Kollektive Psychose: San Sebastián Film Festival

Wer klatscht wo mit? Raven Jacksons von der US-Kritik gefeierter Coming-of-Age-Film All Dirt Roads Taste of Salt will mit Händen gefühlt werden, Guto Parentes Horror-Covid-Selbstreflexion A Strange Path bleibt schön inkonsequent.

Wenn Kino ein kollektiver Phantomschmerz ist, was ist dann ein Filmfestival? Meine Vermutung: Ein ähnlich klar definiertes Krankheitsbild reicht da nicht aus, vielmehr haben wir es mit einer ausgewachsenen kollektiven Psychose zu tun. In der Tat hat praktisch jedes Festival ein paar Eigenheiten, die es nicht nur vom Alltagsbetrieb des Kinos, sondern auch vom gesunden Menschenverstand abheben. In San Sebastián wäre da insbesondere das Klatschen während des Festivaltrailers.

Ein paar sind es immer. Längst nicht alle, manche sind offensichtlich eher peinlich berührt bis genervt davon. Oder sie amüsieren sich darüber. Nicht wenige werden es schlicht ignorieren, und sei es aus Gewöhnung. Aber es gibt eben immer mindestens ein paar Festivalbesucher, und manchmal ganze Horden, die zur Musik des Festivaltrailers rhythmisch mitklatschen. Der Trailer ist kurz und unspektakulär, die Musik Allerweltsgedudel. Wer da ein Mitklatschbedürfnis verspürt, denke ich mir, als ich das Spektakel zum ersten Mal mitbekomme, der hat eine wirklich sehr niedrige Aktivierungsschwelle für Mitmachquatsch. Was andererseits vielleicht auch eine schöne Eigenschaft ist, zumindest solange man den Impuls auf harmlosen Mitmachquatsch wie eben Festivaltrailermitklatschen zu beschränken weiß. Dieser Gedanke nun ist möglicherweise bereits der erste Schritt in Richtung Psychose. Ab sofort beobachte ich mich selbst: Werde ich am Ende des Festivals gleichfalls das Bedürfnis haben mitzuklatschen?

Hände, die sich nach dem Regen strecken

Hände, die nicht mitklatschen, entdecke ich auf der Leinwand, in Raven Jacksons All Dirt Roads Taste of Salt. Was sie stattdessen tun: Fischschuppen betasten, Erde zerbröckeln, sich in anderen Händen verbergen, sich auf einen von einer Schwangerschaft rund aufgespannten Bauch legen, sich nach dem Regen strecken. Sich zur Welt verhalten, zu Menschen, Tieren, zu den Elementen. Wir sind alle nur der Staub und das Wasser, die durch uns hindurch zirkulieren. So heißt es, paraphrasiert, mehrmals im Film, der sonst wenig Worte braucht (aber auch: der uns wenig Worte gönnt), um seine Geschichte zu erzählen.

Die handelt von einem Mädchen, Mack, das im Film vermittels wagemutiger Ellipsen, Vor- und Rückgriffen, vom Kind zur jungen Frau heranwächst. Schauplatz ist das ländliche Mississippi, alle Figuren sind schwarz. Zeitgeschichtliches ragt nur gelegentlich vage ins Bild hinein. Der Film will mit Händen erfühlt, nicht mit Worten und Regeldramaturgie auserklärt werden. Das Menschliche reduziert sich aufs leibliche In-der-Welt-Sein, das Soziale aufs Elementare. Eben: Hände, die sich nach dem Regen strecken. Man kann darin vermutlich, wenn man will, die Vision eines anderen, von den logozentrischen Modellen der westlichen Tradition befreiten Kinoerzählens entdecken. Ich will eher nicht.

Warum so lange?

Und zwar schon deshalb nicht, weil das alles so fürchterlich schick ausschaut. Großartig fotografiert ist der Film, keine Frage, auf 35mm-Material zumal, was zumindest in den USA glücklicherweise nach wie vor eine Alternative auch abseits der ganz großen Budgets zu sein scheint; einzelne Einstellungen sind von berückender Schönheit und sich selbst genug. Das betrifft vor allem Szenen der Kindheit: die kleine Mack, die mit ihren Händen eine noch frische Welt erkundet. Wenn sich hingegen später zwei Menschen minutenlang umarmen, in unkommunikativer Großaufnahme, dann wüsste ich doch gern wer, wo, wann, warum, und leider schon auch: warum so lange?

Zweifellos ist All Dirt Roads Taste of Salt ein Film, der genau das ist, was er sein will. Die Frage ist nur, wofür er dann noch ein Publikum braucht. Denn letztlich lässt einem Raven Jackson nur zwei Möglichkeiten: komplettes Einverständnis oder Indifferenz. In den USA wählt die Kritik bislang fast durchweg die erste Option und feiert Jacksons technisch zweifellos erstaunliches Debüt enthusiastisch. Ich bin leider auf der anderen Seite gelandet. Mir war ziemlich schnell ziemlich fad.

Horrorfilm ohne Premiere

Danach ein Film, der mit großer Wahrscheinlichkeit nicht genau das ist, was er sein will, der vermutlich noch nicht einmal genau weiß, was er denn überhaupt sein will: A Strange Path (Estranho Caminho) heißt er, gedreht hat ihn Guto Parente, ein junger brasilianischer Regisseur, der vorher vor allem billige, sonderbare Horrorfilme gedreht hat. Sein neues Werk nun handelt von einem jungen, brasilianischen (aber inzwischen in Portugal lebenden) Regisseur, der einen billigen, sonderbaren Horrorfilm gedreht hat. Den er auf einem Festival in Fortaleza, seiner Heimatstadt, präsentieren möchte. Das allerdings leider im Frühjahr 2020 stattfindet, beziehungsweise eben: stattfinden sollte.

Covid verhindert die Horrorfilmpremiere und setzt einen anderen Film in Gang, der gelegentlich selbst beinahe, aber letztlich doch nicht so ganz zum Horrorfilm wird. Wie auch der Horrorfilm des jungen Regisseurs nicht ganz verschwindet und später tatsächlich noch eine Art Premiere erlebt, allerdings nicht auf einer Festivalleinwand, sondern auf einem Computerbildschirm. In der verkramten Wohnung des Vaters des Regisseurs, in die sich der Film mehr und mehr verlagert.

Die Puzzlesteine passen nicht

Ein Covid-Lagerkollerfilm ist A Strange Path also ebenfalls, aber auch das nicht so ganz. Der Sohn sucht den Vater zunächst zögernd und widerwillig auf. Der Kontakt wurde vor Jahren abgebrochen, der Sohn sagt: vom Vater. Zunächst glauben wir ihm, am Ende des Film nicht mehr unbedingt. Ein komischer Kauz ist der Vater in jedem Fall, er schnauzt den Sohn wegen jeder Kleinigkeit an, sitzt ansonsten tagaus, tagein vor dem Computerbildschirm und schreibt an einem Text, über den wir nichts erfahren. Sein Habitus lässt einen vermuten, dass der Vater ein passionierter Verschwörungstheoretiker ist, aber vielleicht schreibt er auch nur banale Self-Help-Literatur. Der Joghurt im Kühlschrank ist seit zwei Jahren abgelaufen. Der Sohn isst ihn trotzdem. Weil draußen Lockdown herrscht? So ganz klar wird das nie. Wenn es hier um einen Lockdown geht, dann mindestens so sehr um einen inneren wie um einen äußeren.

Schön am Film ist seine Inkonsequenz. Die Filmregisseur-Selbstreflexion, die daddy issues, durchaus auch die (ich glaube: nur) auf den ersten Blick etwas enttäuschende Pointe, auf die die Geschichte zusteuert: All das meint man zu kennen, und Covidfilme waren in den letzten Jahren auch nicht gerade rar. A Strange Path setzt das alles nicht ganz so zusammen, wie man es erwartet. Die Puzzlesteine passen nicht, wie sie sollen, und manchmal findet der Film auch komplett unerwartete Anschlüsse. Etwa wenn dem Filmregisseur aus heiterem Himmel sein Handy geklaut wird. Dramaturgisch ist die Funktion der Szene klar: Jetzt ist der arme Tropf erst recht isoliert. Aber dann sitzt er in der nächsten Szene vor einer Polizistin, die, anstatt seine Anzeige aufzunehmen, erst einmal ausführlich auf ihrem eigenen Mobiltelefon herumtippt.

Ein wenig Selbstkritik

Kritik ist nichts ohne Selbstkritik. Ist es, frage ich mich, wirklich nur Zufall, dass mir auf dem Festival bislang Filme von Männern, die auf individuelle Expression zielen, besser gefallen als Filme von Frauen, die auf kollektive Erfahrung verweisen? Vorläufig rede ich mich damit heraus, dass die Schuld in der tristen Ökonomie des gegenwärtigen Arthousekinos zu suchen ist, das Frauen (tendenziell) die Last schwergewichtiger Themen aufbürdet und Männern (tendenziell) das Privileg des persönlichen Ausdrucks gestattet; und sei es, wie im Falle Parentes, um den Preis prekärer Low-Budget-Randständigkeit. Aber, siehe oben: Ich behalte auch mich selbst im Auge.

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