Less is More: Mit Intuition zur Story-Architektur

Tarotkarten, Polaroid-Kameras und Selfie-Videos: In der Bretagne wird das Drehbuchschreiben als Prozess verstanden, bei dem das Schreiben ganz zuletzt kommt. Ein Besuch beim von Bauhaus inspirierten Workshop Less Is More.

Ob die Drehbücher am Ende besser werden, diese Frage stellt sich den Teilnehmer*innen von Less is More (kurz: LIM) nicht. Mit wem man bei diesem Drehbuch-Workshop auch spricht, alle sind von den Methoden so inspiriert und beseelt, dass für sie ganz selbstverständlich ist: Dieser Prozess hilft. Obwohl es den Workshop, der sich über acht Monate erstreckt, bereits seit sieben Jahren gibt, sind die Beispiele für erfolgreiche fertige Filme, deren Autor*innen bei LIM teilgenommen haben, noch rar gesät.

Lana Barić, kroatische Regisseurin und Autorin, ist so etwas wie der heimliche Star bei der diesjährigen Ausgabe, weil sie mit ihrer eindrücklichen, dramatischen und komischen Präsentation sofort den Saal für ihr Projekt einnimmt. Ihre Komödie Tibidabo plant sie 2027 zu drehen, sprich vier Jahre nach der Teilnahme. Barić ist hauptberuflich Schauspielerin am Theater, schreibt an Drehbüchern anderer mit und bereitet parallel ihren ersten Langfilm vor, der 2025 gedreht werden soll. Wie die meisten anderen stand sie noch ganz am Anfang der Entwicklung, als es im März mit der ersten Workshopwoche in einem entlegenen Dorf in der Bretagne losging.

In Plounéour-Brignogan-Plages gibt es ein Café und einen kleinen Supermarkt sowie eine Bar, die am frühen Abend schließt. Wenn es dunkel wird, ist es stockfinster hier, im ganzen Ort gibt es keine nächtliche Straßenbeleuchtung. Dafür kann man hier nicht nur einzelne Sterne, sondern die ganze Milchstraße sehen. Gästen wird empfohlen, starke Taschenlampen und bequeme Schuhe mitzubringen, um abends in die Unterkünfte zu gelangen, die um die Bucht herum verteilt sind. Wenige Ablenkungen zulassen, das ist bei Kunstresidenzen und Schreibateliers eine gängige Grundlage. Unterhält man sich mit den Autor*innen hier, spielen aber die spezifischen Methoden von LIM eine viel größere Rolle als die Abgeschiedenheit des Ortes.

Methoden gegen das Schreiben

Wenn man in Deutschland danach fragt, wie bessere Filme entstehen könnten, antworten neun von zehn Expert*innen, dass mehr in die Entwicklung, sprich die Drehbücher, investiert werden müsste. Das Eigentümliche am Schreiben ist: Es gibt sehr viele Menschen, die in der einen oder anderen Form beruflich schreiben und fast genauso viele Menschen, die davon berichten, wie schwierig das sei. Und tatsächlich hat sich ein ganzer Geschäftszweig darauf spezialisiert, mit Ratgebern, Workshops und persönlicher Unterstützung anderen dabei zu helfen, besser, schneller, dramatischer, oder sonstwie zielgerichteter zu schreiben. Viele der Methoden drehen sich um den Prozess des Schreibens selbst oder um das Ergebnis, also um die Frage, wie gute Texte aussehen sollten.

Less is More verfolgt einen anderen Ansatz. Weder das Schreiben noch das Ergebnis stehen im Mittelpunkt, sondern die Ideen. Antoine Le Bos, Künstlerischer Leiter des Programms, vergleicht die Regisseur*innen mit Architekten (siehe auch unser Podcast-Interview mit ihm). Es gehe um Gestalt und Entwurf eines Plans, auch weil die Qualitäten, die sie als Autorenfilmer*innen mitbringen müssten, nicht die von Schriftsteller*innen sind. Wichtiger sei die Kunst des Entwerfens von Geschichten und deren dramatische Potenziale. Er betont, dass es schon rein aus kognitiven Gründen wichtig sei, nicht im Schreibprozess stecken zu bleiben.

Als eine Methode dafür sieht er das Entwerfen von Karten: etwa Karten von Konflikten oder Karten von versteckten Begierden. Inspiriert unter anderem von der Rhizom-Theorie von Gilles Deleuze und Félix Guattari liebt es Le Bos, mit Karten zu arbeiten, weil man eine Karte von jedem Punkt aus betreten könne, es erlaubt, den eigenen Körper in die Konfrontation zu schicken und offenbart Wege, um die filmische Welt (anders) zu erforschen.

Lana Barić, deren Geschichte in einer um fünf Grad verschobenen Wirklichkeit spielt, erzählt von Tarotkarten, Polaroid-Kameras und Videos, die sie beim Workshop von sich selbst machen. Nur drei Beispiele für spielerische Tools, die bei LIM eingesetzt werden und sich gegen die Schriftform richten. Tetiana Symon, eine von vier Teilnehmer*innen aus der Ukraine in diesem Jahr, plant einen Film über psychische Belastungen einer Journalistin im Krieg. Für sie steht die Abkehr vom Rationalen im Vordergrund: „Bei LIM hat man oft keine Zeit, sich auf seine Logik zu verlassen, sondern muss intuitiv oder affektiv reagieren. Zwischendurch hat man den Eindruck, dass man ja nur spielt. Und plötzlich steht man da mit einer neuen Struktur für die eigene Geschichte.“

Mündliches Erzählen

In Frankreich ist die Arbeit von Le Groupe Ouest, die hinter unterschiedlichen Drehbuchworkshops wie der bekannten Sélection Annuelle steht, schon länger etabliert. Erst allmählich spricht sich das auch in Deutschland rum (was erklären dürfte, weshalb ich als Journalist eingeladen wurde). Neben Partnern aus Ländern wie Rumänien, Belgien, Polen, Norwegen, Irland, Litauen und der Ukraine hat sich kürzlich MOIN – Filmförderung Hamburg Schleswig-Holstein dem ganzjährigen Workshop Less is More angeschlossen. Antoine Le Bos erzählt, dass in einer Testphase alle Empfänger*innen von Drehbuchförderung in Hamburg an einem gemeinsamen Workshop teilnehmen werden.

Alexandra Bratyshchenko, Produzentin von Tetiana Symon, ist begeistert von den Ergebnissen bei LIM. Sie sei nach der Entwicklung des Stoffes nun sicher, dass der Film unbedingt gemacht werden muss. Wie viele andere hier ist sie angetan von der Klarheit, mit der die Regisseurin ihr Vorhaben inzwischen vortragen kann. Julia Niethammer von der Berliner Produktionsfirma Chromosom hat selbst bei einem der bekanntesten Drehbuchworkshops mitgemacht, dem Torino Script Lab. In der Bretagne begleitet sie das neue Projekt von Gabrielle Brady, deren hybrider Dokumentarfilm Island of the Hungry Ghosts (2018) sehr erfolgreich auf Festivals lief. Niethammer schätzt die Methoden von LIM, die etwas andere seien als in Turin. Beim italienischen Workshop gebe es klassische Schreibaufgaben und Challenges und zwischen den Präsenztreffen werde weitergeschrieben.

LIM setzt dagegen auf das mündliche Erzählen. Le Bos erklärt, dass es gerade nicht dasselbe wie ein Pitch sei, der wichtig für Produzent*innen sein könne, aber für Autor*innen oft hinderlich. Wichtiger als der hyper-knappe Fokus auf die Aspekte am Stoff, die sich am besten verkaufen könnten, geht es beim „oral storytelling“ darum, beim spontanen Erzählen sich einen Weg zu bahnen. Wenn man sich selbst dabei auch noch aufnimmt und keine Unterbrechung zulässt, würde man dabei auf die eigenen Instinkte des Erzählens zurückgeworfen. Für den kreativen Prozess gehe es schließlich immer wieder darum, Hindernisse zu suchen und sich selbst zu überraschen.

Perspektivwechsel

Brady ist ein großer Fan dieser „Tell Me“-Videos (auf Französisch „Raconte-moi“), die die Teilnehmer*innen beinahe täglich von Neuem angefertigt hätten. In diesen Videos müssen die Autor*innen in drei bis fünf Minuten die Geschichte ihres Films erzählen: „Der zentrale Teil von LIM ist die mündliche Erzählung. Spannend ist es zu beobachten, an welchem Moment man die Zuschauer einfängt und sie gebannt zuhören, das kann man spüren. Ich glaube, das gibt es nur beim mündlichen Geschichtenerzählen.“ Brady hat sich zwischenzeitlich ein Aufnahmegerät zugelegt und nutzt es, um das Erzählen immer wieder für sich zu verfeinern. Tetiana Symon hat die Erfahrung gemacht, dass diese „Tell Me“-Videos, die sie in unterschiedlichen Varianten angefertigt hat, auch neue Fragen aufwerfen: „Das Tell-Me-Video aus der Perspektive meiner zweiten Hauptrolle zu erzählen, hat mich vor eine große Herausforderung gestellt. Als ich begründen musste, warum sie so handelt, ist mir plötzlich klar geworden, dass ich die Geschichte umschreiben muss.“

Théo Jourdain ist als einziger französischer Autor dabei (Le Groupe Ouest bietet andere Workshops speziell für französischsprachige Projekte an). Wie einige andere schwärmt er von der kollektiven Arbeit an den Projekten, von der inspirierenden Möglichkeit, mit internationalen Filmemacher*innen zusammenzuarbeiten, die ihm auch dabei geholfen hat, selbstbewusster zu werden. Nicolas Tiry produziert seinen Film The Last Fisherman, der in der Bretagne angesiedelt sein soll. Er hat sich alle Präsentationen angeguckt und war überrascht davon, dass niemand angefangen hat, von Einstellungsgrößen oder anderen formalen Ideen zu sprechen. Bei allen stehe das dramatische Erzählen im Vordergrund. Und auch Jourdains Projekt habe sich in den Monaten sichtbar weiterentwickelt; während es vorher stärker von filmischen Einflüssen geprägt war, sei es inzwischen persönlicher, authentischer und kraftvoller geworden.

Auch Brady ist zufrieden mit der Entwicklung ihrer Idee, die nun um viele Nuancen und Feinheiten reicher sei. Sie ist mit ihren beiden Produzentinnen angereist, neben Niethammer, die wie Brady in Berlin lebt, wird sie von Rita Walsh begleitet, die in Australien und den USA arbeitet. Die drei erzählen davon, wie sich die Methoden des Workshops auch auf ihre Zusammenarbeit ausgewirkt haben: Inzwischen seien sie dazu übergegangen, sich begleitend zu E-Mails auch Sprachnachrichten zu schicken, um die räumliche und zeitliche Distanz zu überbrücken. Weil sie Tonalität, Nuancen und Stimmungen viel besser transportieren könnten als reine Textnachrichten. So sorgt LIM, wenn alles gut läuft, am Ende nicht nur für bessere Filme, sondern auch für eine bessere Kommunikation zwischen Regie und Produktion.

Kurz vor Abschluss des Workshops laden die Veranstalter europäische Gäste ein, vorwiegend Produzent*innen, aber auch Förderreferent*innen und Verleiher*innen, um die Präsentationen anzuschauen und in den Austausch zu treten. Abends zeigen sie einen Film, der den Workshop durchlaufen hat, und wählen hierfür keinen der größeren Erfolge wie Tiger Stripes, der 2023 in Cannes Premiere gefeiert hat, oder Blue Moon, der den Hauptpreis in San Sebastián gewonnen hat (und der auch im Wettbewerb von Mannheim-Heidelberg lief). Stattdessen läuft ein intimes Familiendrama: Vadio von Simão Cayatte. Ein Film, der narrativ unheimlich dicht ist und kurzweilig, dem man auch tatsächlich anmerkt, dass am Drehbuch intensiv gefeilt wurde, damit der Film immer vorwärtstreibt, jede Szene bedeutend ist und kraftvoll. Es ist ein schöner Film, der nur gleichzeitig etwas ordentlich und vertraut wirkt, weil alles an seinem Platz ist und ähnliche Filme mit ähnlichen Motiven und ähnlicher Ästhetik durchaus verbreitet sind. Beim Abendessen danach sind sich die Teilnehmer*innen, mit denen ich spreche, einig, dass sie andere Filme machen möchten, und sie wüssten auch schon wie.

Fotos: Künstlerischer Leiter Antoine Le Bos (© Adi Marineci), LIM MEET (© Brigitte Bouillot)

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