Kampfsport und Gewässer: Locarno 2024 (1)

Ein tragischer Vorfall am See, ein heißer Tag am Fluss und ein abenteuerlicher Monat in Jordanien. Neue Filme von Laurynas Bareiša, Willy Hans und Kurdwin Ayub in den Wettbewerben vom Filmfestival Locarno.


Tragödie im Konjunktiv

Der Lago Maggiore ist von den meisten Festspielstätten des Filmfestivals von Locarno aus zum Glück nicht so richtig zu sehen, denn Gewässer sind unheimlich und gefährlich hier, zumindest auf der Leinwand. Der See am abgeschiedenen Landhaus sucht die Filmgeschichte ja ohnehin heim, und weil in Laurynas Bareišas Drowning Dry (Seses) die tragische Szene am Privatsteg gleich zweimal auftaucht, wird sie mir wohl ebenso in Erinnerung bleiben wie andere kleine und große Seedramen, von Todsünde (Leave Her to Heaven, 1945) zu Wenn die Gondeln Trauer tragen (Don’t Look Now, 1973), von Funny Games (1997) zu Matthias & Maxime (2019).

Ins litauische Landhaus von Drowning Dry sind die beiden Schwestern Ernesta (Gelmine Glemzaite) und Juste (Agne Kaktaite) unterwegs, gemeinsam mit ihren Männern Lukas (Paulius Markevicius) und Tomas (Giedrius Kiela) und den Kindern. Schon in den Szenen der Ankunft am Domizil betont Bareiša das doing gender: wie sich Lukas, der in der Anfangsszene des Films blutend, aber siegreich aus einem MMA-Kampf hervorging, aufs Bett und damit fast in den gesamten Bildrahmen wirft und erstmal chillt, während Ernesta im Hintergrund ganz selbstverständlich die Klamotten in die Schubladen räumt; wie Tomas sich unbeholfen, unsexy, aber erwartungsfroh vor Juste auszieht, die ebenfalls gerade mit Orga beschäftigt ist, und sich den verdienten Korb abholt. Wir beobachten diese Konstellation erstmal so weiter, ahnen vielleicht schon, dass etwas passieren wird, dass das nicht alles sein kann.

Nachdem dann etwas passiert ist, wechselt Drowning Dry vom Indikativ in den Konjunktiv. Die Tragödie am Privatsteg, die vorerst im Off bleibt, hat existenzielle Folgen, eine Ellipse verschluckt die unmittelbaren Nachbeben, danach ist alles anders und wir müssen uns erst einmal neu orientieren, bevor eine Rückblende nochmal anders ansetzt, das Geschehene am See leicht verschiebt, als könnte man die Zeit zurückdrehen – oder spielt hier einfach nur die Erinnerung einen Streich, wird uns nur hier doch nur die einzig wahre Wahrheit enthüllt, nur eben nach und nach?

Die genauen Mittel, mit denen Bareiša die Erzählweise dieses Films irritiert, sind weniger entscheidend als der Zweck der Irritation: Denn tatsächlich geht es Drowning Dry nicht so sehr um den Schock des Ereignisses, wie dieses Ereignis also die Figuren aus der Bahn wirft, traumatisiert, wie man mit Verlust umgeht. Sondern darum, wie sich das Ereignis angebahnt hat, was es wahrscheinlich werden ließ. Es geht um Risikofaktoren.

So führt der Film denn auch große Tragödie und doing gender zusammen: Als zentrale Figur entpuppt sich Tomas, der immer wieder die Unterlegenheit in Sachen Alpha-Männlichkeit gegenüber seinem MMA-Schwager zu kompensieren versucht, ihn zum Sparring herausfordert, mit einem waghalsigen Überholmanöver fast einen Unfall provoziert, schließlich sein eigenes Kind in Lebensgefahr bringt und von Lukas retten lassen muss.

Drowning Dry funktioniert, weil Bareiša seine Figuren nicht einfach nur benutzt, um seinen Punkt zu machen, sondern diesen Punkt konsequent aus dem stets plausiblen Verhalten seiner Figuren herausarbeitet. Kein Schicksal schlägt hier zu, sondern menschliche Handlungen haben ihre individuellen wie gesellschaftlichen Gründe, und manchmal eben furchtbare Konsequenzen.

Flucht am Fluss

Auch in Der Fleck, dem Langfilmdebüt des Schweizer Regisseurs Willy Hans, steht ein Gewässer im Mittelpunkt, auch hier ist eine Gruppe von Menschen an diesem Gewässer auf sich allein gestellt, aber es gibt keine Tragödie, ja nicht einmal ein Ereignis. Aber auch hier ist mehr als Realismus im Spiel, wechselt Der Fleck doch irgendwann den Modus von impressionistischem Coming-of-Age zu Experimentalfilm. Dann macht sich Paul Spengemanns Kamera schon mal selbstständig, verschwindet im dichten Wald oder lässt sich von Gesteinstexturen faszinieren, hat auf einmal Zugang zu einer völlig anderen Welt als der zwischenmenschlichen, die sie bis dato interessierte.

Schon vorher ist Der Fleck viel stärker und selbstbewusster geformt als Drowning Dry. Hier sind es nicht Schauspiel und Mise-en-scène, die dem Film Leben einhauchen, sondern Kadrierung und Montage. Die ersten 16-mm-Bilder sind sorgsam komponiert und erzählen von einer Flucht: Simon (Leo Konrad Kuhn) hat keine Lust auf Sportunterricht, bleibt erst allein in der Umkleide zurück, verlässt dann das Schulgebäude und slackert durch den langweiligen Ort seines Internats, bis ein alter Bekannter mit Auto ihn einlädt, den Sommertag mit ihm und seinen Freunden unten beim Fluss zu verbringen.

Simon gehört zu den Wortkargen, wird von der neuen Clique wohlmeinend aufgenommen, bleibt aber lieber am Rand, hat höchstens mal Feuer. Erst allmählich schält sich aus der Gruppe so etwas wie ein love interest heraus, die ebenso wortkarge Marie (Alva Schäfer), und Der Fleck erzählt im Mittelteil dann von einer weiteren Flucht: Simon und Marie, die auf der Suche nach Essen die Gruppe verlassen, sich im Wald verlieren, sich necken und erschrecken, sich näherkommen, aber auch nicht so richtig nahe.

Von einer schönen Spannung lebt dieser Film: dort die Lebenswelt der Jugendlichen, die die Zeit totschlagen, auf dem Grat zwischen performter Abgeklärtheit und riskantem Wunsch nach Begegnung wandern; hier die Kamera, für die das alles nichts Neues zu sein scheint, die entweder ganz in Ruhe den Ort vermisst oder den Sturm ausagiert, der vielleicht durch die Figuren fegt.

Einmal erzählt der Älteste in der Runde eine jener Anekdoten, in die man sich manchmal verrennt, wenn man etwas zum Gespräch beitragen will und erst beim Erzählen bemerkt, dass so interessant die Sache gar nicht ist. Obwohl die Einstellung im Close-up bleibt, verschwindet das Gesicht des Erzählenden allmählich im Unscharfen. So wie die Kamera hier die Schärfe, verlagert dieser schöne Film immer wieder seine Aufmerksamkeit, nicht zuletzt auf einen Kindergeburtstag eine Flussbiegung weiter, auf dem ein Mädchen im Roboteranzug wenig Lust hat, mit den Eltern zu telefonieren, Simon und Marie in Sachen Wortkargheit fast noch toppend.

Eine Kämpferin in Jordanien

Weitere Parallelen: Nicht nur Drowning Dry, auch Kurdwin Ayubs Mond beginnt mit einem MMA-Kampf. Nur etabliert der hier kein thematisches Motiv, sondern ist dramaturgischer Ausgangspunkt. Denn die bittere Niederlage ist für Sarah (Florentina Holzinger) so etwas wie das Karriereende und damit auch Einschnitt in ihrer beruflichen Laufbahn. Dem Arbeitsamt erzählt sie, ihre zwanzigjährige Erfahrung nun anderen zugute kommen lassen zu wollen, also fortan als Trainerin zu arbeiten.

Angeheuert wird sie dann nicht in ihrer Heimat Wien, sondern in Jordanien, wo sie die drei Schwestern eines wohlhabenden Typen einen Monat lang trainieren soll; MMA sei schwer im Kommen dort, und die Mädchen bräuchten neben dem normalen Sportprogramm mal was, was ihnen Spaß macht. Schon sitzt Sarah im Flugzeug, mietet sich in einem Hotel mit traumhaftem Blick über Amman ein, erfährt vom Auftraggeber ein paar Bedingungen ihrer Arbeit, und dann steht sie auch schon Fatima (Celina Sarhan), Nour (Andria Tayeh) und Shaima (Nagham Abu Baker) gegenüber, die so mittelmotiviert sind.

Drei Teenager standen schon in Sonne (2022), Ayubs erstem Teil einer geplanten Trilogie, im Mittelpunkt, und es ist ziemlich faszinierend, wie es der im Irak geborenen und in Wien lebenden Regisseurin gelingt, thematische Motive wieder aufzunehmen und fortzuspinnen, obwohl das Setting in Jordanien ein so völlig anderes ist als die Wiener Oberschule. Aber auch in Mond geht es um das Stören klischeebehafteter Bilder islamischer Lebenswelten, auch hier spielt das Kopftuch eine Rolle jenseits der Symbolpolitik, und auch hier fliegt eine Frau, die selbst mit dem Islam wenig zu tun hat, eher aus Abenteuerlust in die sogenannte arabische Welt.

Der scheinbar so klare Auftrag fliegt ihr in dem Maße um die Ohren, wie Mond das Register wechselt und fast zu einem waschechten Genrefilm wird. Das luxuriöse Anwesen wird immer unheimlicher, eine vierte Schwester scheint hier noch irgendwo zu leben, die Auftraggeber werden immer feindseliger, und alles spitzt sich zu einem Showdown zu, in dem die aufgeklärte europäische Feministin erkennen muss, dass die Rettung unterdrückter muslimischer Mädchen mal keine Frage von Role Modeling und Consciousness Raising, sondern von ganz konkreter Fluchthilfe ist.

Wie schon Sonne ist auch Mond so ein Film, der die Zuschauerin mit fast klassischen Mitteln in seinen Bann zieht, während er politisch komplexe Fragen aufwirft. Dass das funktioniert, hat nicht nur mit Ayubs klugem Drehbuch zu tun, sondern auch mit Performance-Künstlerin Florentina Holzinger in ihrer ersten Filmrolle. In Sarah mischen sich prekäre Berufslage und der naive Glaube an die gute Tat und die Transparenz der Welt mit einer den Film erdenden Körperlichkeit, und Holzinger spielt das entgegen ihrem Image eher nach innen als expressiv, bis auf zwei Tanz- bzw. Gesangseinlagen, die ein bisschen too much sein mögen, die ich aber auch nicht missen möchte.

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