Locarno 2019 – Prädikat: besonders beflügelnd

In Locarno sind die ersten Filme so sexy und schick wie die Leopardenmuster auf den Absperrbändern der Stadt. Notizen vom Festival, mit neuen Werken von Koji Fukada, Ulrich Köhler und Henner Winckler – und dauererregten Figuren im Regiedebüt von Nadège Trebal.

Das tiefe runde „o“, die stimmhaften luminösen „l“ und „n“, und in der Mitte klingt das harmonisch relaxte „ca“ wie ein Platznehmen im bequemen Kinosessel. Locarno! Diese Stadt rollt so schön von der Zunge, ich spreche sie immer wieder gern in mich hinein. In Locarno tragen Polizisten Cowboyhüte, die hier und dort gespannten Absperrbänder sind mit Leopardenmuster bedruckt. Den Leopardenprint kann man ja ohnehin nicht oft genug loben. Er harmoniert mit Basics, schummelt, als Kleid getragen, die Kurven hin, wo keine sind. Die unerwünschten Kurven zaubert er genauso gut weg. Sexy und schick, aber auch wild und rebellisch – das Leopardenmuster ist besonders, weil es stets ambigue und vieldeutig bleibt.

Heldin in drei Varianten

Vieldeutig ist auch die Figur im ersten Film, den ich mir in Locarno anschaue. Vor der Premiere sagt der Regisseur Koji Fukada, die Pluralität jedes einzelnen Menschen lasse sich niemals auf einen Blick erfassen. Deswegen gibt es in Yokogao (A Girl Missing) die weibliche Heldin Ichiko gleich in mehreren Ausführungen. Variante Nummer eins: als verdächtig selbstlose Krankenschwester, gekleidet in beige und pastell, mit mittellangen Haaren, die sie bescheiden nach hinten gebunden trägt. Variante Nummer zwei: arbeitslos und vor aller Welt verstoßen, dafür mit einem modischen Bob-Schnitt im helleren Braunton, kunstbewandert und mit schicken Mänteln, auf Absatzschuhen und auf Verführung aus. Variante Nummer drei: wie eben, aber verzweifelt und zusammengebrochen, in die Nacht bellend, draußen auf einem Spielplatz auf allen vieren kriechend. Auf Wiedersehen, liebe Krankenschwester – hallo, „terror nurse“. Zwischendurch sind Ichikos Haare grün gefärbt, während sie einen vernebelten See betritt, wie das Mädchen am Anfang der Krimiserie Top of the Lake.

An der durcheinander geratenen Abfolge dieser Zustände ist eine junge Frau schuld. Dieser Frau gilt die Racheaktion, die in der Verführung ihres Boyfriends besteht, der – wie sich nach getaner Sache herausstellt – gar nicht mehr ihr Boyfriend ist. Und selbst wenn er es wäre: Die andere hat die ganze Zeit nur Ichiko geliebt. Deswegen läuft die Rache ins Leere. Bei Yokogao musste ich an Burning von Lee Chang-dong denken. So toll, subtil und fein geschliffen ist Fukadas Film lange nicht, aber auch er versteht es, zugleich zu viel und zu wenig zu erzählen, Hinweise großzügig zu streuen, sich ohne Skrupel zu wiederholen, dabei nur lose Enden baumeln zu lassen, verwirrt und verwirrend zu sein und doch nur auf das eine hinaus zu wollen. Mein erster Locarno-Film hat mich 111 Minuten in der Schwebe gehalten.

Die Familie aus der Sicht des Autos

Mit Das freiwillige Jahr von Ulrich Köhler und Henner Winckler ging die Zeit in Fevi, einer großen, zum Kino umfunktionierten Mehrzweckhalle, noch schneller herum. Mit dem Schaffen von Henner Winckler bin ich leider noch nicht vertraut. Was ich von Ulrich Köhler kenne, finde ich in dem gemeinsamen Film wieder. Semi-sympathische Figuren, bei denen man sich fragt, wie weit sie gehen werden und wie weit sie bereits gegangen sind, wie tief das ist, was in ihnen gegen sie arbeitet. Um Paul aus Bungalow und Doktor Velten aus Schlafkrankheit habe ich mir damals Sorgen gemacht.

Nach der Premiere viel verdienter Applaus, beim Q&A erzählen die beiden, dass sie eine Vater-Tochter-Beziehung aus der Sicht eines Autos erzählen wollten. Dieses Auto, ein praktischer Minibus, wird zum Vehikel einer Geschichte mit hohem Wiedererkennungswert, dynamisch und konkret, bitter und komisch, ausbuchstabiert und mit Nachdruck erzählt. Das Zuhause ist statistisch gesehen der gefährlichste aller möglichen Orte. Die eigene Familie ist die heimtückischste Bedrohung, weil in ihr stets unter der Tarnung der guten Absichten agiert wird. Vater Urs will der Tochter Jette natürlich Freiraum geben, sie soll selbst entscheiden, ob das freiwillige Jahr in Costa Rica gerade ihr wirklicher Wunsch ist. Die Entscheidung muss dann aber bitte auch richtig ausfallen. Später im Film werden Urs und Jette wieder einmal miteinander streiten, werden laut und handgreiflich. Für Passanten sieht die Szene eindeutig nach einem Überfall aus. Zwei Männer stürzen auf den Vater, pressen sein Gesicht ins Herbstlaub. Als die Sache nach dieser kurzen Eskalation aufgeklärt wird, bedankt Urs sich höflich für die Zivilcourage. Die Familie ist ein Ort der zwanghaften Wiederholungen. Urs hat auch diesmal nichts begriffen, Jette muss weiter rebellieren – da wird der Familienbus noch einiges über sich ergehen lassen.

Protestkultur der Liebe

Douze Mille ist das Spielfilmdebüt der Drehbuchautorin Nadège Trebal, und schon bin ich Fan. Ein Tanzfilm wie Tanzfilme eben sind, ein Sexfilm (Subgenre: look but don't touch, Erregungsfaktor: sehr hoch), ein Diskursfilm, in dem zwar viel geredet, aber nicht lange gefackelt wird. Und dann noch ein echter Liebesfilm mit gutem Ausgang.

Zwischen Frank und Maroussia stimmt die Chemie eindeutig. Was nicht stimmt, ist das Geld. Frank muss 12.000 Euro verdienen, douze mille, denn so viel verdient Maroussia, nicht mehr und nicht weniger. Um das Geld zu beschaffen, verlässt Frank das gemeinsame Zuhause, ihr aufregendes Sexleben bleibt so lange auf Standby. Doch der ehrliche Job, den er anzutreten meint, wird plötzlich gestrichen. Frank, der eine wunderbar erfinderische Tricksterfigur ist, beginnt also mit dem Verticken von ägyptischen Marlboros, um deren Preis er in fließendem Filipino mit Matrosen feilscht. Damit sind wir und Frank bereits auf transnationaler Ebene angelangt. Der echte Anschluss an den globalen Cashflow folgt später in Form von geplünderten Cargo-Containern (Inhalt: Kaugummis, Dekoartikel, Billigzeug, vermutlich aus China). Die Scheine rascheln, die Figuren sind dauererregt. „Mixing emotions and feelings“, das kultiviert Douze Mille als die größte Maxime. Gegen das System arbeiten, gegen das System lieben. So gesehen führt der Film eine ungewöhnliche Protestkultur vor. Prädikat: besonders beflügelnd.

Hier geht es zu Teil 2 und Teil 3 unserer Locarno-Berichterstattung

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