Lav Diaz – Eine Einführung

Der philippinische Regisseur Lav Diaz war lange Jahre Journalist. Heute dreht er Filme, die im Weltkino vergeblich ihresgleichen suchen.

Organische Konstruktion

Heremias

„I Survived Lav Diaz’s Heremias“, betitelte der Blogger Estan seine Rezension (besser vielleicht: seinen Erfahrungsbericht) eines neunstündigen philippinischen Autorenfilms. Das Kino des Lav Diaz fordert eine solche Haltung heraus: Cinephilie als Extremsport. Der Taktung der Kinokonvention, die sich in ihren in den allermeisten Fällen 80 bis 120 Minuten langen Blöcken problemlos in den Tagesablauf integrieren lässt, setzt Diaz seine Konzeption von „organischer Konstruktion“ entgegen. Er dreht so lange weiter, bis sich der Film fertig anfühlt, ob sich das irgendjemand außer ein paar Verrückten ansieht, ist gleichgültig. Angesprochen auf die Länge seiner Filme sagt Diaz:  „(...) if you cannot sit through ten hours this time, I will wait for you. Maybe ten years from now you can watch it. I will wait for that. Art can wait. There is no rush.“

Criminal of Barrio Concepcion

Lav Diaz arbeitete lange Jahre als Journalist, ins Kino trat er erst im Alter von 40 Jahren ein. Im Gegensatz zu den anderen wichtigen Protagonisten des neuen philippinischen Kinos (Raya Martin, Brillante Mendoza, Khavn, Sherad Anthony Sanchez) arbeitete Diaz zunächst, in den späten 1990ern, in der kommerziellen philippinischen Filmindustrie. Schon in diesen frühen Filmen wie Criminal of Barrio Concepcion (Serafin Geronimo: Kriminal ng Barrio Concepcion, 1998) oder Naked Under the Moon (Hubad sa Ilalim ng Buwan, 1999) tauchen Spuren seiner späteren Ästhetik auf, insbesondere die an sich selbst verzweifelnden Antihelden. Der finale und ambitionierteste Film dieser ersten Phase ist Jesus, Revolutionary (Hesus Rebolusyunaryo, 2002), ein politischer Science Fiction-Film, in dem Diaz eine Revolte gegen ein faschistoides Staatswesen imaginiert. Jesus, Revolutionary war ein letzter Versuch, innerhalb des Systems zu einer eigenständigen politischen und ästhetischen Haltung zu gelangen und damit das Erbe Lino Brockas, des vermutlich wichtigsten Regisseurs der philippinischen Filmgeschichte, anzutreten.< /p>

Im selben Jahr veröffentlicht Diaz West Side Kid (Batang West Side) und vollzieht damit den Bruch mit dem System. Entstanden während eines längeren Amerikaaufenthalts, erzählt der Film eine Kriminalgeschichte im philippinischen Exilantenmilieu. West Side Kid wurde unabhängig finanziert und ist sechs Stunden lang. Aufgrund einer problematischen Urheberrechtssituation wurde der Film, den einige Kritiker als den Beginn der neuen Welle des philippinischen Kinos ausgemacht haben, in den letzten acht Jahren praktisch überhaupt nicht gezeigt.

Evolution of a Filipino Family

Diaz’ Magnum Opus ist zweifellos der Nachfolgefilm: der fast dreizehnstündige Evolution of a Filipino Family (Ebolusyon ng Isang Pamilyang Pilipino, 2004). Im Grunde greift dieser Film hinter den Anfang der Kinokarriere des Regisseurs zurück: Die ersten Aufnahmen entstanden Mitte der 1990er, die Dreharbeiten umfassten beinahe zehn Jahre, was man auch direkt am Altern der Protagonisten ablesen kann, eine der Hauptfiguren wächst im Lauf des Films vom kleinen Jungen zum jungen Mann heran. Diaz entwirft eine komplexe Familienchronik, die eng mit der politischen Geschichte der Philippinen während der letzten Jahre der Diktatur des Ferdinand Marcos (1972–1986) verknüpft ist. Der Film handelt von Findelkindern und Geisteskranken, von Vergewaltigung, Mord und Rache, schließlich von einer apokalyptisch anmutenden Goldsuche. Außerdem ist er durchsetzt von historischen Filmaufnahmen, Radio-Seifenopern und anderen historischen Artefakten. Vor allem aber geht es um ganz alltägliche Handlungen, um Mahlzeiten, um Streitgespräche, ums Warten, um Klatsch und um Liebe, kurzum darum, das Leben selbst aus den Fängen der dominanten Geschichtsschreibung zu bergen.

Evolution of a Filipino Family weist den Weg für das weitere Werk, in seiner Verschränkung von hyperrealistischer formaler Ästhetik, polit-historischer Radikalität und narrativer Experimentierfreude, auch in technischer Hinsicht: Wurde West Side Kid noch auf 16mm gedreht, arbeitet Diaz seither ausschließlich digital – und durchgängig in schwarzweiß. Die neue Technik ermöglicht nicht nur eine fast schon unglaublich kostengünstige Produktion (Diaz’ vielstündige Werke haben Budgets von kaum mehr als 10.000 Dollar, Beträge, für die nicht nur in Hollywood, sondern auch im europäischen Autorenkino kaum jemand aus dem Bett steigt), sie machen außerdem filmische Zeit auf grundlegend andere Art und Weise verfügbar. Viele Einstellungen dauern zehn, zwanzig Minuten, gelegentlich nützt Diaz die Länge digitaler Videotapes (meist circa eine Stunde) sogar komplett aus.

Century of Birthing 11

Und die Länge? Die Filme nach Evolution of a Filipino Family werden Schritt für Schritt wieder etwas kürzer: Heremias (2006) und Death in the Land of Encantos (Kagadanan sa banwaan ning mga Engkanto, 2007) dauern jeweils neun Stunden, Melancholia acht und der dieses Jahr in Venedig uraufgeführte Century of Birthing (Siglo ng pagluluwal) sechs. Sein formales Alleinstellungsmerkmal scheint das Kino des Lav Diaz langsam aufzugeben. Seine ästhetische und politische Radikalität aber mit Sicherheit nicht.

Mehr zu den einzelnen Filmen in Lukas Foersters Lav Diaz Mini-Dossier.

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Kommentare zu „Lav Diaz – Eine Einführung“


kuya

die Diktatur des Ferdinand Marcos endete 1986 und nicht wie geschieben 1989.


Frédéric

Danke für den Hinweis, ist korrigiert.






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