Kurzfilmtage Oberhausen 2023: Die Antwort der Anachronismen
Krieg, KI und das Gesundheitssystem: Im Wettbewerb der diesjährigen Kurzfilmtage widmen sich 48 Filme denkbar aktuellen Fragen. Antworten sind naturgemäß rar gesät – und finden sich am ehesten im filmästhetischen Blick zurück.

Das journalistische Arsenal kennt die Klammer als ein ebenso kraftvolles wie abgegriffenes Stilmittel der Berichterstattung: vom Spezifischen zum Allgemeinen – und dann noch mal ein engagierter Blick zurück zum Anfang. Eine Erzählung, die die 69. Kurzfilmtage Oberhausen geschrieben haben, nimmt mir diese Form bereits vorweg. Während der Eröffnungsfeier spricht Festivalleiter Lars Henrik Gass über den Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine. Wie kann im zweiten Jahr dieses Krieges endlich Frieden einkehren? Die Antwort auf diese Frage finde sich, so Gass, bestimmt nicht in der „Zeit“, die er persönlich nicht lese. Vielmehr antwortet er am Ende seiner Rede, in einer so brillanten wie diskussionswürdigen Volte, mit einem Film: Jean-Marie Straubs Machorka-Muff.

Nicht nur lief der Film vor genau 60 Jahren in Oberhausen, er verweist ebenso auf das diesjährige Sonderprogramm zu Ehren Straubs, der im November 2022 verstorben ist. Die Satire über die Gründung der Bundeswehr fußt auf einer Erzählung von Heinrich Böll. Machorka-Muff seziert die Seilschaften von Militär, Politik und Tagespresse in nur 15 Minuten, bleibt kühl und beobachtend, voller Überzeugung, dass sich die filmische BRD der frühen 1950er ohnehin nicht absurder abbilden ließe als das reale Schauspiel. Die Lösung für Straub ist klar: Demilitarisierung ist das Gebot der Stunde. 2023 ist jedoch weniger klar, wie mit westlichen Waffenlieferungen an die Ukraine umgegangen werden soll. In seiner intermedialen Argumentation lässt Gass – via Straub und Böll – allerdings wenig Zweifel an seiner Vorstellung einer Lösung des Konflikts.
Nach sechs Festivaltagen schließt sich die Klammer bei der Preisverleihung: Chornobyl 22 aus der Ukraine gewinnt den Großen Preis der Stadt Oberhausen. Oleksiy Radynskis eindrücklicher Kurzdokumentarfilm widmet sich den Nukleartechniker*innen des havarierten Reaktors, die ihre Gefahrenprotokolle gegen russische Invasoren durchsetzen. Verwackelte Handyaufnahmen von der beginnenden Okkupation wechseln mit Interviews des Sicherheitsteams in ruhigeren Phasen des Krieges.

Zwar besticht der Film durch seine eingängige Montage, die die wirkmächtigen Handybilder immer wieder aufflackern lässt, dennoch überrascht mich die Entscheidung der internationalen Jury für Chornobyl 22. Alle weiteren Preise gingen an formal herausforderndere Arbeiten, was das politische Statement dieses Preises unterstreicht. Auf der Bühne findet Regisseur Radynski deutliche Worte für den öffentlichen Diskurs in Deutschland: Der Krieg könnte längst vorbei sein, wenn die „deutschen Eliten“ nicht so behäbig in ihrer Unterstützung wären. Besser könnte Radynski das traditionell dialektische Selbstverständnis von Oberhausen nicht vervollständigen – mithin das Stilmittel der Klammer.
Die KI ist dein Freund

Ein vielzitierter Vorteil des Kurzfilms ist seine Fähigkeit, durch günstigere Produktionskosten schnell auf aktuelle Entwicklungen zu reagieren. Im internationalen Wettbewerb sind deshalb nicht nur Bilder des russischen Angriffskrieges zu sehen, sondern auch jene computergenerierten Bilder von DALL-E, Midjourney und anderen KI-Modellen, die momentan die Runde machen. Etwa in AI Realism. Qantar 2022 der kasachischen Regisseurin Almagul Menlibayeva.
Das 25-minütige Diptychon macht die Prompts – Befehle, auf deren Grundlage die KI ein Bild erstellt – auf der Leinwand sichtbar. Sie erzeugen in der oberen Hälfte computergenerierte Interpretationen der Proteste in Almaty, die das Regime letztes Jahr gewaltvoll niederschlagen ließ. Darunter doppelt ein zweites Bildfeld das oben Gezeigte in einer Art Zwischenwelt: Schwarzweiße Bildfetzen drehen und verflüssigen sich, bilden ein fernes Echo des oberen Bildes. Trotz interessanter Bild-Text-Konstellationen verrennt sich der Film im allzu oft unternommenen Versuch, über Gewalt zu sprechen, indem das Unsichtbare sichtbar gemacht werden soll.

Ernsthafte Erwartungen an die künstliche Intelligenz wirft hingegen Let’s Be Friends ironisch über Bord: Vor- und Abspann des Fünfminüters betonen mehrfach, der erste hundertprozentig von einer KI erschaffene Film zu sein. Tatsächlich benutzen Arno Coenen und Rodger Werkhoven beides, klassische 3-D-Modelle sowie KI-generierte Bilder einer wildgewordenen Computerversion Salvador Dalís. Auch geschnitten, gerendert und beim Festival eingereicht wird noch von Hand. Die Ökumenische Jury belohnt das meta-ironische Experiment schließlich mit ihrem Preis von 1500 Euro.
Aber was bedeutet es, sich wirklich mit einer medial vermittelten, fremden Subjektivität konfrontieren zu lassen? Der britische Künstler Sweatmother geht dieser existenziellen wie medienästhetisch grundlegenden Frage in Untitled nach. Zwei Röhrenmonitore, ein Mischpult, davor der Regisseur im Anschnitt. Die Monitore zeigen eine stereotype weibliche Figur mit langen Haaren. Sie spricht, in der Mitte zweigeteilt, über die Performativität von Geschlecht. Auch den Regisseur, dessen Geschlechtsangleichung zum Thema wird, spricht sie direkt an. Er wiederum verändert die Erscheinung der Figur, indem er den Kathodenstrom der Monitore mithilfe seines Mischpults verändert.
So entsteht ein kraftvoller Performance-Film, der die theoretischen Grundlagen vieler KI-Spielereien mit analogen – wenn nicht anachronistischen – Mitteln auffächert: Wie viel von meinem Selbst steckt in der Bildrepräsentation? Und wie gestaltet sich Kontrolle in solchen Prozessen? Die Jury des NRW-Kulturministeriums honoriert Sweatmothers höchst persönliche Antworten mit dem ersten Preis, dotiert mit 5000 Euro.
Krank sein – gesund sein

Gleich drei Filme des internationalen Wettbewerbs befassen sich mit dem Verhältnis von Ärzt*in und Patient*in. Dass dieses Verhältnis nicht immer in Stein gemeißelt ist, zeigt Lori Felkers gleichermaßen humoristische wie rührende Versuchsanordnung Patient. Bilder einer erhöhten Überwachungskamera zeigen ein diagnostisches Erstgespräch. Die Patientin klagt über diffuse Schmerzen, ist dabei aber wenig zugänglich, was die Bewertung der Situation für die junge Ärztin erschwert. Schließlich ertönt eine Sirene, die die Anordnung umkehrt: Jetzt fragt die Ärztin – offensichtlich als Teil ihrer Ausbildung – nach der Einschätzung der vermeintlichen Patientin. Patient inszeniert mehrere solcher Evaluationen, die eindrücklich zeigen, wie viel Empathie in der ärztlichen Behandlung möglich sein kann; allerdings auch, wo der Selbstschutz diese empathische Begegnung schließlich begrenzt.
Für einen jungen kirgisischen Arzt hingegen sind die Patient*innen aus anderen Gründen schwer zu erreichen. A Medic von Alizhan Nasirov begleitet ihn dabei, wie er durch den Tiefschnee zu abgelegenen Häusern reitet, um uralten Menschen den Blutdruck zu messen. Zwar bringt der Film eindrückliche Bilder auf die Oberhausener Leinwand, jedoch geht dahinter jegliche Diskussionsgrundlage der (globalen) medizinischen Unterversorgung auf dem Land verloren. Im Kontext des starken Programms dieses Oberhausener Wettbewerbs ist mir A Medic zu sehr bewegter Bildband, eilt zu schnell von Hausbesuch zu Hausbesuch, um sich zu behaupten (wenngleich er der internationalen Jury eine von drei lobenden Erwähnungen wert ist).
Einem koreanischen Film gelingt dies, meiner Meinung nach, so gut wie kaum einem anderen im Wettbewerb. Nameless Syndrome von Jeamin Cha, ebenfalls mit einer lobenden Erwähnung bedacht, ist ein ausgeklügelter Essayfilm am Rande der künstlerischen Forschung. Bilder der Selbstbetrachtung im Wasser, vor Spiegeln und Fenstern verweben sich mit gesprochenen Selbstzeugnissen zu Fibromyalgie – einer schmerzhaften, aber schwer zu diagnostizierenden Krankheit. Ein weiterer Strang in Chas Essay sind ausgiebig zitierte Fachartikel (mit Fußnoten!), aber auch Klassiker der Geisteswissenschaften. In „Krankheit als Metapher“ etwa spricht Susan Sontag vom beständigen Wandeln zwischen dem Reich der Gesunden und jenem der Kranken. Nameless Syndrome gelingt es, dieses Wandeln höchst präzise zu inszenieren und sich (bzw. uns) trotzdem einen Sinn für das Offene zu erhalten. Damit untermauert Jeamin Cha einmal mehr den wohltuend anachronistischen Hauch des Essays als filmischer Form.
13 Minuten Ruhe

Was nach 48 Filmen sowie diversen anderen Screenings, Gesprächen und flüchtigen Kontakten ebenfalls bleibt: ein fragiler Moment im prall gefüllten Lichtburg-Kino. Mit I. bringt Alexandre Larose eine abstrakte Spurensuche nach den Gesten des eigenen Vaters in Form eines tonlosen Super-8-Films mit zum Festival, sogar als 35-mm-Vorführkopie. 13 Minuten Ruhe und Faszination für den Schattenwurf eines Baumes, die Körnung des Filmmaterials; vielleicht auch einfach für die ungeheure Direktheit der gemeinschaftlichen Kinoerfahrung, die ganz stumm (also mit dem üblichen Hüsteln und Rascheln) vonstattengeht. Eine anachronistische Erfahrung vielleicht, aber offensichtlich eine Erfahrung, die noch viele weitere Erkenntnisse bereithält – zumal mit Blick auf die nächsten Kurzfilmtage und die in Oberhausen beständig hochqualitative Kurationspraxis.
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