Kino ohne Pflichtbewusstsein – Il Cinema Ritrovato 2018

Nicht nur weil sein Programm fast ausschließlich aus historischen Filmen besteht, unterscheidet sich dieses Festival deutlich von anderen: Kino wird in Bologna als Genuss verstanden. Warum man hier trotzdem über Gesellschaft, Politik und Sexualität nachdenken kann, zeigt beispielhaft eine Reihe über den italienischen Regisseur Luciano Emmer.


Die Via delle Lame ist die Hauptschlagader des Il Cinema Ritrovato und verbindet die verschiedenen Kinos des Retrospektiven-Festivals miteinander. Ungefähr in ihrer Mitte befindet sich die zwar prominent platzierte, dabei aber doch recht unauffällige Bar Jimmy, bei der man zu fast jeder Tageszeit einkehren kann (nicht unbedingt, weil sie die erste Wahl wäre, sondern vor allem, weil sie nah ist und etwas sympathisch Unaufgeregtes hat). In diesem Jahr erkannte man die Bar kaum wieder. Der alte Tresen aus Holz und falschem Marmor war zwar nicht wirklich schön, aber er hatte doch einen gestrigen Charme. Nun musste er einem cleanen, weißen, vermutlich modern gemeinten Design mit kubischen Lampen weichen.

Zu gemütlich?

Auch an andere Modernisierungen musste man sich auf dem Festival, wo die Schlangen vor dem Kino jedes Jahr ein bisschen länger werden, gewöhnen. Die einschneidendste Veränderung betraf das von vielen gefürchtete Cinema Jolly, das mit seiner kaum funktionierenden Belüftung schon so manchen Gast an den Rand des Kollapses brachte. Die – wie man hört, nach zahlreichen Beschwerden installierte – neue Klimaanlage macht das Kino nun wieder uneingeschränkt besuchbar, was besonders deshalb erfreulich ist, weil dort in der Regel auch die schönsten Reihen laufen: In diesem Jahr waren sie etwa dem immer noch recht unbekannten US-amerikanischen Melodramatiker John M. Stahl, Neuentdeckungen aus der frühen Tonphase der Fox-Studios sowie dem italienischen Regisseur Luciano Emmer gewidmet.

Nachdem man nun nicht einmal mehr im Jolly schwitzen muss, passt es ganz gut, dass Kollege Andrey Arnold gerade in einem Text sein Unbehagen darüber ausdrückte, dass ihm das Il Cinema Ritrovato mittlerweile etwas zu gemütlich geworden ist. Grob zusammenfassen kann man seine Vorbehalte damit, dass die Kulisse hier ein bisschen zu offensiven Urlaubs-Charakter hat, das Publikum zu selbstgenügsam ist und Filmreihen mit widerständigem, auch explizit politischem Kino (wie in diesem Jahr etwa das Cinema-Libero-Programm) zwar existieren, aber zwischen alten Technicolor-Kopien, frühem Hollywood-Kino und eventartigeren Vorführungen wie Karbonlicht-Projektionen und live vertonten Stummfilmen beinah untergehen.

Einige Kritikpunkte kann ich gut verstehen. Zum Beispiel, dass in Bologna überwiegend typisches Kinematheken-Material gezeigt wird: Also Filme, die, selbst wenn sie lustig sind, noch einem ernsthaften und bürgerlich gediegenem Kunstanspruch genügen. Genrefilme, die nicht durch einen anerkannten Auteur geadelt werden, oder gar Exploitation sucht man hier dagegen meist vergeblich. Als wirklichen Mangel habe ich das aber schon deshalb noch nie wahrgenommen, weil die Grenzen des Programms dann doch so weit ausgedehnt werden, dass man am Ende höchstens darüber nachdenkt, was man alles verpasst hat – statt darüber, was erst gar nicht gezeigt wurde.

Die Gemütlichkeit habe ich dagegen immer als Qualität des Il Cinema Ritrovato gesehen. Festivals sind oft genug ziemlich triste Veranstaltungen, bei denen nicht nur unattraktive Schauplätze und das geschäftige Drumherum auf die Stimmung drücken, sondern auch die etwas eintönige Art von Filmen, die dort präsentiert werden. Gerade im Sommer und gerade in einer Stadt wie Bologna steht das Draußensein dagegen in einem ständigen Konkurrenzverhältnis zum Kino, der Letzterem aber durchaus guttut. Eben weil man hier auch jederzeit im Park abhängen oder sich unter Arkadengängen betrinken könnte, muss sich das Kino auch ein bisschen mehr anstrengen, um einen anzulocken – was ihm aber auch gelingt. Das Schöne an Bologna ist, dass einen hier nicht das Pflichtbewusstsein ins Kino treibt, sondern die Lust.

Dass hier deshalb mehr Leute klassisches Hollywoodkino schauen als Filme, die sich dem Bruch mit der Illusion, dem Voyeurismus oder der linearen Erzählung verschrieben haben, liegt in der Natur der Sache. Ähnlich abgeschmackt wie das Klischee vom leidenden Künstler ist das Bild eines leidensfähigen Zuschauers, der irgendwas aushalten muss, um zur Erkenntnis zu gelangen. Das heißt natürlich nicht, dass es nicht auch etliche Filme gibt, die jenseits der Konventionen Sinnlichkeit entdecken. Aber ebenso wenig bedeutet es, dass man mit populären Erzählformen nicht ebenso relevant über Gesellschaft, Politik und Sexualität nachdenken kann.

Überall lauernde sinnliche Versuchungen

Luciano Emmers fürs Kino fast ausschließlich in den 1950er Jahren entstandene Werk (fürs Fernsehen arbeitete er noch bis kurz vor seinem Tod im Jahr 2009) ist mit acht Spielfilmen überschaubar. Bei den Einführungen fiel immeer wieder der Begriff des pink neorealism – eine Weiterführung des Neorealismus in eine stärker komödiantisch geprägte und frivolere Richtung, man könnte auch sagen, zu einem entschiedeneren Hang zum Unterhaltungskino. Emmer ist hier also mit seinen scheinbar gemütlichen Filmen genau am richtigen Ort. Sie sind von einer erotischen Grundspannung durchsetzt, erzählen von sinnlichen Versuchungen, die überall lauern, und vor allem vom Flirten als einem elementaren, mit vollem Einsatz betriebenen Lebensritual. Bis ein Paar einmal zueinander gefunden hat, kann es zwar eine Weile dauern, aber das Bedürfnis nach welcher Art von Liebe auch immer ist so groß, dass schon die Annäherungsversuche selbst zum Teil des Vergnügens werden. Sie können aber auch schmerzlich ins Leere laufen, wie in der schön zotigen und auch recht finsteren Komödie Parigi è sempre Parigi (1951), in der die Umwerbenden derart hoffnungslos ihren romantischen Projektionen verfallen sind, dass sie sich nicht mehr auf den Menschen einlassen können.

Die Antriebskraft der Figuren ist häufig die Suche nach Spaß. Dementsprechend spielen die Filme etwa in Vergnügungsvierteln von Großstädten wie Rom, Paris und Amsterdam und verlieren sich bei ihren ausgedehnten Streifzügen immer wieder im Getümmel. Emmers Filme kommen so ziellos flanierend und unbeschwert elegant daher, dass man oft ein wenig braucht, bis man die bitteren Geschichten, die sich dahinter verbergen, erkannt hat. Denn im Mittelpunkt stehen meist die Unterprivilegierten. Jene, die an die urbane Peripherie gedrängt wurden, die am Fließband oder als Gastarbeiter in Kohleminen schuften müssen. Jene also, die nur sozial aufsteigen können, wenn sie als Männer kriminell werden oder sich als Frauen einem reichen Kerl an den Hals werfen. Emmers Filme erzählen zwar häufig von einer Realitätsflucht, aber gerade diese führt die Figuren erst zu einem ausgeprägteren Bewusstsein.

Emotional aufgeladenes Wimmelbild

Ein schönes Beispiel dafür ist Ein Sonntag im August (1950), in dem Emmer, wie meist, verschiedene Erzählstränge kunstvoll miteinander verwebt. Es geht um Römer, die an einem sommerlichen Feiertag einen Ausflug zum Strand in Ostia machen. Aus diesem Freizeitevent entsteht ein sozial und emotional aufgeladenes Wimmelbild. Oft geht es dabei um den Wunsch, die eigene prekäre Herkunft und damit jegliche Vorbestimmtheit auszulöschen. Gruppen wie eine Gang junger Rennradfahrer und eine sich unaufhörlich gegenseitig beschimpfende Großfamilie erzählen nebenbei auch von der auf Abhängigkeit basierenden Wechselbeziehung zwischen Individuum und Gesellschaft: Ein Junge und ein Mädchen lösen sich aus der Gruppe, machen sich schamlos gegenseitig vor, aus einer reichen Familie zu stammen, verlieben sich ineinander und müssen am Ende feststellen, dass sie im selben Wohnblock zu Hause sind. Das Kollektiv ist dabei Segen und Fluch zugleich. Es bildet einen nicht unbedingt liebenswürdigen, aber doch irgendwie abgesicherten Hort, zu dem man immer wieder zurückkehren kann, hemmt aber auch den Freiheitsdrang des Einzelnen.

So müssen die Figuren auch das eigene Begehren immer wieder mit dem abgleichen, was für ihr Umfeld moralisch akzeptabel ist. In Die Drei vom Spanischen Platz (1952) gibt es gleich mehrere Mädchen und Frauen, die irgendwo zwischen familiären Fesseln, gesellschaftlichem Druck und persönlicher Selbstverwirklichung ihren eigenen Weg finden müssen. Lucia (Liliana Bonfatti) ist eigentlich in einen aufgeweckten und feschen Jockey verliebt, der aber eben auch deutlich kleiner als sie ist. Das Grübeln, ob sie vielleicht doch noch etwas Besseres bekommen könnte, führt sie in absurde Situationen und in die Arme eines ironischerweise ungewöhnlich großen Mannes. Emmer beherrscht es in solchen Momenten genial, auf der Klaviatur der Komödie zu spielen und zugleich auch etwas über die Fallstricke des Opportunismus zu erzählen.

Genuss dringend gebraucht

Vielleicht passt sein Werk auch deshalb so gut nach Bologna, weil beide eine ähnliche Rahmung haben. So wie das Festival ein Setting schafft, das vor allem darauf ausgerichtet ist, Filme zu genießen, benutzt der Regisseur populäre Erzählmuster, Situationskomik und Erotik, um dem Genuss nicht nur zu huldigen, sondern auch um zu zeigen, warum er so dringend gebraucht wird. Zumindest das Il Cinema Ritrovato könnte sogar noch ein bisschen gemütlicher werden. Es ist zwar zweifellos eine Stärke des Festivals, sich betont cinephil zu positionieren, aber gerade die oft überlangen Einführungen (deren Laufzeit sich durch die Übersetzungen meist nochmal verdoppelt) rauben einem jene kostbare Energie, die einem dann auf der Zielgeraden des Films fehlen. Vielleicht sollte man auch hier ein wenig vom etwas akademischen Kontext abrücken und Einführungen mehr wie kleine Appetithäppchen verstehen, die einen nicht schon vor Beginn des Films sättigen, sondern die Lust auf ihn verstärken.

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