Llorando: David Lynch, 1946–2025
Im Internet gewesen, geweint. In Momenten wie nach dem Tod eines verehrten Künstlers, werden die sonst so gescholtenen Social-Media-Timelines zur tröstenden Trauergemeinschaft. Erinnerungen an David Lynch, die eigenen und die der anderen.

Zum Glück bin ich noch auf X, ist einer meiner ersten Gedanken, als ich den Tod von David Lynch begreife, so bin ich heute Nacht wenigstens nicht allein. Unheil mögen die sozialen Medien genügend anrichten, aber in solchen Momenten spenden sie den Trost und die Gemeinschaft, die nirgends sonst möglich ist. Während mein BlueSky noch viel zu deutsch und gut gemeint ist, ist auf meine Twitter-Timeline Verlass. Acht von zehn Posts beziehen sich in dieser Nacht auf Lynch, so war's das letzte Mal, als Bowie starb, bemerken gleich einige. Im Sessel sitzend scrollen, das ist wie der Gang durch eine spontan zusammengekommene Trauerfeier, zu der ich einfach dazustoße, um meine Betroffenheit mit denen teilen zu können, denen der Verstorbene so viel bedeutet hat wie mir, und die sich ihres Pathos nicht schämen. Heute verstehen mich nur Fremde.
The Festival of Disruption

Natürlich sind es viele, und sie teilen Vieles: Filmausschnitte, Filmmusik, Fotos aus den Filmen, Fotos vom Set, Lynch-Zitate in Text und Bewegtbild, Anekdoten, Graffitis und Tattoos, Memes und ach so viele Erinnerungen, ach so viel Dankbarkeit. Eigentlich kann nur dieser wilde Mix, denke ich schon bald, diesem Menschen, diesen Filmen gerecht werden: eine Vielstimmigkeit, die kein noch so ausführlicher, gut strukturierter und elegant geschriebener Nachruf je ausdrücken könnte. "Everyone is saying 'I thought he would live forever' and it's so fucking true", schreibt Jeff Zhang.
Alle verbinden sie Persönliches mit David Lynch und seinen Filmen, und das tue ich natürlich auch. Ohne meine Begegnung mit Mulholland Drive – ich habe anderswo darüber geschrieben – hätte ich das Kino nicht entdeckt, wäre also ein schlechterer Mensch. 2018 war ich für einen Forschungsaufenthalt in Los Angeles, als eine dortige Freundin mich auf das „David Lynch Festival of Disruption“ hinwies, das an jenem Wochenende stattfand. Wir gingen hin, Lynch selbst blieb weg, und doch war er überall: von der schrägen Propaganda für seine transzendentale Meditation zu der rotsamtigen Dekoration des Foyers zu den künstlerischen Beiträgen im Saal: Konzerte, Spoken-Word-Performances, Reden. Lynchs Enkelin hielt ein wütendes feministisches Plädoyer, es war die Zeit der Kavanaugh-Hearings, und ein paar Schauspieler*innen waren gekommen, um über David zu sprechen und seine Herzlichkeit. Am Ende, als der Saal schon fast leer war, kehrte ich noch einmal zurück, und dann stand da Rebekkah del Rio zwischen ein paar Übriggebliebenen und sang spontan und a capella das "Llorando"-Lied aus Mulholland Drive – die spanische Fassung von Roy Orbisons „Crying“. Wie meine Twitter-Timeline in der heutigen Nacht war dieses Festival ein Lynch-Medley, das weniger einer Person, als einer Ästhetik und Ethik huldigte.
Mit dem Mond verbunden

Anekdoten und Zitate beim Scrollen: wie Lynch Naomi Watts nach einer besonders großartigen Szene am Set von Mulholland Drive begeistert applaudiert; wie Lynch sich an jene Episode aus dem Jahr 1981 erinnert, als er fünf Plüsch-Woody-Woodpeckers von der Straße rettete, sie Chucko, Buster, Pete, Bob und Dan nannte und ihnen ein Zuhause gab. (Selbst in dieser harmlosen Geschichte ist das Zuhause nicht ohne Gefahr zu denken: "They were my dear friends for a while but certain traits started coming out and they became not so nice", wird Lynch zitiert.) Ein alter TV-Ausschnitt, in dem Lynch erklärt, man glaube herausgefunden zu haben, "that the people who like Twin Peaks are party people". Lynchs Notizen an die Projektionist*innen, die Mulholland Drive im Kino zeigen, den Ton doch bitte um drei Dezibel aufzudrehen und über dem Bildkader ein wenig mehr Platz zu lassen als sonst, unterschrieben mit "Your Friend, David Lynch." Es geht hier nicht nur traurig zu, es wird auch gelacht und gelächelt.
Alte Tweets werden herausgesucht: „Dear Twitter Friends“, schreibt David am 12. April 2012, „I like to watch & count birds in the morning. I've made friends with a humming bird.“ Zwei Jahre zuvor kündigt er an, herausfinden zu wollen, ob er mit dem Mond verbunden ist, kurze Zeit später die Erleichterung: „I'm pretty sure I'm connected to the moon.“ Schließlich seine ebenfalls über die sozialen Medien verbreiteten Nachrichten über seine Isolation als Covid-Risikopatient und schließlich über sein Lungenemphysem. Selbst dort noch diese Lebensbejahung, keine Reue für die eigene Raucherei: „I wish what every addict wishes for: that what we love is good for us.“. Ein schwindelerregender Satz. „not sure if i should quit cigarettes in honor of david lynch or vow to never stop smoking cigarettes”, schreibt kathryn gigolo.

Auch der Tod in Lynchs Werk ist hier ein wiederkehrendes Thema. „I can’t think of another artist who seemed to grasp the meaning of death like Lynch”, schreibt Maddie. Nick Pinkerton hält vor allem Twin Peaks: The Return für ein „staggering work that's steeped in death – acceptance of death, rebellion against it“ und macht das vor allem fest an den herzzerreißenden Szenen mit Catherine E. Coulson, der berühmten Log Lady, die schon bei den Dreharbeiten zur Fortsetzung todkrank war, ihr Beatmungsgerät mit am Set und mit im Bild hatte, die die Fertigstellung der Serie nicht mehr erleben sollte, der Lynch aber mit ihren letzten Dialogsätzen einen Abschied von der Welt schenkte.
Laura Palmer vive

Die überwiegende Mehrheit der persönlichen Erinnerungen in meiner Timeline sind weiblich und/oder queer. „david lynch has been so important to me“, schreibt anna livia, „ever since I was a very sad teenage girl and twin peaks felt like a life raft that gave me a key to living in a world that felt cruel and confusing”. Bedenkenswertes tritt zu Tage: „In the same way elaine may understands men”, schreibt i hate you joe biden, „david lynch understood women.” Laura Palmer, jene junge Frau, die am Anfang von Twin Peaks tot aufgefunden wird und für deren Leben sich Lynchs Serie fortan ebenso interessiert wie für die Aufklärung ihres Mordes, taucht dabei besonders häufig auf. SIMONE schreibt: „Laura Palmer will always be the most important piece of David Lynch's legacy to me, because i will always see in her face the faces of women i know and have known who carry her pain with them, and in his kindness to Laura i see the kindness that so many have never received”. Ein Foto von einer Häuserwand, irgendwo auf der Welt: "Laura Palmer vive."
Der Account Audrey Horne: Day of Mourning schreibt: „david lynch made it possible … to feel in a way … that respected the stakes of joy and tragedy.” Ein Film, der mir in letzter Zeit am ehesten das Gefühl gegeben hat, dass etwas auf dem Spiel steht, dass die Dinge etwas bedeuten, dass sie mit mir und allen anderen zu tun haben, dass man sich die Dinge ruhig zu Herzen nehmen sollte, denn wohin auch sonst, war Jane Schoenbruns I Saw the TV Glow. Schoenbrun war auch eine*r der ersten, die heute in meiner Timeline auftauchten: "He was the first to show me another world, a beautiful one of love and danger I sensed but had never seen outside sleep. Thank you David your gift will reverberate for the rest of my life."

David Duchovny spielte bereits 1989 in der ersten Twin-Peaks-Staffel FBI-Agentin Denise, die nach einem Auftrag, für den sie sich als Frau verkleidet hatte, entschied, fortan als Frau zu leben. Als Lynch 25 Jahre später die Nachfolgestaffel drehte und auch Duchovny als Denise wieder einlud, inszenierte er eine Szene, in der er selbst in der Rolle des schwerhörigen Agenten Gordon Cole aufritt und sich gemeinsam mit Denise an alte Zeiten erinnert. „When you became Denise,”, sagt Lynch als Cole, „I told all your colleagues, those clown comics”, und nach einem Schnitt ist Lynch nun noch größer, dominanter im Close-up zu sehen, „to fix their hearts or die.”
Wirklichkeit in der Unwirklichkeit

Zwischendrin die Trauer alter Weggefährt*innen. Naomi Watts erinnert sich an ihren Durchbruch nach Jahren ernüchternder Castings: „Finally, I sat in front of a curious man, beaming with light, speaking words from another era, making me laugh and feel at ease. How did he even ‘see me’ when I was so well hidden, and l’d even lost sight of myself?!” Und Kyle McLachlan schreibt einen langen Brief, der mit den Worten endet: „I will miss him more than the limits of my language can tell and my heart can bear. My world is that much fuller because I knew him and that much emptier now that he's gone.”
Eine der niederschmetterndsten Dialogzeilen aus Twin Peaks ist zum Meme geworden, das ebenfalls mehrfach geteilt wird: "Garland, what do you fear most in the world?", fragt der unheimliche Windom Earle den Major Garland Briggs, nachdem er ihn unter Drogen gesetzt hat, um ihm Regierungsgeheimnisse zu entlocken. "The possibility that love is not enough", kann der nur stammeln, und damit alles zusammenfassen.
Es werden jetzt Texte geschrieben werden, viele gute, es werden vielleicht ein paar Retrospektiven stattfinden. Für all das wird noch viel Zeit sein. Aber für den Moment der Nachricht, dass einer der Guten gestorben ist, there is no place like social media. Nur die Timeline in dieser Nacht drückt für mich aus, wie viel Welt in Lynchs Welt war, wie viel Wirklichkeit in der Unwirklichkeit seines Schaffens. Und wie viel Aufrichtigkeit: Niemand hat sich so ernsthaft der Liebe verschrieben, ohne zum naiven Romantiker zu werden; niemand sich so angstfrei dem Bösen in der Welt zugewandt, ohne zynisch zu werden.

Deshalb hier auch kein Aufruf, alle Filme nochmal zu sehen, auch wenn man nicht schlecht damit beraten ist, das regelmäßig zu tun. Kein Aufruf, David Lynch noch mehr zu würdigen, ihn endgültig für den Besten zu erachten, oder sonst etwas. Eher eine Erinnerung daran, zu dem zu stehen, für das zu kämpfen, das uns etwas bedeutet. Und all denen, die das verhindern wollen, zu sagen: Fix your hearts or die.
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