Intim und naiv: Panorama 2021

Von der Party zum erotischen Schweigen, von der Eitelkeit in die Aufrichtigkeit, von der Ästhetisierung zur ästhetischen Ausbeutung. Drei mehr oder weniger frei gewählte Filme im Panorama erregen verzückte Elogen und grundsätzliche Rants.


Rough und sanft

Berlinale simulieren für Fortgeschrittene: Mindestens einmal pro Festival gerate ich in der Regel in einen Film, den ich nicht auf dem Schirm hatte, einfach weil ich gerade zufällig zur richtigen Zeit am richtigen Kino bin und mein Glück herausfordere. Wie macht man so etwas bei einem Online-Festival, bei dem man nicht auf Spielzeiten angewiesen ist, sondern selbst sein Tagesprogramm kuratiert? Ich schließe die Dateien mit meinem persönlichen Screening-Programm und den Prioritäten, begebe mich direkt ins sogenannte Berlinale Media Center, wo die Filme zu sehen, aber keine Beschreibungen mehr über sie zu lesen sind, entscheide mich für einen Titel und lege los.

In diesem Fall ein Volltreffer: All Eyes Off Me beginnt im Club, was sich zur Zeit nach Historienschinken anfühlt. Junge, tendenziell queere Israelis beim Feiern. Danny ist schwanger und „lässt sich irgendwann nächste Woche ’ne Abtreibung“ machen, sucht auf der Party einen gewissen Max, der gerade mit einer Frau anbandelt, die er selbst für den absoluten Volltreffer hält. Dass Max wohl für die Schwangerschaft verantwortlich ist, ist so klar wie dem Film sehr bald egal, der lieber neu ansetzt, als etwas auszuerzählen. Die Sequenz im Club ist irgendwann nur noch Prolog für die Geschichte von Max und Avishag, die bald über sexuelle Fantasien reden und sich zum Ausleben verabreden. Und kaum hat man sich auf diese Figuren, auf die vorgeblich nun aber tatsächlichen Themen des Films eingelassen, ist auch diese Geschichte auf einmal nur längerer Prolog für die erotische Begegnung zwischen Avishag und Dror, einem deutlich älteren Mann, für den sie manchmal Hunde sittet.

All Eyes Off Me ist angenehm unvorhersehbar, ohne das als Unique Selling Point vor sich herzutragen, eine anderthalbstündige Ausbremsung, die bei der wilden Party beginnt und bei zwei sehr unterschiedlichen Menschen landet, die nebeneinander auf dem Boden liegen und gemeinsam für zwei Minuten schweigen wollen. Einer hat nichts gesucht, aber gefunden, eine andere etwas gesucht und vielleicht wieder nichts gefunden. Denn ein gewisser Pessimismus, was Intimität angeht, scheint im zweiten Film von Hadas Ben Aroya durchaus vorzuliegen, dann aber auch eine in diesen sozial distanzierten Zeiten so schmerzhafte Sehnsucht nach Nähe. Die schönsten Momente sind aber nicht einmal unbedingt die der roughen oder sanften Zweisamkeit, sondern Avishags stille Momente: wie sie im Park mit ihren Hunden auf dem Smartphone eine Szene aus einer Castingshow anguckt, in der jemand Christina Aguileras „Hurt“ performt, wie sie später mit Rotwein am Pool sitzt, nachdem sie es dank Tutorial hinbekommen hat, Drors Plattenspieler in Bewegung zu bringen.

 

Kein eitler Sonnenschein

Auch North by Current wähle ich eher zufällig aus. Angelo Madsen Minax’ Film catcht mich nicht sofort, auch wenn oder gerade weil er sein Bestes gibt. Allerlei Verfremdungs- und Verwirrungsstrategien bearbeiten eine eigentlich klare Begebenheit: Ein Kind ist gestorben. Und eine Frage wird mühsam verrätselt: War Gewalt oder zumindest Vernachlässigung im Spiel?

Mitunter kommt das ein bisschen eitel daher, eher wie eine Flucht denn wie ein echtes Wagnis erscheinen mir die eingezogenen Meta-Ebenen, mit denen man sich versichert, dass man nicht einfach einen Film über eine tragische Begebenheit und die Betroffenen macht, sondern auch einen Film über das Filmemachen über eine tragische Begebenheit und die Betroffenen. Nur dass die Sache irgendwann aufgeht und North by Current zu einer sehr persönlichen Reflexion über das eigene Aufwachsen, über die eigene Herkunft wird, und über Gewalt in all ihren Ausformungen, begleitet von Julien Bakers erster eigens für einen Film komponierten Musik.

Denn die Mutter des toten Kindes ist die Schwester des Filmemachers, der hier auch und zunehmend vor allem von seiner Rückkehr nach Hause erzählt, und dann von der Geschichte seiner mormonischen Familie im Norden von Michigan. Es geht um das schwierige Verhältnis zu seiner Schwester, um toxische Männlichkeiten und kaputte Justizsysteme, und schließlich auch um Minax’ eigene Vergangenheit als Mädchen. Selbst die vermeintlichen Eitelkeiten, die ungelenken Meta-Spielereien kommen mir auf einmal als aufrichtiger Ausdruck eines ruhelosen Bewusstseins vor. Ein Bewusstsein, das die disparaten Elemente von Vergangenheit und Gegenwart erstmal zusammensetzen muss, um sich mit dem eigenen Selbst auseinandersetzen zu können. Ein Bewusstsein, das vielleicht tatsächlich diesen ganzen Film, diese ganze Kunst gebraucht hat, um die Mutter schließlich fragen zu können, ob sie immer noch denkt, seine Trans-Identität sei die Strafe Gottes für eine frühere Abtreibung.

 

Poverty Poetry

Sehr bewusst habe ich mir dagegen Dirty Feathers angesehen, einen Film über Obdachlose, viele von ihnen drogenabhängig, in El Paso, Texas. Vor allem weil Roberto Minervini als Produzent auftaucht. Aber Regisseur Carlos Alfonso Corral erreicht hier nicht annähernd das, was Minervini mit dem großartigen What Do You Do When the World Is on Fire? geschafft hat. Im Gegenteil erscheint mir der Film als Paradebeispiel für einen neuen (alten?) Voyeurismus im Dokumentarfilm.

Zwar findet auf erzählerischer Ebene keinerlei Romantisierung der Leben dieser zahnlosen, hyperaktiven, geisteskranken Leute statt, die hier erzählen, wohl aber eine Ästhetisierung. Die muss nicht automatisch anrüchig sein, und sie war wohl mal wichtiges Gegengift für einen schlichten Sozialrealismus, der verdientermaßen als Poverty Porn bezeichnet wurde, weil er die Außenseiter in ihrem Elend einsperrte, sie an den Rändern beließ, anstatt sie zumindest für einen Film lang mal tatsächlich ins Zentrum zu setzen, ihre Lebenswelt ernst zu nehmen, sie zu Subjekten ihrer eigenen Geschichte zu machen, sie zu ihrem Recht kommen zu lassen, wenigstens zu einem ästhetischen. Ihnen vielleicht sogar eine filmische Welt zu schenken, die hübsch ist, die den Glanz in ihren Augen, das Begehren nach Leben, ihre Wahrheiten ernst nimmt.

Wenn nun aber Corrals Schwarz-Weiß und die impressionistische Montage die Storys von der Straße umschmeicheln, wenn immer wieder ein 16-jähriges Mädchen, im Presseheft als „haunting conscience“ des Films bezeichnet, im Voice-over mit einer Stimme wie Linda Manz in Terrence Malicks Days of Heaven (1978) ein paar poetische Dinge über die Tonspur raunt, während im Hintergrund eine Chopin-Variation einsetzt, dann fragt man sich doch: zu welchem Ende, und cui bono? Und ist Poverty Poetry so viel besser als Poverty Porn?

Die Ästhetisierung des roughen Lebens bringt hier wohl doch vorwiegend dem Filmemacher die nötigen Distinktionsvorteile ein; die Figuren des Films, diese Menschen im Umfeld des El Paso Opportunity Center, werden dagegen ziemlich ausbeutet. Sie sind es schließlich, die ihren Wahnsinn in die Bilder injizieren, die wiederum erst dadurch zu singulären, zu noch nie gesehenen Bildern werden. Diese Menschen mögen in der Welt da draußen gerade nicht die stolze Arbeiterklasse repräsentieren, sondern die Ausgestoßenen und Unproduktiven. Für das kulturelle Feld des Dokumentarfilms aber sind sie das Proletariat. Mit ihren krassen Lebensgeschichten, eigenwilligen Ansichten, fetten Tattoos, ihren Street-Weisheiten und ihren verlebten Blicken und Stimmen erwirtschaften sie den ästhetischen Mehrwert, den die Filme und Filmemacher abschöpfen und auf Festivals als Transzendenzerfahrung feilbieten. Wenn einem Film die eigene Abhängigkeit von Lebenswirklichkeiten, die sich niemand ausgesucht hat, nicht einmal klar zu sein scheint, wenn er mit den Verhältnissen, aus denen seine Intensitäten geboren wurden, nichts anzufangen weiß, als ein guter, ein schöner, ein eindrucksvoller, ein intensiver Vertreter seiner Art zu sein, dann darf man ihn wohl guten Gewissens als naiv im schlechtesten Sinne bezeichnen.

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