Kindeswohl - Cannes 2025

Mit Adam’s Sake und Enzo stellen die Eröffnungsfilme der Semaine de la Critique und der Quinzaine des Cinéastes junge Menschen ins Zentrum, deren jeweiligen Probleme sich zum Gesellschaftlichen hin öffnen. Ganz ohne Holzhammer.


Adam’s Sake

Der Konflikt dreht sich um die Frage, was hinein soll ins Kind. Der 4-jährige Adam hat sich den Arm gebrochen, doch auf der Kinderstation eines belgischen Krankenhauses wird eine Fehlernährung festgestellt. Pflegerin Lucy (Léa Drucker) verzweifelt bald an Adams alleinerziehender Mutter Rebecca (Anamaria Vartolomei), die nicht nur keine Sekunde von ihrem Kind weichen will und dabei jegliche Regeln und Besuchszeiten ignoriert, sondern auch sehr eigene Vorstellungen über dessen richtige Ernährung hat, das Krankenhausessen heimlich wegwirft.

Stets eng begleitet von Frédéric Noirhommes Handkamera bewegt sich Lucy (gespielt von Léa Drucker, der es wie immer mühelos gelingt, einen Film fast allein zu tragen) fortan durch das unübersichtlichen Amalgam aus Gängen, Katakomben, Warte- und Behandlungszimmern – auch ohne zu wissen, dass Luc Dardenne den Film mitproduziert hat, würde man bei Adam’s Sake an die Dardennes denken. Verspricht die Pflegerin auf der einen Seite der jungen Mutter immer wieder, sich dafür einzusetzen, dass diese über Nacht bei ihrem Kind bleiben kann, versucht sie auf der anderen Seite, den vorschriftstreuen Stationsarzt davon zu überzeugen, dass sie die Sache im Griff hat. Eine Bewährungshelferin, ein Chefarzt und Adams Vater samt neuer Frau mit Baby sind auch mit im Spiel, zwischendrin wollen andere Patient*innen behandelt und gepflegt werden.

Verletzliche Körper

Regisseurin Laura Wandel gelingt es hervorragend, den konkreten Fall von Adam und seiner Mutter nicht künstlich zu isolieren, sondern organisch in den Krankenhausalltag einzuflechten. Die chronische Unterbesetzung der Station wird nicht erklärt, sondern erfahrbar gemacht, ebenso die notwendig ausschnitthafte Begleitung unzähliger Leben für den Moment eines Krankenhausaufenthalts, die das Personal so professionell wie empathisch erledigen muss. Auch die Kinder sind nicht symbolische Abkürzung für Zukunft und Unschuld, menschliches Gegenstück zum anonymen System, sondern verletzliche Körper, die behandelt werden müssen, aus denen Schläuche geholt, von denen Blut abgezapft, die an Beatmungsgeräte angeschlossen werden.

Das titelgebende Kindeswohl ist Fluchtpunkt aller Handlungen, zugleich auch immer ein Vorwand für die Figuren, die eigenen Interessen durchzusetzen, das eigene Selbstbild zu behaupten oder alles mögliche zu projizieren. Überhaupt zeichnet sich Adam’s Sake durch eine existenzielle Ambivalenz aus, die über die (auch für uns im Publikum) klareren ethischen Dilemmata der Dardenne-Filme hinausgeht. Spätestens, wenn der Film in seiner letzten Sequenz doch noch das Krankenhaus verlässt, wenn Lucy Rebecca in ihr Auto packt und auf einmal nicht mehr engelsgleich vom Weiß der Krankenhauswände umrahmt, sondern ins Dunkel der Nacht eingehüllt wird, finden wir uns jenseits aller Gewissheiten wieder, verschwimmt die Grenze zwischen Hilfe und Nötigung endgültig.

Enzo

Auch im Eröffnungsfilm der Quinzaine des Cinéastes steht gewissermaßen ein Kindeswohl im Zentrum, auch wenn Enzo (Eloy Pohu) schon 16 ist und im Gegensatz zu Adam klar ausdrücken kann, was er möchte: nämlich Bauarbeiter werden. Seine bürgerlichen Eltern finden das zwar etwas irritierend, haben ihrem Sohn aber doch das Praktikum auf einer Baustelle verschafft, wo Enzo jetzt mehr schlecht als recht spachtelt, kleistert und verputzt; und einmal so schlecht, dass sein Chef ihn zum frühen Feierabend zwingt und nach Hause fährt, um mit Enzos Eltern zu sprechen.

Was folgt, ist eine jener seltenen Szenen, in denen Klassenunterschiede ganz ohne Holzhammer, eher über leichte Irritationen, per Schnitt und Schauspiel, vermittelt werden. Die plötzliche Verunsicherung und fast Ergebenheit des Maurermeisters angesichts der für ihn unerwartet bourgeois eingerichteten Wohnung ebenso wie die Selbstverständlichkeit, mit der Enzos Eltern ohne große Mühe und gönnerhaft ihren verunsicherten Gast mit offenen Armen empfangen, so professionell verständig sind, dass der seine Kritik am Lehrling kaum noch äußern kann.

Mit Leben angereichert

Einen Vorläufer Enzos findet man in Jack Nicholsons Bobby Dupea im New-Hollywood-Klassiker Five Easy Pieces, der seine Herkunft in einer Musikerfamilie verleugnete und in einem Arbeitermilieu verschwand, das er zugleich fetischisierte und verachtete. Auch Enzo hält den eigenen Eltern die Klassenprivilegien vor, fragt die irritierte Mutter einmal im Auto, wie viel sie verdient, und auch Enzo fühlt sich dann doch nicht ganz so wohl beim Lunch-Picknick mit den Kollegen von der Baustelle und ihren Frotzeleien. Einen echten Freund – und einen weiteren Fetisch der Intensität – findet er im ukrainischen Bauarbeiter Vlad, und je mehr dieser im Film ankommt, desto stärker wird Enzo ein Film, in dem mehr Platz hat als die erratische Leugnung der eigenen sozialen Herkunft seines Protagonisten. Mit dieser Verschiebung riskiert der Film viel, doch weder verrät er seinen Protagonisten noch den eigenen Blick auf die feinen Unterschiede.

Laurent Cantet hat diesen Film gemeinsam mit Robin Campillo ersonnen und geschrieben, bevor er im letzten Jahr verstorben ist. Campillo hat den Film schließlich fertiggestellt, “un film de Laurent Cantet, réalisé par Robin Campillo” heißt es im Vorspann schlicht und schön. Es ist ein würdiges Vermächtnis für Cantet, der für Filme wie Die Klasse (2008) oder Auszeit (2001) bekannt geworden ist. Wie schon diese Filme beweist auch Enzo, dass es die individuellen Geschichten sind, die einen genauen Blick aufs Gesellschaftliche ermöglichen, hier etwa auf Klassenverhältnisse, auf erwachendes Begehren, auf die neuartige Kriegsrealität in Europa. Nichts davon wird bloß illustriert, sondern vielmehr mit filmischem Leben angereichert. Das Riff auf die berühmte Kaminszene in Call Me By Your Name haben sich Cantet und Campillo am Ende dann auch verdient.

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