Lauter kleine Abschiede – Notizen aus Venedig (7)
Alles fließt – und das größte Kinoglück ist manchmal unter dem Marburger Baum des Lebens zu finden. Pavao Vlajcic berichtet ein letztes Mal aus Venedig, über Filme von Mamoru Hosoda, Julian Schnabel, Ildikó Enyedi und anderen.
Ich bin ein melancholischer und sentimentaler Typ. Wenn ich mich einmal irgendwo eingenistet habe, wie zum Beispiel auf einem Filmfestival, und das Ende naht, fange ich irgendwann an, kleine Abschiede zu nehmen. In Venedig also: Das letzte Mal in diesem oder jenem Kinosaal, das letzte Mal mit dem Vaporetto zum Lido, das letzte Mal am Markusplatz. Und tagträume immer ein bisschen davon, wie es wäre, gar nicht wegzumüssen.

Ich hatte gestern geschrieben, dass ich keinen Film mehr sehen mag, der auf irgendwelchen wahren Tatsachen beruht. Nun darf man dreimal raten, was mich zum Tagesstart im Sala Grande auf dem Lido erwartet. Elisa (Wettbewerb) von Leonardo Di Costanzo ist die wahre Geschichte einer Frau, die eine Strafe wegen Mordes abbüßt. In endlosen Dialogszenen zwischen Elisa und einem Kriminologen werden die Hintergründe der Tat beleuchtet, optisch wird alles von einem tristen dunkelbraun bestimmt. Ein wenig ambitionierter Fernsehfilm, den man gegen Ende der Spielzeit im Wettbewerb versteckt hat, wohl in der Hoffnung, dass viele Gäste bereits abgereist sein dürften.

Mamoru Hosoda liefert mit Scarlet (Außer Konkurrenz) eine eigenwillige Hamlet-Adaptation und einen der wenigen Animationsfilme im Biennale-Programm. Es ist eine existentielle Geschichte im Niemandsland des Purgatoriums, wo Scarlet mit ganz großer Geste gegen die Auslöschung und das Vergessen ankämpft. Am Ende gibt es gar eine wunderbar unironische World-Peace-Botschaft, wie direkt aus der Fragerunde eines Miss-Wettbewerbs. Die einen werden in dem Film eine wirr erzählte, zugleich prätentiöse wie größenwahnsinnig-naive Mär sehen, die anderen einen Meisterstreich, der die thematischen Präokkupationen seines Regisseurs perfekt zusammenfasst. Vielleicht haben beide ein bisschen recht.

Größenwahsinnig und wirr ist auch Julian Schnabels In the Hand of Dante (Außer Konkurrenz). In sehr langen 160 Minuten reist Schnabel mit Oscar Isaac, Gerard Butler und halb Hollywood durch Jahrhunderte und Kontinente auf der Suche nach dem Originalmanuskript von Dantes Göttlicher Komödie. Über den Film wird sich seit seiner Premiere gerne lustig gemacht und er ist in der Tat oft frustrierend und zäh, aber durchaus freiwillig komisch, bisweilen amüsant und bietet mit Butlers chaotischem Gangster eine der schönsten Film-Performances des Jahres, die leider garantiert für keinen Preis nominiert werden wird. Ich lasse mich gerne eines besseren belehren.

Eingangs habe ich von Abschieden gesprochen und einer der Abschiede, die mir in meinem Leben am schwersten gefallen sind, war der von meiner Unistadt Marburg. Der Studentenzeit dort habe ich ziemlich lange nachgetrauert. Umso größer meine Freude, als ich gelesen hatte, dass in Ildikó Enyedis Wettbewerbsbeitrag Silent Friend die Stadt eine zentrale Rolle spielt. Genau gesagt der alte botanische Garten dort, über dem der titelgebende silent friend thront, ein majestätischer Gingkobaum. Der Marburger Tree of Life, sozusagen. Rund um diesen baut Enyedi drei unglaublich zart gesponnene und verschränkte, metaphysisch durchwirkte Geschichten über Verständigung, Empathie und das Mensch- und Pflanzensein. Klingt auf Papier vielleicht arg kunstbeflissen und kitschig, ist in der Umsetzung aber leicht, intuitiv, zutiefst humanistisch und bisweilen spannend wie ein Thriller. Ich habe mir nie vorstellen können, dass ich mir einmal so viele Sorgen um eine Geranie machen würde. Die mitspielenden Pflanzen werden am Ende in den Credits alle einzeln aufgeführt. Riesenapplaus im Saal.
Es ist Usus, bei Festivalberichten ein Fazit zu ziehen, über potenzielle Gewinner zu spekulieren und dieses oder jenes zu kritisieren. Ich spare mir das heute. So wichtig sind die Preise nicht und jedes Festival ist auf seine eigene Weise schön. Auch von Venedig 2025 werden einige Filme in das kulturelle Gedächtnis eingehen, andere von einzelnen in einer Art amour fou verehrt werden und wieder andere vergessen, wiederentdeckt oder ganz verloren gehen. Panta rei - alles fließt. In diesem Sinne: Danke Venedig für die Filme, danke an Kollegen und Freunde vor Ort, danke fürs Lesen und auf ein Neues, auf dem nächsten Festival, irgendwo.
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