Locarno 2015: Sehtagebuch (3)

Wenn das Grinsen einfach nicht vergehen will und der Schmerz doch unendlich ist. Über die (zu) vielen Facetten männlichen Leidens.

Pat Garrett jagt Billy the Kid

Kein Mann ist mit so großer Anmut dem Verderben geweiht wie Kris Kristoffersons Billy in Sam Peckinpahs Pat Garrett jagt Billy the Kid (Pat Garret & Billy the Kid, 1973). Einer von vielen Gründen, warum die herzzerreißende Melancholie in den Spät-Western des amerikanischen Regisseurs so stark nachhallt, ist die weiche Kraft, die von den Darstellern ausgeht. Sanft blickt Peckinpah auf seine Helden, als wolle er sie mit der Kamera noch einmal streicheln, bevor sie sterben müssen. Die Faszination für diese Männer rührt auch daher, dass sie wissen, wie man am schönsten leidet, nämlich dem Leben mit vollem Elan zugewandt.

Leiden als Stilübung

James White

Vielleicht ist das ein Schlüssel, um mit Peckinpah auf neuere Filme beim Festival von Locarno zu blicken. Denn – ob im amerikanischen Indie James White oder in Alex von Warmerdams Schneider vs. Bax – das Leiden in heutigen Filmen ist zu oft einfach nur eine Qual. Und gelitten wird, noch und nöcher. Bei James White gilt das nicht nur für den männlichen Protagonisten, sondern auch für seine Mutter. Doch während ihr Leiden ein klar artikuliertes – und mit sichtbarer Mühe gespieltes – langsames Sterben ist, dem der körperliche und geistige Verfall vorausgeht, ist es bei ihm ein eher schwelendes Darben an der Welt, das mit Exzessen und Rückzügen einhergeht, die ihren filmischen Reiz durchaus haben. Weil Regisseur Josh Mond seiner Hauptfigur aber unentwegt auf die Pelle rückt, isoliert er ihn gleichzeitig, ob er es will oder nicht. So entsteht im positiven Sinn ein klaustrophobisches Bild von New York, nur scheint diese Abschottung vom Außen auch daher zu rühren, dass nicht nur die Figur, sondern der Film selbst tatsächlich kein produktives oder kreatives Verhältnis zur Welt kennt. Das Andocken an das Leid seines Protagonisten wirkt bei Mond dann doch eher wie ein Stilübung.

Schneider vs Bax

Schneider vs. Bax ist eine Suspense-Komödie, die im Gegensatz etwa zu Warmerdams Vorgänger Borgman stärker von Genrestrukturen und weniger von psychologischer Spannung zehrt. Zwei Männer begegnen sich darin als Gegner, die über ihre Konfrontation mit sich selbst klarkommen müssen. Der eine ist als Killer auf den anderen angesetzt, doch es läuft alles schief, was schieflaufen kann und wird Station um Station absurder. Der Suspense gerät darüber immer mehr ins Hintertreffen, dafür gewinnt der Gejagte an Kontur. Womit wir wieder beim männlichen Leid angekommen wären. Das ist zwar eines, das sich durchaus hinter einem Lächeln – und hinter jeder Menge Drogen – zu verstecken weiß, das aber stets auf zwei etwas langweilige Fluchtpunkte ausgerichtet bleibt: den der dramaturgischen Funktion und den des mäßigen Witzes über einen charakteristischen Loser.

Wahrheit, Poesie, Sex

Dom Juan

Interessanter, weil lebendiger, ist die Aufladung der Figur von Dom Juan mit dem unstillbaren Verlangen nach Eroberung von Frauen am laufenden Band. Weil der Protagonist seine Sucht als Perspektive zur Welt versteht, bei der es gleichermaßen um Wahrheit, Poesie und Sex geht, darf es, nein, muss es knallen. Der Schauspieler Vincent Macaigne hat den Film mit der Comédie Française unter offenbar recht starken Vorgaben umgesetzt (u.a. waren Besetzung und Texttreue vorgegeben), die er in vielen Szenen auf genuin filmische Akzente (insbesondere mit einer schönen Lasershow bei einer kleinen Party-Orgien-Szene zu Beginn) zuführt. Und auch hier wieder steht dem Protagonisten, der in vollem Bewusstsein den süßen Abgrund des Exzesses sucht, ein breites Lächeln ins Gesicht geschrieben. Doch es ist nicht auszumachen: Ist sein Leid nur eines, das vom Papier ins Theater ins Kino kam? Oder muss er, was er muss, wirklich? Es bebt nicht immer, wenn es beben müsste.

Eruptionen mit Emphase

The Cross of Iron

Schöner ist es freilich, wenn es auch dann noch bebt, wenn es gar nicht beben müsste. Wenn die Erschütterung eine permanente Versicherung des eigenen Daseins ist, das keine Kenntnis mehr von einem anderen Verhältnis zur Umwelt hat als die unablässige Aktion. Man muss nur einen Moment lang den Protagonisten in Peckinpahs Steiner – Das eiserne Kreuz (The Cross of Iron, 1977) zusehen, um zu verstehen, was möglich ist, wenn eine solche Verengung der Möglichkeiten im Film gelebt wird. Weil die Verengung wie bei verstopften Arterien Eruptionen bedingt, weil notgedrungen irgendwann der Druck abgelassen werden muss. Dieser Film, der die Reichhaltigkeit männlichen Leidens wie vielleicht kein zweiter im Oeuvre von Peckinpah offenbart, ist ein völlig durchgeknallter Kriegsfilm, eine Koproduktion von Großbritannien und der DDR mit Nationalsozialisten in den Hauptrollen. Er ist einerseits satirisch angelegt, andererseits reiht er mit voller Emphase und ohne jede Scham Herzschmerz, Kampfszenen und sensible Kameradschaft aneinander.

James Coburn und Maximilian Schell stehen sich hier faktisch auf der gleichen Seite gegenüber, doch es trennen sie Welten. Während Coburn als Steiner Todestrieb und Kampfgeist in sich vereint, aber auch völlige Desillusion proaktiv lebt, gibt Schell Stransky, einen opportunistischen Kommandeur, der die Schwächen bei anderen sucht, um die eigenen vor sich selbst zu verstecken. Es ist ein von vornherein ungleiches Duell, das in einer grandiosen Schlussszene mündet, bei dem die beiden gemeinsam in einen Kampf ziehen, der zumindest für einen kurzen Augenblick all jene Lügen straft, die behaupten, dass Kriegsfilme per se keine Antikriegsfilme sein können.

Wenn das Lächeln den Helden von Peckinpah nicht vergeht, dann weil sie wissen, dass ihr Bewusstsein für das irdische Leid doch auch der größte Segen sein kann. Das Leben gehört denen, die es bewusst zur Eruption führen, ob sie anders könnten, oder gerade nicht.

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