Jeder Film war ein Politikum - DDR-Retrospektive in Oberhausen

„Umwege zum Nachbarn“, die Retrospektive der 71. Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen, war den DDR-Filmen in der eigenen Festivalgeschichte gewidmet. Das starre Bild einer von oben diktierten homogenen Filmkultur geriet dabei gehörig ins Wanken.

Wer sich bei den 71. Internationalen Kurzfilmtagen Oberhausen zuallererst für Filmgeschichte interessierte, fand sie bei den Profilen zu Filmemacher:innen wie Dóra Maurer und Dietrich Schubert, auch in der Schau zu Omnibusfilmen der 1980er-Jahre von vorwiegend weiblichen Regieteams sowie bei der neuen Veranstaltungsreihe zu linkspolitischen Filmen des eigenen Festivalarchivs, „What’s left?“. Den größten Raum nahm bei den filmhistorischen, zumeist von analogen Filmkopien präsentierten Sektionen mit neun Programmen das von Felix Mende kuratierte „Thema“ ein, wie die Kurzfilmtage ihre alljähliche Retrospektive etwas umständlich nennen. Ähnlich wie die erwähnte Sektion „What’s left?“ setzte sich das Thema „Umwege zum Nachbarn“ dezidiert mit der eigenen Festivalgeschichte auseinander: Präsentiert wurden Filme der DDR, die zwischen 1955 und 1990 auf dem 1954 gegründeten westdeutschen Festival liefen – oder Werke, denen aus verschiedensten kultur- und festivalpolitischen Gründen ein ursprünglich angedachter Einsatz letztlich von Ost oder West verweigert wurde.

Oftmals scheiterten Vorführungen schon vor Festivalbeginn: Da gibt es Filme, die vom Interministeriellen Ausschuss für Ost-West-Filmfragen seitens der BRD abgelehnt wurden; dann wiederum solche, die die DDR nicht zur Ausreise freigab, oder die sich dadurch verdächtig machten, dass sie das Interesse von Oberhausen weckten. Das heißt: Zwischen 1955 und 1990 war kein DDR-Film einfach ein Festivalfilm unter vielen, sondern (in unterschiedlichem Maße) ein Politikum. Und so ist der Blick auf DDR-Filme in Oberhausen immer auch ein Blick auf Annäherungs- und Abstoßungsbewegungen zwischen der BRD und der DDR – eine deutsch-deutsche Zeitgeschichte en miniature.

Erwartbares und Unerwartetes

Das „Thema“ musste aus den nachweislich rund 150 von der DDR nach Oberhausen geschickten kurz- und mittellangen Spiel- wie Dokumentarfilmen eine kleine Auswahl treffen. Da liegt ein Fokus auf das Typische, auf die Klassiker nahe. Die Auswahl war aber gerade kein solches Best-Of, insbesondere mit Blick auf die Dokumentarfilme des Programms blieb die bloße Aneinanderreihung großer Namen des renommierten DEFA-Dokumentarismus aus. Zwar tauchten einige solche Namen im Programmverlauf auf – Helke Misselwitz, Volker Koepp, Jürgen Böttcher sowie Walter Heynowski und Gerhard Scheumann etwa –, doch legte Kurator Mende sichtlich Wert darauf, von ihnen nicht die geläufigsten Filme auszuwählen. Vielmehr standen filmgeschichtliche Nebenpfade und „Umwege“, wie man es mit dem Reihentitel sagen könnte, im Zentrum.

In der Gesamtschau war die Retrospektive aufgrund dieses unorthodoxen Umgangs mit „Klassikern“, aber doch nicht allein deswegen vielseitig: „Umwege zum Nachbar – Der DDR-Film in Oberhausen“ bot neben einem annähernd chronologischen Querschnitt durch 35 Jahre DDR-Film ein Programm an, das sich – im besten Sinne – als uneinheitlich, selbstbewusst fragmentarisch und von spürbaren persönlichen Vorlieben geprägt beschreiben ließe. Man merkte jederzeit, dass nicht nur das Typische, sondern auch das Unangepasste und Verschroben-Eigenbrötlerische zu Tage gefördert werden sollte.

Mal standen einzelne Filmemacher wie der an Andrej Tarkowskis symbolschwangerer Melancholie geschulte Konrad Herrmann im Vordergrund, mal gruppierten sich die jeweiligen Kurzfilmprogramme um gemeinsame Topoi wie zum Beispiel die Auseinandersetzung mit bildender Kunst früherer Epochen, dem Privatleben hinter den Fassaden der bereits langsam aber sicher erodierenden DDR in den 1980er-Jahre oder aber einem ungeschönt-unheroisch in Szene gesetzten Lebensalltag von Werktätigen, die auf Schutthalden oder in Schwerindustriebetrieben härteste Arbeiten verrichten.

Viele Wege

Dem thematisch wie werkbiografisch breit angelegten, vielfach von anregenden Publikumsgesprächen mit DEFA-Filmemacher:innen, Zeitgenossen und Kennern der DDR-Kulturpolitik (etwa dem als Festivalleiter der Kurzfilmtage von 1975 bis 1985 tätige Wolfgang J. Ruf) flankierten Programm entsprach die Vielseitigkeit der Form, die unterschiedlichen Tonalitäten und Temperamente der ausgewählten Filme. So brachte die Retrospektive brachialen Agitprop wie Walter Heynowskis Kommando 52 (1965) mit spielerisch „unverfänglichen“ Hybriden aus Dokumentar-, Spiel- und Animationsfilm zusammen (etwa der für Volker Koepp ungewöhnlich offen gestaltete Alle Tiere sind schön da, DDR 1983). Die Retrospektive stellte ferner für die DEFA typische, wenn auch bereits in den 1980ern sichtlich „eingetrübte“ Alltags- und Personenporträts (Petra Tschörtners Hinter Fenstern, 1984) neben Formexperimente, die aus Sicht der DDR-Kulturoffiziellen vermutlich gerade noch so am Verdacht des „bürgerlich-dekadenten Formalismus“ vorbeischrammten (Jürgen Böttchers Frau am Klavichord, 1981). Auch Hohelieder auf die „Helden der sozialistischen Arbeit“ – jedoch nach Feierabend (Karl Gass, 1964) – gab es zu sehen, ebenso wie Personenporträts, die vom Konflikt mit dem System durchzogen sind, in denen Widerspruch offen zutage tritt (Bernd Sahlings Aber wenn man so leben will wie ich, 1988, sowie Roland Seiners La Rotonda Vicenza, 1990).

Unmöglich, all diese Facetten auf einen Nenner zu bringen. Statt eines durchgehenden roten Fadens präsentierte die Retrospektive einzelne, mitunter verwobene Erzählstränge, die dem starren Bild einer von oben diktierten homogenen Filmkultur deutlich entgegenliefen. Dennoch spielte selbstredend die große Politik stets eine Rolle, kamen doch Filme im Land des „Klassenfeindes“ zum Einsatz. Auch davon berichtete „Umwege zum Nachbar“. Der Name der Reihe kommt nicht von ungefähr, denn „Wege zum Nachbarn“ war das jahrzehntelange Motto der Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen während der Zeit des Kalten Krieges. Dezidiert sollte damit zum Ausdruck kommen, dass im Rahmen des Festivals eben das erprobt werden sollte, was gesamtgesellschaftlich noch naiv bis illusorisch erschien: eine Annäherung und offene Debatte zwischen West- und Oststaaten nämlich, zwischen BRD, Tschechoslowakei, Polen und Jugoslawien vor allem, aber auch zwischen BRD und DDR.

Eine deutsch-deutsche Collage

Als eine deutsch-deutsche Gemeinschaftsproduktion ließe sich augenzwinkernd einer der bekannteste Film der Retro verstehen, stammen doch die Fotostrecken, die Heynowski in Kommando 52 nutzt, aus einer Reportage des Stern. Der Filmemacher erwarb hierfür die Lizenz, ohne dem DDR-Publikum freilich die westdeutsche Quelle in den Filmcredits offenzulegen. Herausgekommen ist ein monströser, einem alles abverlangender Film. Dokumentarische Gräuelbilder reihen sich aneinander, wobei durchaus nicht immer klar ist, ob sie in dieser schieren Menge für die Aussage, die der Film machen will, nötig sind, oder ob sie schlicht der mit Cinemascope aufwartenden Überwältigungsmaschinerie des Films zuspielen. Alles steht im Zeichen des Maximalismus, Ambivalenzen unerwünscht.

Schwarzweiße Impressionen von getöteten, verstümmelten und vielfach gefolterten Kongolesen ziehen gefühlt nonstop über die Leinwand. Dazu ertönt ein Voice-Over, der aus der Täterperspektive wahlweise obszön nüchtern oder obszön beschönigend den Einsatz des titelgebenden Kommandos im Kongo als ein großes Abenteuer, auch als gerechten Kampf für die Sache des globalen Antikommunismus beschreibt. Mitte der Sechziger Jahre wütete dort „Kongo Müller“, ehemals Oberst der Wehrmacht, mit seiner Söldnertruppe im Auftrag des kongolesischen Diktators Moïse Tschombé. Dieser entledigte sich mithilfe internationaler Söldner linksgerichteter Rebellen und diverser anderer Oppositioneller. Wie Heynowskis Film suggeriert, geschah dies im Fall des westdeutschen Kommando 52 nicht nur mit Billigung der BRD, sondern angeblich in deren Auftrag; der neue-alte Faschismus des Nachbarns sozusagen. Die Auswahlkommission Oberhausens lehnte den in der DDR preisgekrönten Film ab; besagter Interministerieller Ausschuss hätte die schroffe Anti-BRD-Polemik des Films eh nicht passieren lassen.

Prompt folgte im Jahr 1966 eine filmische Retourkutsche der DDR, die einem mit ihrer unfreiwilligen Komik gewissermaßen den Abend rettete, also dabei half, über die Bilder von Kommando 52 ein Stück weit hinwegzukommen: Wink vom Nachbarn wurde unter der Regie Harry Hornigs als Fernsehfilm von Heynowskis und Gerhard Scheumanns Studio H&S produziert und war nie dazu bestimmt, auf den Oberhausener Kurzfilmtagen zu laufen. Dass er dennoch in der Retrospektive zu sehen war, macht schon deshalb Sinn, weil die polemische Reportage direkt die Ablehnung von Kommando 52 thematisiert und generell tief blicken lässt, wie man von offizieller Seite auf das West-Festival blickte.

Oberhausen 1966: Das bedeutet für Wink vom Nachbarn bis zur Unkenntlichkeit verstellte Wirklichkeit, Film als Befriedigung niederster Instinkte, Opium fürs Volk, anstatt ein „Brennspiegel“ von Gesellschaft und ihren Konflikten zu sein. Nicht weniger als eine kulturindustrielle Hölle des schlechten Geschmacks, des entmenschlichten Formalismus und amoralischer Obszönitäten. Zur schlechten Stimmung bei den aus den Sälen drängenden Festivalgästen käme in Oberhausen auch noch das schlechte Essen in der Kantine hinzu (ein interessanter Kritikpunkt ausgerechnet von Seiten der DDR). Nicht nur, dass sich der Film für keine Verkürzung zu schade ist, er wartet auch mit einem sagenhaft steifen Kommentator auf: Gerhard Scheumann, besagter Partner Heynowskis beim Studio H&S, tapst mit seinem Detektiv-Trenchcoat durchs Festival und gibt sich fassungslos ob der „perversen Leinwandexzesse“. Souveräner ist der Blick auf die Stadt und ihre Bewohner. Einmal interviewt das Filmteam Passanten zum Vietnamkrieg: durch die Bank Antikriegskommentare. Auf der Leinwand werden solche Stimmen unterdrückt, heißt es. Zwei Jahre später wird man im Krisenjahr 1968 bei der Internationalen Leipziger Dokumentar- und Kurzfilmwoche kein einziges Wort zum Prager Frühling hören können.

Der Traum vom anderen Leben

Eins der spannendsten Kurzfilmprogramme der Retrospektive lief unter dem schön verrätselten Titel „Nicht aufgehen“. Es versammelte drei Dokumentarfilme, die um Biografien kreisen, die aus unterschiedlichen Gründen nicht in der DDR aufgehen wollten. Das reicht von offener Verweigerung gegenüber dem System bis hin zum Hinausträumen aus dem Hier und Jetzt und der letzten Zuflucht intellektueller Isolation. Der als Übungsfilm an der Hochschule für Film und Fernsehen (HFF) entstandene Aber wenn man so leben will wie ich (1988) ist einer der wenigen Dokumentarfilme der DDR über Subkulturen. Hier schreit einem der Ostberliner Punk der 1980er-Jahre buchstäblich entgegen. Zugleich merkt man dem Film eine gewisse Restdidaktik an, bei aller Empathie für seine Rebellen schwingt ein „humanistischer“ Erziehungsauftrag mit. Punk Michael will ausreisen, sich nicht weiter von der DDR unterjochen lassen, wenn schon, dann aus freien Stücken in der BRD vor die Hunde gehen, statt erneut in den Jugendwerkhof einzuwandern. Michael geht für seinen eigenen Weg über Leichen. Seine Mutter leidet darunter, seine Freundin wirkt ohnmächtig, befragt man sie zum nahenden Ende der Beziehung und der Perspektive angesichts des gemeinsamen Kindes. Merklich meldet der Film Zweifel an, ob Michaels Lebensentwurf wirklich der richtige ist.

Solch eine Beobachtungsweise ist Herwig Kippings auch nach wiederholten Anläufen von der DDR-Regierung für Oberhausen nicht freigegebenem Bahnpostfahrer (1980) fremd. Der titelgebende junge Mann fantasiert sich bei seinen nächtlichen Zugfahrten durchs Land in eine Parallelwelt hinein, aus dem Off wabert atmosphärischer 80er-Electro. Mehr ein sinnlicher, traumgleicher, ganz von seiner verschrobenen Titelfigur eingenommener Parkour als ein Pamphlet gegen den SED-Staat – verunsicherte gerade das die Offiziellen?

Erzählerisch und formal ziemlich ungewöhnlich ist auch das filmische Epitaph auf den marxistischen Philosophen und Architekturtheoretiker Lothar Kühne: La Rotonda Vicenza (1990) stellt nicht etwa in die geistigen Errungenschaften des DDR-Intellektuellen ins Zentrum, sondern umkreist in teils surreal collagierten Bildern von Häusern und Landschaften den Privatmenschen Kühne, der sich als der unangepasste Denker, der er war – so suggeriert es uns jedenfalls der Film – in letzter Konsequenz das Leben nehmen musste. Die leisen Einstellungen von Kühnes Grundschule, anhand derer er früh sein Verständnis von Architektur im Stoffwechsel mit der Natur schärfte, gehören zu den schönsten Bildern des Festivals. La Rotonda Vicenza scheint manchmal so fasziniert von seinen eigenen Bildern, das ein jeder Filmsinn dahinter zurückbleibt.

Quer durchs Land

Ist im emphatischen Porträt Lothar Kühnes als eines zusehends vereinsamten, an den nicht eingelösten Idealen der DDR gebrochenen Denkers symbolisch das Ende der DDR anwesend, so schwingt der 1991 im Deutschen Wettbewerb von Oberhausen gelaufene DDR-Fernsehbeitrag Das war’s, Brüder und Schwestern – Die East-Side Story (1990) ohne jede Verklausulierung die Abrissbirne. So ungefiltert nah wie die Spezialausgabe des DDR-Jugendmagazins Elf 99 kam der Film der DDR wahrscheinlichen selten dem Zeitgeschehen des eigenen Landes: Eine als neo-dadaistische Farce inszenierte Chronik der Ereignisse vom 9. Oktober 1989 bis zum 3. Oktober 1990, eine überfordernd reiche Materialsammlung an Interviews mit Zeitzeug:innen und Kameraspontanitäten.

Das war’s, Brüder und Schwestern ist wie der unangepasste Bahnpostfahrer ein Reisefilm; ein flippiger, investigativjournalistischer Travelogue durch augenscheinlich nicht-blühende Landschaften vor, während und nach der Wende. Es spricht für die Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen, das sie diese mediengeschichtliche, zügig von der Geschichte überholte Obskurität bis in den Wettbewerb hievten. Näher konnte man dem Nicht-mehr-Nachbarn 1991 wahrscheinlich nicht kommen als in diesem Dokument. Obwohl ich gerade noch so in der DDR geboren bin, hatte ich von Elf 99 bislang nie etwas gehört. So musste ich den „Umweg“ über den Ruhrpott nehmen, um davon zu erfahren.

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