Internationales Programm
Studenten der Universität Regensburg haben im Rahmen einer Übung zum Filmjournalismus das Filmfest München besucht und sich individuell oder in Kleingruppen den verschiedenen Sektionen gewidmet. Einige der Texte finden hier auf critic.de ihre Publikation.
Das Angebot auf dem diesjährigen Filmfest war sowohl groß als auch breit gefächert, vor allem im internationalen Programm: Über 60 Filme aus aller Welt wurden während der acht Tage vorgestellt.
So begann es mit Terry Gilliams The Imaginarium of Doctor Parnassus – dem Eröffnungsfilm des diesjährigen Festes und der Film in dem Heath Ledger seinen letzten Auftritt hat.
Eine fantasievoll gestaltete, wenn auch teilweise etwas mit Computereffekten überladene und unfokussierte Fabel über die magische Gedankenwelt des tausend Jahre alten Doctor Parnassus, der sich mit dem Teufel auf eine fatale Wette eingelassen hat: Die Unsterblichkeit gegen Parnassus 16-jährige Tochter. So nimmt das Duell zwischen Gut und Böse seinen Lauf.
Während hier die Grenzen für den Zuschauer klar gezogen werden, verschwimmen sie bei Five Minutes of Heaven von Oliver Hirschbiegel (Der Untergang, 2004) hinsichtlich der Täter-Opfer-Frage. Ein Film über den Nordirlandkonflikt, seine Auswirkungen auf die Beteiligten und die Gegenüberstellung zweier miteinander auf fatale Weise verbundener Schicksale. Ein schlichtes Portrait eines Prozesses der Wiedergutmachung, das keine Partei einnimmt und zweitweise so authentisch ist, dass es fast dokumentarisch wirkt.
Als alles andere als schlicht kann man das zweite Werk des jungen griechischen Regisseurs Yorgos Lanthimos bezeichnen. In Dogtooth behandelt er das Thema überbesorgter Eltern und wie sich diese Überfürsorge gegenüber ihren drei jugendlichen Kindern entwickelt: Von selbstzerstörerischer Gewalt bis hin zu Misshandlung und Inzest. Ein ausgesprochen verstörendes, abstoßendes und dennoch genial inszeniertes und fesselndes Werk. Als Zuschauer kann man sich kaum zwischen Lachen und Weinen entscheiden, denn zwischen Komik und Tragik verläuft hier nur eine sehr feine Linie.
Des Weiteren ist auch das iranische Stück Shirin von Abbas Kiarostami aufgefallen, denn hier wird die Zuschauersituation einfach umgedreht: So betrachtet man über eineinhalb bewegende Stunden die Gesichter von mehr als hundert iranischen Frauen jeden Alters, während sie sich ein Theaterstück ansehen. Ein wahres Kunstwerk über Emotionen, die über die Mimik sichtbar und nahezu selbst fühlbar werden, denn beim Betrachten ertappt man sich zeitweise sogar selbst völlig mitgerissen von den gezeigten Gefühlen. Sogar die Untertitel werden ab einem gewissen Zeitpunkt komplett überflüssig, da die Sprache der Gesichter keine Übersetzung benötigt.
Neben Shirin waren noch drei weitere Filme aus dem Iran vertreten. Einer von ihnen ist der bemerkenswert lyrische Be calm and count to seven. Er versetzt den Zuschauer in ein kleines iranisches Fischerdorf unter dessen ruhiger Oberfläche es brodelt. Westliche Konsumgüter haben das Leben der Bewohner verändert – zum Guten wie zum Schlechten. Der Film bleibt still, zahlreiche Landschaftsaufnahmen und schweigende Menschen lassen Raum für die eigene Gedanken- und Gefühlswelt des Zuschauers.
In die Liste der besonderen und somit auch erwähnenswerten Filme reiht sich ebenso Samson und Delilah ein – ein australischer Film von Warwick Thornton, der die haarsträubenden Lebensbedingungen zweier abtrünniger jugendlicher Aborigines, die komplett auf sich alleine gestellt sind, thematisiert. Ein sehr ungewöhnlicher Film, der sich nicht vieler Worte bedient, um zum Zuschauer zu sprechen und der den Blickpunkt auf ein selten gesehenes und schreckliches Bild von diesem doch so schönen Land legt. Dass die Protagonisten nur sehr wenig sprechen und sich untereinander sprachlich überhaupt nicht verständigen, wirkt allerdings nicht irritierend, wie man vielleicht annehmen würde, sondern unterstreicht die Stimmung und hindert den Zuschauer nicht am Verstehen.
Aus einer ganz anderen Ecke der Welt kommen die beiden rumänischen Filme Tales of the Golden Age und Hooked.
Ersterer ist ein Episodenfilm von fünf verschiedenen Regisseuren, der das Leben der „kleinen Leute“ unter dem kommunistischen Regime des Diktators Ceausescu zeigt. Mit viel Humor werden Führungspersonen des Kommunismus und ihre abstrusen Gesetze karikiert, wodurch der Aspekt, dass dies die schlimmste Zeit des Landes war, völlig aus dem Blickfeld weicht.
Weniger komisch, dafür umso absonderlicher entwickelt sich in Adrian Sitarus Debütfilm Hooked der Ausflug eines Pärchens, dessen Beziehung von einer unerwartet auftretenden Person in Frage gestellt wird. Auffällig ist die außergewöhnliche Kameraführung, die durchwegs die Perspektive von drei, gegen Ende sogar von vier Personen einnimmt. Auch wenn das anfangs die Orientierung des Zuschauers erschwert, hat es einen produktiven Effekt, da es der Kamera gelingt, Gedanken und Gefühle auszudrücken ohne Worte benutzen zu müssen.
Als einen weiteren herausragenden Film sollte man unbedingt auch The Edge of Love erwähnen – einen Film des bildenden Künstlers John Maybury. Er erzählt die Lebensgeschichte des Dichters Dylan Thomas zu Zeiten des Zweiten Weltkriegs durch zwei außergewöhnliche Frauen, verkörpert von Keira Knightley und Sienna Miller. Die Starbesetzung ist aber nicht unbedingt das Außergewöhnliche an diesem Film: Der Künstler in John Maybury ist allzeit in diesem Film erkennbar, denn jedes Bild ist nahezu malerisch in Szene gesetzt und in Verbindung mit den währenddessen vorgetragenen Gedichten von Thomas, verfehlt er die großartige poetische Wirkung ganz sicher nicht.
Auch einige italienische Filme traten im Jahr 2009 auf dem Filmfest auf. Einer von ihnen ist One Day in a Life der uns einen Tag aus den Leben mehrerer ungewöhnlicher Personen zeigt. Zwar stammen sie aus den unterschiedlichsten Kreisen bezüglich Alter, Herkunft und sozialem Status, doch enthalten ihre Biografien alle niederschmetternde Aspekte, wie Untreue, Bindungsunfähigkeit, oder Aids . Dennoch sieht man sie einen warmen Sommertag mit vielerlei Rauschmitteln an einem römischen Strand verbringen und erkennt die Botschaft, die Regisseur Stefano Tummolini übermitteln möchte: Egal was passiert, das Leben geht weiter.
Auf völlig andere Weise begegnet einem der Film Vinyan, aus Belgien, Frankreich und dem Vereinigten Königreich stammend. Der Regisseur Fabrice du Welz kündigte ihn persönlich auf dem Filmfest München mit den Worten: „This movie is not what you expect. Have fun!“ an. Spaß hat man allerdings nicht wirklich, vielmehr steht man 96 Minuten lang unter Strom.
Verwackelte, beunruhigende Aufnahmen, flirrende Bilder mit verzerrten, fratzenhaften Gesichtern kleiner Kinder und andere albtraumhafte Erscheinungen machen es dem Zuschauer nicht leicht sich einfach nur zurückzulehnen und das Popcorn zu genießen.
Klischees eines Urwaldfilmes werden nicht bedient, vielmehr hebt sich Vinyan von diesen ästhetisch wie narrativ ab. Dadurch erschafft du Welz ein zutiefst verstörendes Meisterwerk, dessen grausame Bilder sich auch einige Stunden nach dem Kinobesuch nicht abschütteln lassen.
Auch Asien ist in der Reihe des Internationalen Programmes zu finden. Dazu gehört The Last Thakur aus Bangladesch, für den das größte Außenset in der Geschichte des Landes errichtet wurde. Sadik Ahmed, ein vielfach ausgezeichneter Kameramann, lässt in seinem Kinodebüt sein ganzes Können zum Tragen kommen und erschafft nicht einen Western unter vielen, sondern ein Werk in dem religiöse und soziale Konflikte mit eingeflochten sind, alles untermalt von der Kinderstimme eines kleinen Jungen, der als Erzähler fungiert.
Ebenfalls mit sozialen Konflikten, allerdings mit wesentlich mehr Tiefgang beschäftigt sich der marokkanische Film Casanegra, der in seinem Heimatland ein riesiger Publikumserfolg war. Er handelt von zwei Jungen aus Casablanca, die einem armen und teils auch äußerst gewalttätigem Milieu entstammen und versuchen, daraus einen Ausweg zu finden. Es wird, wie so oft, nicht die Seite der reichen Bewohner eingenommen, sondern die der Armen, Arbeitslosen und Notleidenden. Casanegra will Empathie beim Zuschauer wecken, wenn möglich sogar einen öffentlichen Diskurs anregen um Casablanca von aller sozialer Ungerechtigkeit reinzuwaschen, auf dass die Stadt ihren Namen wieder verdiene.
Das internationale Programm bestand aus einer Vielzahl von interessanten, vielschichtigen und großartigen Werken, gab Impressionen aus den unterschiedlichsten Ländern und wurde seinem Namen somit vollkommen gerecht.
Marina Braun und Jessica Roch
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