Kino hinterm Fenster: Unknown Pleasures #11

In der elften Ausgabe von Unknown Pleasures naht der Weltuntergang im Intimen. Außerdem gibt es Neues von Alex Ross Perry und Jim McKay und das Gesamtwerk einer gewieften Einbrecherin in den Boys Club des New Hollywood.

Wo man das Kino sich als ein Fenster vorgestellt hat, verortete man in der Regel die Welt dort draußen und uns Zuschauer hier drinnen. Die erste Einstellung von The Hottest August kehrt das um: Eine Hausfassade ist zu sehen, aus einem der Fenster schaut alsbald ein Kerl heraus und fängt an zu erzählen, irgendwann zwängt sich sein Sohn dazu und ergänzt. Es geht um die Siedlung, die Arbeit, die Gewerkschaft und auch um die Migranten, die ohne Gewerkschaft, die ihr Gehalt nach Hause schicken, statt es auszugeben, die, auch deshalb, irgendwie schon ein Problem sind, sagen die Leute im Fenster.

Die Kanadierin Brett Story hat sich im August 2017 im Großraum New York auf Spurensuche begeben, Menschen getroffen, beobachtet und nach ihrem Verhältnis zur Zukunft befragt. Man hat schon viele eher betulich-schlichte Filme mit diesem Ansatz gesehen, aber Storys Szenarien sind sorgsam ausgewählt, verbinden das Disparate durch das Kommende. Selten explizit, aber irgendwie immer geht es auch um den nahenden Untergang, eine Sequenz ist mit Zadie Smiths Klimawandel-Essay „Elegy for a Country’s Seasons“ unterlegt, und ein afroamerikanischer Künstler hat einen Kühlanzug gebastelt, mit dem er sich Passanten als Besucher aus der Zukunft vorstellt.

Kleinode und Nachgeholtes

Ein paar Filme gucken raus und berichten davon, was hinter der Fassade Amerikas so abgeht, so funktioniert das Unknown-Pleasures-Festival, das auch in diesem Januar in Berlin eine Rundschau durch unabhängiges US-amerikanisches Filmschaffen ermöglicht. Ähnlich angelegt wie The Hottest August ist Sarah Christmans Essayfilm Swarm Season, dessen Schauplatz allerdings kaum weiter entfernt sein könnte. Nicht New York, sondern Hawaii, wo im Schatten eines Vulkans Bienen gezüchtet werden, wo gegen Großprojekte protestiert wird und die NASA zum Leben auf dem Mars forscht. Auch hier geht’s also durchaus prä-apokalyptisch zu.

Neben solchen intimen Kleinoden irgendwo zwischen Essay, Dokumentation und behutsamen Fiktionalisierungen wartet Unknown Pleasures auch in seiner elften Ausgabe wieder mit größeren Produktionen auf, die es aus wenig erfindlichen Gründen nicht in die deutschen Kinos geschafft haben. Im letzten Jahr brachte das Festival Paul Schraders grandiosen First Reformed nach Berlin, in diesem Jahr wird das bislang unbekannte Vergnügen von Boots Rileys Racial-Capitalism-Satire Sorry to Bother You einem Berliner Publikum zuteil. Ebenfalls bereits aus dem letzten Jahr ist die jüngste Zusammenarbeit zwischen Regisseur Alex Ross Perry (zuletzt Queen of Earth und Golden Exits) und Elizabeth Moss. In Her Smell spielt Moss eine abgewrackte Punkrockerin und lässt alle seelischen Hüllen fallen.

Eine ganz besondere Retro

Die erneut von Hannes Brühwiler kuratierte Reihe wartet in diesem Jahr zudem mit einer besonders empfehlenswerten Retrospektive auf, die sich mit dem Filmschaffen von Elaine May beschäftigt. May ist eine der wenigen Frauen, die in den frühen 1970er Jahren in den Boys Club des New Hollywood eingebrochen sind. Während Barbara Loden nach ihrem erst in den letzten Jahren angemessen gewürdigten Wanda (1970) keinen weiteren Film mehr finanziert bekam und Drehbuchschreiberin Carole Eastman ihre Ankündigung, Regisseurin zu werden, nie in die Tat umsetzen konnte, setzte sich May immer wieder auch gegen Widerstände von männlichen Schauspielern und Produzenten durch. Das Festival zeigt alle ihrer vier Regiearbeiten: A New Leaf (1971) und The Heartbreak Kid (1972) vom Beginn des Jahrzehnts, Mikey und Nicky mit John Cassavetes und Peter Falk in den Hauptrollen aus dem Jahr 1976 und schließlich Ishtar (1987), der erst eine gute Dekade später entstand, ein Kassenflop wurde und die Regisseurin später bitter-schelmisch schlussfolgern ließ: „Wenn alle Leute, die Ishtar hassen, den Film auch gesehen hätten, wäre ich jetzt eine reiche Frau.“

Und dann gibt es da noch eine ganze Reihe an aktuellen Spielfilmen zu entdecken: Give Me Liberty von Kirill Mikhanovsky etwa ist eine skurrile Komödie ohne Geschwindigkeitsbegrenzung um einen Krankentransportfahrer und seine russische Familie, Tyler Taorminas Ham on Rye dagegen ein Traum von einem Highschoolfilm, im wahrsten Sinne des Wortes. Gespannt sein darf man auch auf die Rückkehr von Jim McKay ins Kino. Nach seinen drei Filmen Girls Town (1996), Our Song (2000) und Everyday People (2004) arbeitete McKay vorwiegend im TV- und Serienbereich, bis er sich 2017 mit En el séptimo día einer Gruppe mexikanischer Immigranten in New York gewidmet hat. Noch so ein Film, der nach seinem Debüt in Locarno vor zwei Jahren außerhalb der USA keinen regulären Kinostart bekommen hat und dank Unknown Pleasures nun in Berlin zu sehen sein wird.

Flagge ohne Deutungshoheit

Was sich mal wieder bestätigt: Unknown Pleasures ist ein polyphones Vergnügen, das die Gegenwartsanalysen und Synthesen beiseitelässt und die großen Fragen konsequent nach unten delegiert, lieber genau in die Fenster reinguckt, als die Fassade zu dekorieren oder zu dekonstruieren. Die Funktion der US-Flagge in The Hottest August ist dafür ein schönes Beispiel: In einer Vielzahl an Einstellungen sieht man die ewigen Stars and Stripes, aber über kein Bild haben sie Deutungshoheit. It’s not „really about America“, Amerika hängt oder weht halt mit im Kader rum. Und konkurriert dort mit Werbe-T-Shirt-Aufdrucken wie „Fish and so much more!” oder Stickersprüchen wie „What happens in the garage stays in the garage”. Mehr noch als die artikulierten Gedanken und Hoffnungen der Befragten tut sich in diesen Slogans ein leises Begehren nach etwas anderem auf, der Wunsch nach einer Welt, nach pleasures yet unknown.

Das gesamte Programm gibt es hier

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