Kino der Außenseiter – US-Independent-Filme 2010
Der US-amerikanische Independent-Film steckt in einer schweren wirtschaftlichen Krise. Ein Blick in eine Filmszene, die zwischen Aufbruch und Stillstand steht.

Wie in keinem anderen Land beherrscht in den USA die Diskussion über die Zukunft des Kinos und des Filmemachens die Schlagzeilen. Es geht weniger um ästhetische Fragen, vielmehr dreht sich das Interesse um handfeste wirtschaftliche Aspekte. Wo und wie können Filme in Zukunft angeschaut werden? Wie generiert man Interesse beim Publikum für einen bestimmten Film? Und wie lässt sich Geld verdienen? Diese Fragen haben besonders für den Independent-Film weitreichende Konsequenzen. Denn im Vergleich zu anderen Ländern gibt es in den Vereinigten Staaten von Amerika kaum Fördermöglichkeiten für Filme. Doch nicht nur die fehlende Förderung verschärft diese Fragen. Der Independent-Film steckt in einer schweren wirtschaftlichen Krise. Miramax, das einstige Flaggschiff des unabhängigen Films, ist in der Bedeutungslosigkeit versunken, die meisten Hollywood-Studios haben ihre Subunternehmen, die speziell für den Independent-Markt gegründeten wurden, wieder geschlossen, und aufgrund der Finanzkrise fällt es Filmemachern immer schwerer, private Geldgeber zu finden.

Zwar steigt von Jahr zu Jahr die Anzahl der produzierten Filme – Stichwort Digitalisierung – doch gelingt es kaum einer Produktion, ihre Kosten wieder einzuspielen. Im Jahr 2009 wurden unglaubliche 274 unabhängig produzierte Filme veröffentlicht, deren kläglicher Anteil am Gesamtumsatz betrug dabei lediglich 1,2 Prozent. Zum Vergleich: 1993 erschienen 63 Filme auf den amerikanischen Leinwänden bei einem Umsatz von 1,9 Prozent und im Jahr 2000, auf dem Höhepunkt des Indie-Booms, gab es 129 Filme, die 5,8 Prozent erreichten.
Doch der Independent-Film lebt. Die schwierigen Rahmenbedingungen spiegeln sich allerdings in zahlreichen Filmen wieder. Exemplarisch stehen dafür die Filme von Kelly Reichardt. Sei es das Schicksal der sich in einer Wüste verirrenden Familie in dem Western Meek’s Cutoff (2010) oder die einsame Reise der jungen Heldin durch die USA in Wendy & Lucy (2008), in Reichardts Filmen trifft eine ruhige und konzentrierte Inszenierung stets auf zerbrechlich wirkende Geschichten, in denen die Figuren verloren nach einer besseren Zukunft suchen. Zusammen mit den Filmen von Ramin Bahrani (Chop Shop, 2006 / Goodbye Solo, 2008), Ryan Fleck (Half Nelson, 2006 / Sugar, 2008) und Lance Hammers Ballast (2008), alles Produktionen, die sich an der harten amerikanischen Realität orientieren, wird Kelly Reichardt einer Gruppe von Filmemachern zugeordnet, die die New York Times in Anspielung auf den italienischen Neorealismus treffend mit Neo-Neorealismus bezeichnete.

Doch auch in einem weiteren Aspekt ist die Arbeit von Kelly Reichardt typisch für eine bestimmte Richtung des Independent-Films: In den vergangenen Jahren entstanden einige Filme, die überraschend mit Genre-Elementen arbeiteten. Mit seiner kühnen Mischung aus Thriller und Liebesfilm gelang Aaron Katz mit seinem dritten Spielfilm Cold Weather (2010) einer der besten Indies der letzten Jahre. Als seine Exfreundin plötzlich verschwindet, ahnt Doug Schlimmes. Zusammen mit einem Freund, der sich in die junge Frau verliebt hat, macht er sich auf die Suche nach ihr. Katz gelingt eine großartige Balance zwischen Liebesfilm und Thriller, zwischen Komik und Spannung.
Man wünscht Cold Weather einen großen Erfolg an der Kinokasse, wäre es doch nicht nur eine Bestätigung für Aaron Katz, sondern auch für eine Gruppe von Filmemachern, die man unter dem Begriff Mumblecore zusammenfasst. Zum ersten Mal tauchte das Wort in Zusammenhang mit Andrew Bujalskis Mutual Appreciation (2005) auf. Es bezeichnet Ultra-Low-Budget Filme, die sich meist um die Beziehungen von jungen Erwachsenen drehen und zum großen Teil durch Improvisationen entstehen. Neben Aaron Katz und Andrew Bujalski gehört vor allem Joe Swanberg zu den zentralen Figuren dieser Gruppe. Die Tatsache, dass diese Filmemacher nun einen Schritt aus dem engen Rahmen der Mumblecore-Filme machen, straft die Kritiker Lügen, die in diesen Arbeiten nur belanglose und jugendhafte Proben sahen. Mumblecore mag zwar dem Hype nicht ganz gerecht werden, doch entstanden eine ganze Reihe von gelungenen Filmen, die sensibel die kleinen alltäglichen Dramen ergründen.

Mit Hamilton (2006) und Putty Hill (2010), der im vergangenen Jahr im Forum der Berlinale gezeigt worden ist, gelangen Porterfield zwei wichtige Werke, die eine andere Richtung als die Mumblecore-Arbeiten einschlagen. In semidokumentarischer Art porträtiert Porterfield in Putty Hill den Alltag einer Gruppe von Jugendlichen. Ihr Leben ist geprägt von den verzweifelten Versuchen, ihre Träume zu verwirklichen – und den damit verbundenen Frustrationen. Putty Hill ist ein zerbrechlich wirkender Film, der mit stiller Wut die Umstände, in denen sich die Jugendlichen befinden, anprangert. Dabei bezieht Matthew Porterfield mit seiner Kritik an den in den USA herrschenden Ungleichheiten eine klare politische Position, die man nur selten im Independent-Kino antrifft.
Hannes Brühwiler leitet das Berliner Filmfestival Unknown Pleasures. Vom 01.01. bis 16.01.2011 sind im Babylon Mitte aufregende Neuentdeckungen im amerikanischen Indie-Sektor zu machen. Das komplette Programm ist unter www.unknownpleasures.de einsehbar.
Top 10 US-Independent-Filme 2010
Cold Weather, Aaron Katz
Putty Hill, Matthew Porterfield
Open Five, Kentucker Audley
Meek’s Cutoff, Kelly Reichardt
Get Out of the Car, Thom Andersen
Vapor Trail, Clark, John Gianvito
Trash Humpers, Harmony Korine
And Everything Is Going Fine, Steven Soderbergh
Littlerock, Mike Ott
John‘s Gone, Benny und Josh Safdie
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