Locarno 2019 – Harter Schnitt zwischen den Klassen

Bei Virgil Vernier verspritzen junge Erben in einer Villa Champagner. Bei Pedro Costa sind die Bewohner eines Armenviertels mehr dem Off als dem Sichtbaren verbunden: Sein mit dem Hauptpreis ausgezeichneter Vitalina Varela ist einer der dunkelsten und traurigsten Filme, die je gedreht wurden.

Eine halbe Stunde vor meiner Abreise aus Locarno löse ich endlich den mir samt Akkreditierung ausgehändigten Champagner-Gutschein ein – in einer Zeltbar, die direkt hinter der riesigen Kinoleinwand auf der Piazza Grande aufgebaut wurde. Und während ich meinen Champagner trinke, muss ich unweigerlich an Sapphire Crystal von Virgil Vernier denken. Der Kurzfilm lief in der Sektion Fuori concorso und schickte mich auf eine Reise, die mir sehr weit und exotisch vorkam. Sie führte in die Schweizer Stadt Genf und dort in einen Nachtclub und anschließend in eine schicke, große Neubauvilla, die einem der jungen Protagonisten gehörte. Ich bin mir nicht ganz sicher, ob das stimmt, aber es sieht aus, als hätten reiche Erben, echte Bankierssöhne und -töchter, young money mit Anfang zwanzig, Vernier einen Einblick in ihr Leben gewährt. So feiert man bei uns, bienvenue à Genève! Denn keine Grenzkontrollen sind meist so schwer und so folgenreich zu passieren wie die Klassenschranken. Geschichten über Milieubrüche sind faszinierend und besonders dramatisch.

The ones we spray champagne on

Die Menschen im Verniers Film fassen den Distinktionsbegriff vom ihren Ende der sozialen Leiter aus folgendermaßen zusammen: Wir sind diejenigen, die teuren Champagner flaschenweise in der Gegend verspritzen. Die Nicht-Reichen, also die Anderen, sind logischerweise „the ones we spray champagne on“. Nichts für ungut, Verschwendung ist der bessere Konsum. In Sapphire Crystal wird viel getrunken, mit galaktischen Ausgaben für presidential suites geprotzt, werden ambitionierte Zukunftspläne ausgebreitet. Man zieht Kokain-Lines, das Zeug sei echt gut, pures Gold. In meiner Lieblingsszene am Schluss unternehmen die Figuren einen nächtlichen Spaziergang entlang des Genfer Sees und verweilen am Reformationsdenkmal. „Those are bills, not books!“, Geldscheine seien es, keine Bücher, die Calvin in den Steinhänden halte. Sapphire Crystal hat mir in der kurzen Dauer viel Stoff zum Nachdenken mitgegeben. Echt schade, dass ich seinen Sophia Antipolis (2018) bei der letzten Woche der Kritik verpasst habe.

Auch Pedro Costa befasst sich schon lange auf seine Art mit Ressourcenverteilung an der Schnittstelle zwischen Fiktion und Dokumentarischem. Und dennoch ist der Übergang zu Vitalina Varela, seinem neuen Film, an dieser Stelle der denkbar härteste Schnitt. Vor ein paar Jahren bezeichnete er in einem Interview die eigene Arbeitsweise in etwa als Kampf gegen Maßlosigkeit und Inflation. Gemeint waren Geld, Bilder, Spezialeffekte – im Hinblick auf Figuren und die bespielte Topografie ist Costas Erzählwelt äußerst hermetisch, auch auf seinen ästhetischen Purismus trifft das Resümee sehr gut zu. Figuren bringen darin ihre eigenen Geschichten zur Aufführung und verlassen seine Filme, einmal in sie hineingefunden, so schnell nicht wieder. Vitalina Varela trat zum ersten Mal in Cavalo Dinheiro (2014) auf. Zu Beginn des Films, der nach ihr benannt ist, betritt sie den portugiesischen Boden noch einmal mit nackten Füßen.

Nothing left for you here

Pedro Costa hat vor etwa zwanzig Jahren zu sich gefunden. Das geschah am einem bestimmten Ort, den es heute nicht mehr gibt, im Armenviertel Fontainhas am Rande von Lissabon. Das Viertel war von kapverdischen Migranten und einer weißen Minderheit bewohnt. Wie sie dort gelebt haben, wie sie gesprochen und sich gegenseitig angeschwiegen, wie sie auf Betten gelegen und krumm auf schiefen Hockern gesessen, wie sie Drogen genommen, Karten gespielt und in den Flecken auf rauen nassen Wänden gelesen haben – das hat Costa seitdem in seinen Filmen festgehalten. Vandas Hustenanfälle, immer lief im Hintergrund ein Fernseher, dann der Abriss und der Umzug in die Neubausiedlung, Venturas Hände zitterten, er stand in einem schneidend weißen Zimmer, wirkte zu groß und zu erhaben für die neue Behausung und verlangte nach mehr Wohnraum – für Frau und Kinder, die es nicht gab. Untote, die nichts mehr am Leben hält, sind Costas Figuren, „Nothing left for you here“, bekommt auch Vitalina Varela nach ihrer Ankunft immer wieder zu hören.

I keep hitting my head on this shitty doors

Sie ist von den Kapverden angereist, drei Tage nachdem ihr Mann, die Liebe ihres Lebens, in Lissabon gestorben ist. Wie gern wäre sie viel früher gekommen, aber die Einladung kam nie. Der Mann selbst besuchte sie, so erfahren wir hier, in all den Jahren nur ein einziges Mal. Vitalina Varela nimmt seinen Platz in der dürftigen Behausung ein, sieht den blutigen Fleck auf dem Bett, die Frauenfotos, die leeren Flaschen auf dem Boden. Seine Freunde kommen vorbei, stehen da, drücken sich an die Wände wie schwarze Schatten, wie alle Figuren sich in diesem Film an die Wände drücken und dort verharren, sich nur an den Wänden entlang bewegen, dem Off mehr als dem Sichtbaren verbunden. Vitalina Varela sitzt vor einem Spiegel, schwarzes Tuch auf dem Kopf, Ohrringe, schwarzes Lederjackett – eine kapverdische Antwort auf Vermeer, die keine Widerworte erlaubt. Ihr furioses Gesicht ragt aus dem Halbdunkel wie ein Vorwurf heraus, wie eine Frage. Auf den Kapverden gebe es ein gutes Haus, zehn Zimmer, eine große Küche, einen ordentlichen Wassertank. Hier in Lissabon fällt ihr die Decke auf den Kopf, „I keep hitting my head on this shitty doors“. Geschichten über Migration handeln oft von Scham und Versagen, das könnte eine mögliche Antwort auf die Frage sein, warum ihr Mann in der unwirtlichen Fremde geblieben ist, wie viele andere. Stattdessen gab es Liebesbriefe in die entfernte Heimat. Eigentlich war es immer ein und derselbe Brief, ihr erinnert euch, man schrieb an ihm weiter, er gehörte allen und wurde doch niemals abgeschickt.

Vitalina Varela ist die Fortsetzung der Geschichte, die damals in Fontainhas angefangen hat und die Jahrhunderte zurückreicht. Für Pedro Costa ist sie noch nicht auserzählt. Seine Tableaus sind auf eine ergreifende, barocke Art wunderschön und wirken nie arrangiert, obwohl sie es in Wirklichkeit natürlich sind. Stattdessen, und vielleicht noch intensiver als in den Filmen zuvor, wirken sie hart erarbeitet, erlitten, man merkt die Konzentration, die gemeinsame Zeit und was auch alles noch an Erfahrungen geteilt werden musste, um einem Arbeitsethos wie diesem standzuhalten. Nicht nur im Hinblick auf die Gestaltung, auch auf die Art des Filmemachens stellt dieser Film ein weiteres Chiaroscuro-Jenseits dar. Vitalina Varela ist einer der dunkelsten und traurigsten Filme, die je gedreht wurden. Dazu kann man einen eigenen Zugang suchen und finden, oder auch suchen und nicht finden. Vielleicht auch nichts vom beiden. Alles liegt auf der Hand und ist doch unergründlich. Mehr gibt es dazu eigentlich nicht zu sagen.

Hier geht es zu Teil 1 und Teil 2 unserer Locarno-Berichterstattung

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