wikipedia-Beitrag. Besser ist es um seinen ersten Langfilm bestellt, zum Glück. The Last Black Man in San Francisco ist ein vielversprechendes Debüt eines, so die eigene Auskunft, high school dropout und seines Kindheitsfreundes, Jimmie Fails, der das Drehbuch verfasste und die Hauptrolle übernahm. Toll, dass im Wettbewerb von Locarno die Premierenregelung nicht gilt, wie das etwa bei der Berlinale der Fall ist. Wäre dem nicht so, müsste das Festival ohne diesen Sundance-Preisträger auf einiges verzichten.
Joe und Jimmie sind also beide im San Francisco groß geworden, die Gentrifizierungsproblematik liegt ihnen sehr am Herzen. Die Botschaft des Films ist eindeutig politisch, seine Bilder, sein Ton und Rhythmus sind nostalgisch-verträumt. The Last Black Man in San Francisco ist eine Ode an die Stadt und ihre ikonischen Hügel im Sonnenuntergang, an Kunstschaffende und Freaks, für die es hier wie in anderen Metropolen der Welt zunehmend enger wird. Eine Ode an die viktorianischen Häuser der guten Gegenden sowie an die hohen Gräser und schiefen Zäune der abgerockten black neighborhoods. Im Zentrum des Films steht ein wunderschönes altes Haus und die Freundschaft zweier junger Männer, die für die Innenstadt zu arm, für das heimische Viertel Hunters Point aber zu unmännlich, intellektuell und einfach nur zu seltsam sind. Zwischen diesen beiden Polen sind sie mit dem Skateboard unterwegs, denn „der Bus kommt schon wieder nicht, spring auf, wir fahren zusammen“. Das Bild von diesen zweien auf einem Brett behalte ich gern in Erinnerung. The Last Black Man in San Francisco ist mit wunderschönen Dingen vollgepackt – ich meine, Joe und Jimmie können einziehen.
Auch in Pariser Vororten blüht das Kino. Bei der letzten Berlinale war es Our Defeats (Nos défaites) von Jean-Gabriel Périot, im Jahr davor Premières solitudes von Claire Simon – beide Filme entstanden als Mischformen des Dokumentarischen und Fiktionalen in der Gemeinschaftsarbeit mit Schülerinnen und Schülern eines Gymnasiums von Ivry-sur-Seine. In dieser Tradition, fundiert mit Rouch und Rancière, steht auch Éric Baudelaires Un film dramatique, der zusammen mit Kindern aus Seine-Saint-Denis innerhalb von vier Jahren realisiert wurde. Das Aufwachsen ist überhaupt das Berührendste, was man im Kino zeigen kann.
For a beautiful feel keep it real

„Okay, wir machen einen Film“, sagen die Kinder am Anfang leichtsinnig. Nur, wie und was soll er werden? Dramatique, fantastique, eine Komödie? Mit reichlich Zooms und in chaotischer Kameraführung betrachten sie die vertraute Umgebung, bistro, métro, ein Supermarkt, ihre Schule, ihre Cornflakes zum Frühstück. Zunehmend kommen in gefilmten Tagebüchern auch Gefühle und Ängste zur Sprache sowie die heiklen Fragen von Rasse, Klasse, Nation. Wie die Kinder ins Filmen kommen, kommen sie auch langsam ins Denken. Dass ein Film auch sich selbst in elementaren Begriffen derart treffend hinterfragen kann, kommt selten vor. Un film dramatique, diese Spielwiese von einem Film, hat mir in Locarno bisher am meisten Spaß gemacht. Claire Atherton, die die meisten Werke von Chantal Akerman geschnitten hat und hier dieses Jahr mit dem Vision Award Ticinomoda ausgezeichnet wurde, ist für die Montage zuständig.
Übrigens, auch Un film dramatique hatte seine Kandidatinnen und Kandidaten. Neben die Plakate von Macron, Mélenchon, Le Pen und anderen kleben die Kinder in einer Szene ihre eigenen, versehen mit Porträts und Slogans. „Pour une vie plus belle, allons vers le réel“, „For a beautiful feel keep it real“, steht darauf zum Beispiel. Oder auch: „Le son synchronisé s’est nul!“, „Synchronized sound sucks!”
Hier geht es zu Teil 1 und Teil 3 unserer Locarno-Berichterstattung
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