Kino als Unfall und Erlebnis: Die Filme des Ulli Lommel
Vom deutschen Alain Delon zum erratischen Essayfilmer: Die Karriere des Ulli Lommel verbindet Fassbinder mit Warhol, Lederhosenfilme mit Slashern, Kunst mit Küblböck. Das Berliner Zeughauskino widmet ihm ab Freitag eine Retrospektive. Über einen Regisseur, der sich nicht darum scherte, wie die Dinge auszusehen haben.

Im linken Teil des Bildes stehen ein Priester und ein heiratswilliges Paar auf dem Kamm eines Hügels, hinter ihnen der Himmel. Der rechte Teil wird von der entfernten, aber trotzdem noch monumentalen Kuppel des Peterdoms ausgefüllt. Wenig später sehen wir einen größeren Ausschnitt der Perspektive. Der Hügel links nimmt den Großteil des Bildes ein. Auf einem Pfad nähern sich die Freunde von Bräutigam Fox (Curd Jürgens) von unten der Trauung. Rechts: Rom im Tal, der Petersdom alles bestimmend. Diese beiden Panoramabilder thronen über dem Beginn von Ulli Lommels Der zweite Frühling (1975).

In vielerlei Hinsicht handelt es sich hierbei um den Gegenentwurf zur Eröffnungseinstellung von Werner Herzogs Aguirre, der Zorn Gottes (1972). Auch dort befindet sich links ein Berg, während rechts Wolken einen Abgrund verhängen. Der Nebel lässt vereinzelt seine geisterhaften Finger über den Rücken des Berges ziehen. Gespenstisch schleichen Pest, Krieg, Hunger und Tod durch das Bild. In Rom dagegen scheint die Sonne. In den Anden schleppt sich auch keine feuchtfröhliche Gesellschaft den Hügel hinauf, sondern spanische Konquistadoren und versklavte Indios vom Machu Picchu hinab. Bei Herzog ist das Bild 4:3 und klaustrophobisch, bei Lommel in einer raumgreifenden Scope-Breite. Dort unterbricht kein Schnitt die strenge Sequenz, hier wechseln die Einstellungen unbekümmert hin und her. Die Bilder gleichen sich auffällig und sind doch ganz anders.
Unbekümmerte Besessenheit

Ende der 1960er Jahre war Ulli Lommel nach Hauptrollen in Rudolf Thomes Detektive (1968) und in Rainer Werner Fassbinders Debüt Liebe ist kälter als der Tod (1969) kurzzeitig so etwas wie der Posterboy des Neuen Deutschen Films. Der deutsche Alain Delon, den vor allem Fassbinder in ihm sah. Es war der frühe Höhepunkt seiner Karriere als Schauspieler. Daraufhin folgten kaum noch Hauptrollen, nicht einmal bei Fassbinder, der ihn zwar noch oft, aber nicht mehr zentral besetzte. Die Haarlinie wanderte schnell nach hinten, was dem Image als Beau etwas abträglich war – noch im Alter mit diversen Kopfbedeckungen war die verletzliche Schönheit des Gesichts aber immer noch zu sehen. Schon 1971 wechselt Lommel also hinter die Kamera und fand dort eine weitere Leidenschaft, die ihn bis zu seinem Tod im Jahr 2017 umtreiben sollte.

Mit Herzog, Fassbinder und Wim Wenders teilte er diese Obsession fürs Filmemachen – die IMDb zählt 66 Regiearbeiten in einer Karriere, die größtenteils unter prekären finanziellen Bedingungen stattfand. Seine Filme hatten eine distinkt artifizielle Note und waren durchzogen von wiederkehrenden Motiven (Spiegel, er selbst als väterliche Figur, mit düsteren Untertönen) und Themen (Serienmörder oder sich ermächtigende Frauen). Als Autor seiner Filme war er wie die drei Genannten unverwechselbar. Was ihn von diesen großen Figuren des Neuen Deutschen Films jedoch unterschied: Seine Filme waren unbekümmerter, und er hatte keine Berührungsängste mit der Unterhaltungsindustrie und ihrem „Schund“.
Systematische Garstigkeit

Die Zärtlichkeit der Wölfe von 1973 erzählt die Geschichte des Serienmörders Fritz Haarmann. Es war Lommels erster Achtungserfolg – und alle seine Erfolge blieben solche, denn auch wenn er sich populären Formen zuwandte, kam er doch nie im Mainstream an. Dieser Film war noch sichtlich Kunst und konnte den Einfluss Fassbinders kaum verbergen, schon allein, weil Kurt Raab die Hauptrolle spielte. Bald darauf zeigte sich aber die Unabhängigkeit und der Eigensinn einer Filmo- wie Biografie, die immer etwas widerborstig und launig sein sollte. 1974 folgte die Lederhosensexkomödie Jodeln is ka Sünd’ (1974), in dem er die Befindlichkeiten des Fassbinder’schen Kinos direkt in den Schwank überführte.

Zwei befreundete Prostituierte gehen darin zwei exemplarische Wege und offenbaren die Kläglichkeit und Heuchelei der Bundesrepublik. Die eine heiratet und versucht unter polizeilichem Druck den Ausstieg in die Bürgerlichkeit. Die andere investiert ihr Geld in einen Hostessenservice und versucht, vom Gewinn zu leben, anstatt weiter mit ihrem Körper zu arbeiten. Liebe und Sex stehen bei beiden Wegen beständig in ökonomischen Zusammenhängen. Die bürgerliche Elite, die sich gegen den Sittenverfall organisiert, blättert neben der Ehefrau auf der Hollywoodschaukel sitzend heimlich in Hardcorepornomags und träumt vom Flatrate-Tarif bei einer der Hauptfiguren. Pädophilie und Inzest dienen für flaue Witze, sind Teil der beklemmenden guten Laune. Diesen Ansammlungen des Unbehagens, die die Lederhosenfilme darstellen, gab Lommel eine systematische Garstigkeit bei.

Der zweite Frühling erzählt entsprechend von „La dolce vita“ mit einer ganz deutschen Deftigkeit. Klatschkolumnist Fox möchte auf die alten Tage ein Buch schreiben und seriös leben, er bekommt aber die Schweinereien nicht aus sich heraus. Neben einem exaltierten Genderdiskurs in fantasievollen Bildern erhalten wir dabei auch tiefen Einblick unter das Handtuch von Fox, wenn der in der Sauna sitzt. Oder es gibt diese unglaubliche Darstellung seiner Promiskuität, wenn sein fleischiger Körper artistisch quer über Couchlehne und Frau drapiert liegt.
Von Warhol zu Carpenter

Die Einstellungen vom römischen Hügel sind in ihrer Differenz zu Herzogs Anden eben deshalb so sprechend, weil sich darin versinnbildlicht, dass selbst in garstigen Porträts einer Klasse und eines heruntergekommenen Menschen die Verbissenheit fehlt. Wo andere also nach einem künstlerischen Ausdruck suchten, Sex und Gewalt ausbeuteten oder gute Unterhaltung bieten wollten, da schien es für Lommel diese Unterscheidungen gar nicht zu geben. Diebische Freude, Ungezwungenheit und eine im Laufe der Jahre zunehmende naive Romantik finden sich in Filmen Ulli Lommels noch an den düstersten Orten der Seele.

Ende der 1970er Jahre zog er in die USA. Dort wurde er kurz Protegé von Andy Warhol. Den beiden dabei entstandenen Filmen war die direkte Rauheit von Warhol und seinen Kollaborateuren anzumerken. Nur wirken die jungen Erwachsenen in Cocaine Cowboys (1979), die Kokain im Wert von 2 Millionen Dollar schmuggeln und Probleme mit der Mafia bekommen, eher wie Freunde auf einem Campingausflug, die am Strand reiten und dabei etwas Gangster spielen. Der Übergang von Hippietum zu No Future ist hier bitterlich abzulesen, kommt aber doch ohne Tragik aus. Es verschiebt sich nur das konkrete Bild, das jene Menschen herstellen, die nach hippen Ausdrucksformen suchen.

Danach drehte Lommel 1980 The Boogeyman, der sichtlich im Fahrwasser von John Carpenters Halloween (1978) entstand. Der übernatürliche Slasher war sein größter Erfolg und machte das Genre des Horrors zum Haupthabitat seines restlichen, ausufernden Werkes. In den 1980er Jahren – ob es nun Hitchcock- und Märchen-Variationen waren (Olivia, 1983), Jahrhunderte überspannende Hexenverfolgungen (Totentanz der Hexen/The Devonsville Terror, 1983) oder Faschisten-übernehmen-die-USA-Rockopern (Strangers in Paradise, 1985) – werden die Zusammenhänge aber assoziativer. Aus der Realität ziehen sich die Filme zunehmend in die Köpfe der Figuren respektive in den Kopf ihres Autoren zurück. Was für so einige Highlights sorgte.
Von Poe zu Küblböck

Nur waren die Filme spätestens in den 1990ern in der Obskurität angekommen – inhaltlich und bezüglich ihrer Produktions- und Vertriebsbedingungen. Je mehr sich Lommel auf Stock footage verlassen musste, je mehr er sein eigenes Werk sampelte – in Zodiac Killer (2005) ist jede Rückblende, jede Darstellung der vergangenen Taten von Serienmördern oder einfach nur die Filme im Fernsehen aus einem anderen seiner Filme entnommen –, desto eher werden die Filme zu erratischen Essayfilmen, die mit ihren Vampiren, Serienmördern und Geistern um das seelische Wohl der Figuren rangen.

The Raven (2006) etwa besteht größtenteils aus einer völlig geschmacksunsicheren Raserei, die wie das filmische Äquivalent von Christian Marclay-Platten wirkt. Darin liegt eine Frau im Bett, die ihren Vergewaltiger tötete. Ihrem Geisteszustand entsprechend steht Edgar Allen Poe am Fuße des Bettes und rezitiert sein berühmtes Gedicht „Der Rabe“, das er gleichzeitig in fiebriger Schrift auf ein verschmiertes Blatt Papier krakelt. Verfolgt wird die Frau von einem Traumwesen aus ihrer Kindheit, einem glatzköpfigen Mann, ihrem Peiniger nicht unähnlich, der böse geworden ist, dem Federn gewachsen sind und der alle Menschen um sie herum tötet. Es ist so schon ein seltsamer Ritt, aber dann hält der Film auch noch vor den Morden an und dort in Ambientlöcher, in denen minutenlang nichts geschieht, außer dass der fedrige Mörder atmet und die Opfer beschaut.

Es ist diese Phase, in der Lommels notorischster Film entsteht. Auf dem Höhepunkt des Daniel-Küblböck-Hypes kommt es durch alte Kontakte zu Peter Schamoni dazu, dass er einen seiner um Gut und Böse ringenden Essays mit einer Doku über Küblböck verbindet. Daniel, der Zauberer (2004) hat einen infernalischen Ruf. Er steht aber genauso für einen Regisseur, der sich nicht darum scherte, wie Dinge auszusehen haben. Der Film ist gleichzeitig ein Unfall, von dem kaum zu erklären ist, wie er entstehen konnte, und ein Erlebnis, das von dem tiefsitzenden Glauben beseelt ist, dass Filme völlig verschroben, düster, fröhlich und aufrichtig sein können. Und liefert damit die perfekte Zusammenfassung einer sehr abwegigen Karriere.
Zum Programm der Reihe geht es hier.
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