Licht ins Dunkel: Duisburger Filmwoche 2022

Uran im Erzgebirge, ein verdrängter Völkermord und ein vergessener Brandanschlag. Die Filme der 46. Duisburger Filmwoche versetzen Außen- und Innenwelten in Bewegung und machen die blinden Flecken deutscher Nachkriegsgeschichte sichtbar.

Taschenlampen, die in der Nacht geheime Nachrichten übermitteln, flackernde Gestalten, die durch mit Radium verseuchte Landschaften wandern. Es tickt und blitzt auf der Leinwand, bevor uns das Dunkel gleich wieder umhüllt. Im darauffolgenden Licht des Diskussionssaals schweift mein Blick ab, vom Podium auf das diesjährige Banner der 46. Duisburger Filmwoche: ein karierter weißer Grund, darüber eine Aufsicht auf einen Vulkan, aus dem sich gelb-orange-rote Pixel ergießen. Dann wandert mein Kopf wieder zu meinem Notizbuch, in dem ich die eben im Kinosaal blind gekritzelten Wortgebilde zu entziffern versuche. Nicht nur die Welt mit ihren filmischen Verarbeitungen und unser Verhältnis zu den Dingen und Menschen sind, wie das kursivgesetzte Motto der diesjährigen Festivalausgabe beschreibt, im Werden begriffen. Auch meine eigenen Urteile und Gedanken haben mit der Fülle an Eindrücken und Beiträgen nach meinem ersten Aufenthalt an diesem geschichtsträchtigen Ort des Dokumentarfilms noch keinen Abschluss gefunden.

Die Halbwertzeit des Widerstands

Es sind vor allem die Filme, die mich nicht mehr loslassen und mich mit meinem eigenen blinden Flecken konfrontieren; die politisches Bewusstsein und Teilhabe versprechen, geschichtliche Missstände aufdecken und damit eine wirkmächtige Arbeit am kollektiven Gedächtnis leisten. Die Fäden, die sich hier und dort spannen, von ausgebeuteter Natur und sich verändernder Landwirtschaft hin zu der Arbeit am Gedächtnis und der Sichtbarkeit von politischen und kulturellen Kämpfen, versuche ich zu be/greifen, zusammenzuziehen, zu halten. Ich versuche Ordnung in die Vielzahl an Bildern und Tönen zu bringen: In den wiederkehrenden, sich lichtenden Nebelschwaden tun sich Landschaften auf, verdichten sich zu Anschauungen verschwindender oder aufblühender Lebensformen, strukturellen Wandels sowie strukturellen Stillstands. Doch alsbald stolpere ich wieder in das Dunkle des Saals und die gerade gesponnenen Zwirne entgleiten erneut.

Ein Film, der mich formal wie inhaltlich besonders fesselt, ist der eingangs beschriebene Sonne unter Tage. Auf der Grundlage einer aufwändigen Recherchearbeit verdichten Alex Gerbaulet und Mareike Bernien die Geschichte der ostdeutschen Umweltbewegung, die auf das Atomwaffenprogramm der Sowjetunion und den damit zusammenhängenden Uranabbau im Erzgebirge reagiert, zu einem poetisch-experimentellen Film. Die eigene Feldforschung in verschiedenen Archiven wird immer wieder von Interviews mit Aktivist:innen, Arbeiter:innen und Anwohner:innen unterbrochen, die von Darsteller:innen ins Bild gesetzt werden. Der Film fördert eine verdrängte Geschichte ans Licht und arbeitet dabei mit Anleihen aus Literatur-, Theorie- und Filmgeschichte.

Zur Versuchsanordnung über die Halbwertzeit atomarer Teilchen und deren Verfallsketten gesellt sich eine Reflexion über Widerstand und Werden: „Wie lange dauert es, bis ein Erinnerungsbild zerfällt?“ Das Befragen der Zeiten und das Justieren von Standpunkten ruft dabei vor allem filmische Erinnerungen hervor. Ich denke an die harte, dreckige Arbeit in Alberto Cavalcantis Coal Face (1935) und die poetischen Verortungen von Fluchtweg nach Marseille (1977) von Ingemo Engström und Gerhard Theuring. Auf einen Film wird direkt Bezug genommen: Die DEFA-Produktion Sonnensucher von Konrad Wolf aus dem Jahr 1958 gehörte zu den zunächst verbotenen Filmen der DDR, konnte erst 1972 öffentlich gezeigt werden. Darin klingt die Geschichte der Strafarbeit von Frauenbrigaden in den Minen der Wismut AG an, dem zweitgrößten Arbeitgeber der DDR.

„Glauben Sie an den Sozialismus?“, ertönt es in eindringlicher Mehrstimmigkeit. Doch wer spricht hier eigentlich? Aus dem Abspann erfahren wir erst, dass Interviews geführt wurden, im anschließenden Gespräch dann, inwiefern biografische Linien der Regisseur:innen sich mit denen von umweltbewegten Aktivist:innen der DDR treffen. Der Text wurde im wahrsten Sinne des Wortes gewebt, zusammengesetzt aus verschiedenen bildhaften Erzählungen und historischen Strängen. Die Dichte der Erzählung lässt sich im Gespräch weiter lichten, der Film hätte auch länger sein können, dafür auf der Tonebene klarer.

Selbstbild in Bewegung

Im Werden begriffen, das ist ein passendes Motto des nun wieder vollständig in Präsenz stattfindenden Festivals, das dennoch das hybride Format beibehalten hat. So lassen sich mit Online-Akkreditierung oder Duisburger Bibliotheksausweis alle Filme und Diskussionen während der Woche vom eigenen Bildschirm aus verfolgen. Trotz des Credos, man könne hier aufgrund der besonderen eingleisigen Programmstruktur gar nichts verpassen, habe ich mich nach verspäteter Anreise etwas im Trubel zur Mitte der Woche verloren. Dass ich auch ohne Parallelveranstaltungen das Gefühl habe, nichts wirklich in Gänze erfassen zu können, ist wohl der überwältigen Natur von Festivals geschuldet. Schon allein aufgrund körperlicher Bedürfnisse wie Essen und Schlafen, etwaiger Suchtbefriedigungen durch Kaffee- und Zigarettenkonsum oder (gast)freundschaftlicher Vergnügen sind gewisse Lücken nicht zu vermeiden.

Diese werden jedoch gefüllt durch Nacherzählungen und nicht abebbende Reflexionen zwischen den Veranstaltungen. Bemängelt man zu Beginn noch, dass die separaten und langen Diskussionsrunden allzu oft in Zweiergespräche ausarten und mit wenig Debattierfreude aufwarten, folgen doch hier und da streitlustigere Zusammenkünfte – besonders wenn es um das Verhältnis von Dargestellten und Filmschaffenden geht, um Unterschiede zwischen einem urteilenden und einem zuhörenden Blick, um gesellschaftliche Resonanzräume und innere Projektionsflächen. Die Frage nach dem Innen und Außen steht nicht nur in Bezug auf die Filme auf dem Prüfstand. Neben dem im Werden begriffenen filmischen Gesehenen ist es vor allem auch das eigene Selbstbild und das Verständnis dessen, was man zu wissen meint, das hier in Bewegung gerät.

Belastende Klarheit

Dass (Vor-)Urteilsbildung nicht im luftleeren Raum geschieht, hält uns der Film Unrecht und Widerstand vor Augen. Darin fasst Peter Nestler das lebenslange Engagement des Aktivisten Romani Rose zu einem umfangreichen Bild der Bürgerrechtsbewegung der Sint:izze und Rom:nja zusammen, die den Umgang der deutschen Politik und Öffentlichkeit mit den Überlebenden des Genozids an den Sint:izze und Rom:nja während des Nationalsozialismus anprangern, bei dem rund 500.000 Menschen ums Leben kamen. Die, die überlebten, grenzte der neugegründete, „rehabilitierte“ deutsche Staat weiter aus, überließ die verfolgte Minderheit an den Stadträndern sich selbst und führte die rassistische Verfolgung unter anderen Vorzeichen fort. Die Kontinuitäten sind erschreckend, die grausamen Fakten der Vernichtung nicht auszuhalten.

Als Peter Nestler zur Entgegennahme des 3sat-Dokumentarfilmpreises am Samstagabend auf die Bühne tritt, bedankt er sich bei denjenigen, denen wir diesen Film zu verdanken haben. Das vernichtende Urteil über die deutsche Vergangenheitsbewältigung wird dabei ergänzt von dem starken Eindruck jahrzehntelanger Kämpfe um die Anerkennung des Völkermordes und um Entschädigungszahlungen. Nestler, der sich in seinem filmischen Werk schon seit den 1970er Jahren auf vielfache Weise mit dem Antiziganismus in Deutschland beschäftigt hat, fügt die Lücken der Aufarbeitung erstmalig in diesem Umfang zusammen.

Um meine eigenen (Wissens-)Lücken zu schließen, schaue ich den verpassten Film am Sonntagabend zuhause nach. Mein kleiner Bildschirm stört die Filmwahrnehmung kaum, die sich der verweilenden und raumgebenden Kamera von Rainer Komers anschließt. Die gemeinsame Diskussion mit dem Regisseur Peter Nestler kann ich, wie alle anderen Gespräche des Festivals, auf der Website protokult.de nachlesen. Auch hier erfahre ich von einem vorangeschickten Hinweis des Regisseurs, dass nichts Künstlerisches, nichts Unterhaltendes an diesem Film sei. Tatsächlich besticht Unrecht und Widerstand durch die belastende Klarheit einer Fülle an Archivmaterial, das der Film punktgenau als Beweislast anführt.

Politik der leeren Stühle

Die Rezeptionsebenen überlagern sich auch am Freitagmorgen, als ich einem weiteren Gespräch folge. Vertreter:innen der Initiative Duisburg 1984 sprechen über ihre Mission, dem Brandanschlag in Duisburg von 1984 und seiner Opfer zu gedenken sowie seine Ursachen aufzuklären. Am 26. August 1984 kamen Döndü Satır, Zeliha Turhan, Rasim Turhan, Songül Satır, Ümit Satır, Çiğdem Satır und Tarık Turhan bei einem Feuer ums Leben. Ein rassistischer Hintergrund wurde von den ermittelnden Behörden voreilig ausgeschlossen. Selbst als sich Jahre später eine Frau nach einem Brandanschlag auf eine Zuflucht für Asylsuchende in Duisburg auch zu dem Brand des von sogenannten Gastarbeiter:innen bewohnten Hauses bekennt, bleibt sie, wie so oft, „verwirrte Einzeltäterin“. Zurück bleiben die Angehörigen und Überlebenden, die mit Hilfe der Initiative Aufklärung und Anerkennung fordern.

Aus diesem Bedürfnis heraus entsprang auch die Zusammenarbeit mit den Filmemachern Ole-Kristian Heyer, Patrick Lohse und Marian Mayland, die diese Aufarbeitung filmisch begleiten. Als permanente Installation in der cubus kunsthalle erhält der Film Dunkelfeld seine gebührende Verortung im Stadtraum von Duisburg. Die investigative Schauanordnung setzt die unterschiedlichen Materialen des Falls zu einem belastenden Bild zusammen. Achtsam eingewebte Bilder der Familie werden konfrontiert mit den dazugehörigen Fernsehbeiträgen. Sprecherin Göksen Güntel beschreibt abwechselnd auf Türkisch und Deutsch das gesellschaftspolitische Klima der 1980er Jahre, die Ölkrise, die Kohl-Regierung, das Rückkehrhilfegesetz von 1984, und all die blinden Flecken der deutschen Gesellschaft, die dem offenen Rassismus gesellschaftlichen Nährboden bieten.

Ein Studio mit Schreibtischen veranschaulicht in Dunkelfeld die verschiedenen Schichten des behördlichen und politischen Versagens bei der Aufarbeitung und die persönlichen und kollektiven Anstrengungen und Verluste, die Angehörige, Betroffene und Unterstützer:innen durchmachen. Die räumliche Anordnung, in der wir sitzen, wird ebenfalls gespiegelt. Zu sehen sind sieben leere Stühle. Während ich auf einem dieser sitze, macht die Anordnung die Leerstellen gewahr, die der Anschlag hinterließ und überträgt sie auf den Raum, in dem wir uns befinden. Der kurze Lichtblick auf einen bedeutenden Hinweis verschwindet auch in der bildlichen Anordnung wieder im Dunkeln. Eine transparente Flüssigkeit auf weißem Grund tropft ins schwarze Nichts: „Brandanschlag mit Benzin völlig ausgeschlossen.“ Die letzte Einstellung wandert hinab und gibt den Blick frei auf ein am Boden liegendes Straßenschild: Gefordert ist die Umbenennung der Wanheimer Straße in Satırstraße.

Das berührende, sensible Spiel mit Licht und Schatten verleiht dem Fehlen eindrücklich-bedrückend Ausdruck und stellt die dringliche Forderung nach Sichtbarkeit. Der Umgang mit den Opfern des Brandanschlages in Dunkelfeld deckt sich mit der Anklage, zu der auch Unrecht und Widerstand ausholt und Gerechtigkeit anmahnt. Die bis heute andauernden Kontinuitäten und die entscheidenden Brüche in der Geschichte gewaltvoller Ausschlüsse in Deutschland sind viel zu wenig bekannt. Am Ende verdichten sich die roten Kästchen des Banners, auf das in die letzten Tage immer wieder mein Blick fiel, zu einem Strang, der das Erinnern an die Opfer rassistischer Gewalt in Deutschland zusammenfasst. Es gilt, endlich Licht in diese deutschdeutsche Dunkelheit zu bringen. Die Filmwoche hat dazu einen nachdrücklichen Beitrag geleistet.

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