Knurrige Männlichkeit auf engem Raum: Karacho 2024
Oberschurken in Mabuse-Tradition, das alte Europa, gefiltert durch Hollywood-Pulp-Fantasien, Jerry Goldsmiths zwischen Intellekt und Affekt pendelnde Filmmusik und weiße Ratten in der Nürnberger Altstadt. Eindrücke vom 9. Festival des Actionkinos.
Zwei Filme in einem: Sudden Impact

Clint Eastwoods Sudden Impact (1983) fühlt sich für mich an wie zwei Filme in einem. Im ersten Drittel gibt es zunächst einmal ordentlich Fanservice, handelt es sich doch (und wohl nicht ursprünglich so konzipiert) um den vierten Teil der Dirty-Harry-Reihe. Inspector Harry Callahan ballert sich, ohne je ernsthaft in Bedrängnis zu geraten, wie ein RoboCop durch die Straßen, Diners und Autobahnüberführungen San Franciscos. Wie gewohnt gefällt dieses lakonische Ausmerzen von allerlei „Punks“ Callahans Bürokratenvorgesetzten überhaupt nicht. Es kommt, wie es kommen muss: Er wird widerwillig in den Urlaub geschickt, beziehungsweise ist der Kompromiss, dass er auch im nahe gelegenen Hafenstädtchen San Paulo in einem Mordfall ermitteln darf. Hier nimmt gewissermaßen der zweite Film Gestalt an, der bereits kurz zu Beginn aufblitzte, als eine sonnenbebrillte Blondine vor der majestätischen Kulisse der Golden Gate Bridge ihr Date über den Haufen schoss.
Die Serienmörderin Jennifer Spencer feuert ihren männlichen Opfern zunächst in die Genitalien, dann zwischen die Augen. Ihr Gesicht in Nahaufnahme verrät, dass sie leidet – aber sie macht weiter. Wie im San Francisco von Vertigo (1958) gibt es im San Francisco von Sudden Impact keine Zufälle, alles ist schicksalshaft verwoben, und so ist Jennifer bereits in San Paulo, als Harry eintrifft. Sie lernen sich kennen, noch nicht wissend, dass er sie jagen muss und ihr die Zeit davonläuft, die Vergewaltigung ihrer Schwester durch die Einwohner des Städtchens zu sühnen. War das erste Drittel von Sudden Impact noch eine rastlose Onelinershow, legt sich nun ein gespenstischer Schleier über die Filmwelt. Wenn aus dem Nichts der blonde Todesengel erscheint (hier musste ich an Denzel Washingtons ähnlich irreale Figur im 80er-Hommage-Actioner Equalizer 3, 2023, denken), ist es bereits zu spät. Eine Handlung gibt es in Sudden Impact eigentlich kaum mehr, bloß Raumfolgen und Revolverschüsse. Nur Eastwoods Callahan spielt nach wie vor nach seinen eigenen Regeln. Dirty Harrys verkniffene Visage ist die letzte Verbindung, die einem zum „ersten Film“ bleibt.
Uneitler Behauptungsversuch: Im Nest der gelben Viper

Zugegeben, es gab bessere Filme auf dem diesjährigen, wieder einmal facettenreichen „Karacho“ als die rumpelige deutsch-italienische Low-Budget-Produktion Im Nest der gelben Viper (1964), ein Eurospy-Vertreter, der die meines Erachtens ohnehin nicht allzu hohen Qualitätsnormen der an globetrottende Bondstreifen angelehnten Agenten- und Spionagefilme konstant unterbot. Und doch bin ich sicher, dass ich einige Bilder aus Wolfgang „Die Mädels vom Immenhof“ Schleifs Film nicht so schnell vergessen werde. Da wäre beispielsweise die heruntergedimmte Divenhaftigkeit von Moria Orfei, die in ihrer italienischen Heimat häufig in Pepla (Sandalenfilmen) auftrat und hier nun mit leerem Blick am Schminktisch sitzend eine zwischen Anmut und Verzweiflung pendelnde Schurkin spielt. Das Syndikat, dem sie angehört, nennt sich Vipernbande und schießt gern Schlangengift aus kleinen Silberröhrchen, während die Identität des Oberschurken in guter alter Doktor-Mabuse-Tradition selbst den Handlagern ein Rätsel bleibt.
Da muss erst CIA-Spezialagent von Dongen (Hellmut Lange) kommen, um am Originalschauplatz Kapstadt mal ordentlich aufzuräumen. Die hübsch violett-bräunlichen Filmbilder können den Apartheidsgeist jedoch kaum übertünchen, der durch jede Szene weht. Von diesem, wenn man so will, dokumentarischen Kern will Im Nest der gelben Viper selbst natürlich nichts wissen. Alles soll unverfänglich bigger than life sein – was selten gelingt. Schön ist etwa der Folterkerker, im Grunde eine Bretterbude, die man mit Tapete im Steingemäuerlook versah. Oder das Geheimlabor, das aussieht, als hätte die Kamera aus dem eigentlichen Set herausgeschwenkt und eine halb leere Requisitenkammer des Studios abgefilmt. Das klingt alles vielleicht gehässiger, als ich es meine. Es macht (zumindest bis sich doch Verschleißerscheinungen einstellen) Spaß, dem Film bei seinem uneitlen Versuchen zuzuschauen, auch diesem Kino der bloßen Behauptung eine Chance zu geben.
Tilman Schumacher
Blood & Thunder: Filmmusiken von Jerry Goldsmith

Mit einer Hommage an Hollywood-Filmmusik-Legende Jerry Goldsmith (1929-2004) ehrte das Karacho zum zweiten Mal das Werk eines im Actiongenre besonders produktiven Filmkomponisten. Obwohl Goldsmith Dramen und intime Stoffe stets Action- und Genrefilmen vorzog und sich in Hollywood tendenziell „typecasted“ fühlte, vertonte der Komponist über hundert Produktionen im Action- und Thrillerbereich, darunter Klassiker wie Rambo (First Blood, 1982) oder Total Recall (1990). Dabei folgte er dem Grundsatz, jedem Filmprojekt mit der gleichen Ambition zu begegnen und selbst dramatisch wenig ergiebige Stoffe nach Subtexten zu erkunden, an die sich ein griffiges – und nicht selten hochenergetisches – Musikkonzept anknüpfen ließ.
So baute Goldsmith auf den historischen Hintergrund des mexikanischen Bürgerkriegs, vor dem der erste Film der Hommage 100 Gewehre (100 Rifles, 1969) spielt, seine Idee einer tumultösen Revolutionsmusik auf. Lebensbejahende mexikanische Folklore trifft hier auf modernistische orchestrale Dissonanz und einen erbarmungslosen akademischen Formalismus, der deutlich in der Ästhetik der Zweiten Wiener Schule wurzelt. Wie in Tom Gries’ Film prallen auch in der Musik Welten aufeinander – wobei man Goldsmiths konzeptionellem Intellekt durchaus einen galligen Kommentar zutrauen mag, wenn er die deutschen Traditionen von Satzstrenge und Kontrapunkt vorrangig dem mexikanischen Militär und damit dem Faschismus zuordnet.
Auch im zweiten Film der Hommage, John Milius’ in Marokko angesiedelten Abenteuerfilm Der Wind und der Löwe (The Wind and the Lion, 1975), gelingen Goldsmith differenzierte Auslegungen der Filmhandlung, diesmal auf der Ebene der Hauptfigur. Während die maskuline Aggression des Berberfürsten Raisuli (Sean Connery) und dessen patriarchale Kultur der Besitzergreifung mit alarmglockenähnlicher Percussion über den Zuschauer hereinbricht, zelebriert das noble Hauptthema die Erhabenheit und Verletztlichkeit eben jener Männerfiguren des Milius-Universums – eine vielschichtige Figurenausleuchtung, wie sie der Komponist auch außerhalb des Actionfachs immer wieder, etwa in Patton (1970) oder Chinatown (1974), kultivierte.
Jedoch, und das zeigt auch Der Wind und der Löwe, sollten sich in Goldsmiths (Action-)Filmmusik Intellektualität und musikalischer Affekt nie im Weg stehen, nie ein kognitives Konzept die unmittelbare Energie der Musik ausbremsen – eine Qualität, die Goldsmiths Kompositionen auf vielen Ebenen rezipier- und analysierbar macht, und den Komponisten als einen von Hollywoods wichtigsten Filmmusik-Pionieren an der Schnittstelle zwischen Genre-Affekt und kunstmusikalischer Tradition auszeichnet.
Sebastian Schwittay
Attitüde trumpft Melodrama: Ronin

Robert De Niro und Jean Reno hocken beieinander in einem altmodischen französischen Bistro und beraten sich: Mehr knurrige Männlichkeit auf engem Raum geht kaum. Das Testosteron-Level ist auch sonst außerordentlich hoch in Ronin (1998), mit Stellan Skarsgård, Sean Bean und Jonathan Pryce, dessen Figur den wunderbaren Namen Seamus O’Roarke trägt, sind noch drei andere vorzügliche Haudegen an Bord. Selbst Natascha McElhone, die einzige Frau im Agententeam, um dessen Eskapaden sich die Handlung dreht, wäre, meine ich ihrer prägnanten Kinnpartie anzusehen, lieber one of the boys. Das feminine Gegenprinzip verkörpert in dem in dieser Hinsicht noch ausgesprochen altmodischen Film stattdessen in einem fast schon magischen Cameo-Auftritt Eisprinzessin Katarina Witt – ätherisch, schwerelos, todgeweiht.
Ein sehr männlicher, sehr physischer Film, auch ein sehr alteuropäischer. Allerdings ist alles Europäische hier gefiltert durch Hollywood-Pulp-Fantasien. Schon im Titel schwingt Jean-Pierre Melvilles Der eiskalte Engel (Le Samouraï, 1967) mit – ein Ronin ist ebenfalls ein japanischer Schwertkämpfer, allerdings ein herrenloser. Soll heißen: Die alten moralischen Codes gelten nicht mehr, man tut aber noch so, als ob. Attitüde trumpft Melodrama. Die handgemachten Actionszenen sind ohnehin von Gottes Gnaden, die zwei besten und längsten werden irgendwann im Louvre neben Warhol und Rothko hängen, als kinetisch-handgreifliche Höhepunkte der Nachkriegsmoderne. Nebenbei wird, als angenehmer Nebeneffekt eines Schusswechsels, wie gegen Ende eine Radiomitteilung durchgibt, auch noch der Nordirlandkonflikt beigelegt. So waren sie, die Neunziger.
Das kalte und das heiße Böse: Girls on the Loose

Wo die Fiktion in Ronin gewissermaßen aus allen Nähten platzt, andauernd auf Dinge außerhalb ihrer selbst verweist: die Drehorte, die Schauspieler, die Zeitgeschichte und so weiter, da ist sie in Paul Henreids Girls on the Loose (1958), ganz im Gegenteil, so genügsam und hermetisch in sich verschlossen wie nur möglich. Soll heißen: Die Welt, in der dieser Film spielt, reicht keinen Millimeter hinaus über die Geschichte, die er erzählt, über die fünf Frauen vor allem, die in seinem Zentrum stehen, gemeinsam eine Bank überfallen und sich anschließend gegenseitig an die Gurgel gehen.
Großaufnahmen von Frauengesichtern in der Nacht: Daraus besteht der Film zu weiten Teilen, zumindest in meiner Erinnerung. Besonders oft sehen wir die Frauen im Auto, sie fahren von hier nach da und sind doch nirgendwo zu Hause. Männer tauchen nur sehr gelegentlich auf, gerade mal oft genug, um klarzustellen, dass sie den Frauen genau zwei keineswegs miteinander kombinierbare Optionen eröffnen: sexuelle Lust oder die Ehe. Das männliche Lustobjekt macht selbstverständlich filmisch mehr her als der potenzielle Ehemann und hat ebenso selbstverständlich viel zu wenig screen time. Was die Frauen betrifft, so eröffnen sie den Zuschauern, und natürlich auch den Zuschauerinnen, ebenfalls genau zwei Optionen: das kalte Böse (Mara Corday) und das heiße Böse (Joyce Barker). Ich wähle Letzteres.
Lukas Foerster
And we wanna get loaded: Wild Angels

Zwei kleine Jungen krabbeln im Laufstall, im Vorgarten eines neu gebauten, ärmlichen Vorstadt-Reihenhäuschens. Die Kamera ist dicht dran, duckt sich und schaut durch einen Lattenzaun; löblicherweise filmt sie oft aus der Froschperspektive und an Hindernissen vorbei. Ein größeres Brüderchen fährt ins Bild, auf einem Stütz-Fahrrad. Es umrundet seine staunenden Geschwister – und ab davon, in die Freiheit. Die Mama kann es diesmal noch einholen. Doch um die Ecke lungert schon das glänzende Motorrad, gegen das Hänschen klein fast geprallt wäre. Ein junger Mann (Peter Fonda) guckt lässig vom Sattel herab. Er heißt „Blue“, und es ist, als hätte man seine Entwicklungsgeschichte gerade im Zeitraffer gesehen. Er fährt los in den Film, Musik setzt ein: Davie Allen and The Arrows’ Surfrock-Instrumental Blue’s Theme.
Das Aufsässige und Herausfordernde des Songs passt gut zu Blue, dem mageren, ziemlich schönen, aber auch ziemlich bösen Wolf. Mürrisch und cool beobachtend, ist er mit seinen Kumpels von der Rockergang „Wild Angels“ meist latent auf Krawall gebürstet. Sie sind keine Sympathen. Zu viele dumme Sprüche, zu viel selbstrechtfertigende Anti-Moral. Der Film feiert das nicht und lässt ernsthafte Kritik zu Worte kommen: den Vorarbeiter, der sich über die zur Schau getragenen Hakenkreuze und Eisernen Kreuze empört. Den sarkastischen Bestatter, der den fingierten Totenschein für ein ärztlich unterversorgtes, verstorbenes Wild-Angels-Mitglied nicht ohne sarkastische Kommentare ansieht („Wer hat das unterschrieben, ein Tierarzt?“). Den würdevollen und interessierten Pfarrer, der die Totenmesse hält und sich dabei von den Angels Pöbeleien anhören muss. Blues stolze Antwort auf seine Frage, was sie mit ihren Leben anfangen wollen, wurde ikonisch: „We wanna be free. We wanna be free to do what we wanna do. We wanna be free to ride. We wanna be free to ride our machines without being hassled by the man. And we wanna get loaded“.

Ich habe dieses spontane Gedicht zum ersten Mal als Sample im Intro eines Songs von Mudhoney gehört. Ende der 1980er, in der martialisch sägenden Fuzz-Orgie In and Out of Grace. Auch Primal Scream machten was draus, in Loaded. Diesen Wesenszug kann ich an den Angels besser nachvollziehen: frei sein, rumfahren, übertreiben, feiern, auf den Putz hauen. Der Film auch, kommt es mir vor. Corman hat bei den Hells Angels recherchiert und sie für ihren Rat bezahlt; einige spielen als Komparsen mit. Nachher waren sie sauer über das, was draus wurde, aber der Film ist toll. Er hat diese herausfordernde Lebendigkeit, Tempo, eine eigene Art von Frische. Drehbuch, Kamera, Schnitt, das oft wie winterliche, diffuse Licht, besonders im Naturschutzpark mit den Nadelbäumen: Alles hat das gewisse Etwas. Und lauter echte Schauplätze, habe ich später nachgelesen.
PS echte Schauplätze: Wir haben, unterwegs in der Nürnberger Altstadt, zweimal an ganz verschiedenen Ecken eine große weiße Ratte gesehen. Das hat, wie sehr ich es mir jetzt auch für den Textzusammenhalt wünsche, mit den Wild Angels nichts zu tun. Aber das ist doch wirklich ein Ding. Ich weiß es zu schätzen, dass ich solche Zufälle erleben darf, statt so was Banales wie einen Lottogewinn.
Silvia Szymanski
Hinweis: Sebastian Schwittay ist Teil des Karacho-Programmteams.
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