Land und Leute: Amerikanische Bestandsaufnahmen auf dem Filmfest Hamburg
Frederick Wiseman singt nochmals das Lied des guten Regierens, bei Chloé Zhao verstummen die Lieder in der Weite der Badlands. City Hall und Nomadland vermessen die Gegenwart der USA aus zwei gänzlich unterschiedlichen Richtungen.
Dann spielt einer in der Abenddämmerung mit der Gitarre einen Folksong, aber bevor ihm dieser Film zur Bühne werden kann, mischt sich die Filmmusik ein und übertönt die Stimme. So klingt’s kurz schräg, aber dann behauptet sich das von Ludovico Einaudi komponierte Pianostück endgültig auf der Tonspur, und die Kamera schweift weiter, durch die weite und leere Wüstenlandschaft der Badlands. Der Mann mit der Gitarre ist Teil der Landschaft, Teil der Atmosphäre, es ist recht egal, was und wie er singt. Das hier ist nicht Into the Wild (2007).
Weder Umwege noch Abkürzungen

Chloé Zhaos Film Nomadland ist auch deshalb so schön, weil er das Pathos, das in dieser Landschaft schon immer lebt, von den Menschen schon immer erfahren wird, sehr ernst nimmt, aber nicht verstärkt. Einaudis Score ist nicht einfach erhabene Musik zur erhabenen Natur, sie bindet die Landschaft vielmehr an die Erfahrungswelt von Fern, der von Frances McDormand gespielten Protagonistin. Einmal läuft Fern durch das Camp, in dem sie mit ihrem Wohnwagen gelandet ist, sieht sich um, die Kamera folgt ihr, und das Klavier auf der Tonspur weiß um die Schönheit der Umgebung ebenso wie um die Prekarität, die das Leben hier erst nötig gemacht hat. Fern genießt ganz in Unruhe, das Stück ist harmonisch, aber da liegt auch Panik in den Klängen.
Die musikalischen Interludes erfüllen damit eine Funktion, die in Frederick Wisemans City Hall die Schnitte einnehmen: Sie statten einen Film, der sich vorwiegend im Dokumentieren gefällt, mit einer eigenen Agency aus, kommentieren, setzen Kontrapunkte. Beide Filme, die zu den prominentesten Beiträgen des diesjährigen Filmfest Hamburg gehören, beschäftigen sich mit der Gegenwart Amerikas, ohne große Umwege, aber auch ohne Abkürzungen. Wiseman beobachtet über viereinhalb Stunden Stadtpolitik in Boston, Zhao hat ein Sachbuch verfilmt: Jessica Bruders Reportage über moderne Arbeitsnomaden im Norden der USA, die, wie es einmal heißt, zu arm sind, um in Rente zu gehen.
Wisemans Anti-Trump
In City Hall macht ein Wiseman, was ein Wiseman macht: aus einer Black Box ein Netzwerk. Die City Hall in Boston ist tatsächlich eine Box, ein fast quadratisch anmutender Kasten mitten in der Stadt, und Wiseman guckt nicht zuletzt deshalb in diesen Kasten, weil Boston 2013 den linken Marty Walsh zum Bürgermeister gewählt hat. Walsh ist, so merkwürdig sich das für einen Wiseman-Film anhören mag, der Protagonist dieses Films. Zwar ist auch City Hall voll von allerlei skurrilen, spannenden, ausgedehnten Sequenzen rund um das Tagesgeschäft eines Bürgeramts, von der standesamtlichen Trauung zweier Frauen über Einsprüche gegen Strafzettel, den Alltag in der Verkehrsüberwachungszentrale und die Planung einer großen Parade zum gebührenden Empfang der Red Sox nach ihrem World-Series-Sieg. Aber Walsh ist der Held, der Seniorenheime und Veteranenfeiern besucht, immer eine zum Thema passende Anekdote parat hat, der verändern und anpacken will, der seine eigene irische Herkunft nicht stolz identitär, sondern als Erinnerung an die eigene Diskriminierungserfahrung und als Empathiemotor hochhält. Walsh ist Wisemans Anti-Trump, die Erinnerung daran, dass die Idee des „government for the people“ noch längst nicht tot ist.
Nicht homeless, nur houseless
Nomadland ist die Grenze dieser Fantasie. Wo in City Hall scheinbar nichts außerhalb politischer Steuerung zu liegen scheint – ständig wird etwas gemacht, entschieden, ausdiskutiert, werden Budgets geplant, Quotensysteme eingeführt, das Feedback der Regierten eingeholt –, ist man in Zhaos Film auf sich selbst zurückgeworfen. Nomadland durchzieht eine Kraft, die in City Hall eigentümlich abwesend scheint: die Ökonomie in spätkapitalistischen Zeiten. Ausgangspunkt ist hier keine Wahl, sondern die Schließung eines Gipswerks in der Industriestadt Empire. Ein Jahr später gab’s die entsprechende Postleitzahl nicht mehr, informiert eine Texttafel zu Beginn des Films, Empire ist nur noch eine Erinnerung, ebenso wie Ferns verstorbener Ehemann, der hier arbeitete.
So ist die erhabene Landschaft, in der Zhao und ihre Figuren, die bis auf Fern und Dave (David Strathairn als so verzweifeltes wie geduldiges love interest) von tatsächlichen Arbeitsnomaden als Avatare ihrer selbst gespielt werden, immer wieder schwelgen, von Anfang an als Krater markiert, in dem sich die Schicksale nach dem Crash tummeln. Zur Weihnachtszeit heuert Fern im regionalen Amazon-Lager an, später hilft sie auf einem Campingplatz, arbeitet in einem Café. Sie sei nicht „homeless“, verspricht sie einmal einer befreundeten Teenagerin, nur „houseless“, und das sei ja etwas anderes.
Es muss mehr gebaut werden!

Auch in City Hall geht es viel um homes und houses. Grundsteuern sind die größte Einnahmequelle der Stadt, verrät uns eine erste Sequenz, später werden wir Zeuge einer Ausschusssitzung, in der es um „eviction prevention“ geht, also um stadtpolitische Strategien, zu verhindern oder wenigstens hinauszuzögern, dass Menschen, die ihre Miete nicht mehr zahlen können, direkt auf die Straße gesetzt werden. Bald folgt die Einsicht: Es muss wohl einfach mehr gebaut werden.
Wisemans Film wirkt zunächst hermetisch und öffnet sich dann allmählich, von den Mühlen der Politik zu all den Orten, die die Früchte tragen wollen. Die spannendste Sequenz ist nicht zufällig eine, in der die Stadtpolitik an ihre Grenzen stößt. Ein neuer Supermarkt soll in einem armen Viertel entstehen, die Unternehmer treten an zum von der Stadt vorgeschriebenen Community Meeting, in der Sorgen und Fragen der Bewohner*innen angesprochen werden sollen. Die Pflichtschuldigkeit des Meetings wird irgendwann selbst zum Streitpunkt, die fast ausschließlich nicht-weiße Anwohnerschaft verpflichtet die Businessmänner auf einen nächsten Dialog, ohne Spielchen. Die Vermittlung ist auf einmal weg, in dem Moment, in dem die Politik verschwindet, wird’s politisch.
Post-elektoraler Gewaltzustand
In den Wortbeiträgen der selten Erreichten übernimmt dann auch in City Hall mal jene Dringlichkeit das Bild, die im Untertitel der Buchvorlage von Nomadland zum Ausdruck kommt: „Surviving America in the 21st Century“. Darum geht’s, und City Hall wirkt angesichts jüngster Entwicklungen etwas jenseits der Höhe der Zeit, auf der Wiseman in der Regel doch immer landet. Er singt nochmal (ein letztes Mal?) das Loblied der Institutionen, des guten Regierens, der politischen Repräsentation, während sich die Nation auf einen post-elektoralen Gewaltzustand vorbereitet und die Nomaden im Nomadland längst wieder am Anfang des US-amerikanischen Geschichtsmythos angekommen sind, als Pioniere wider Willen.
Zum ersten Teil unseres Berichts vom Filmfest Hamburg 2020 geht es hier.
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