Im Sportinternat - Cannes 2025
Vom Boxen zum Wasserball: Wild Foxes in der Quinzaine des Cinéastes und The Plague im Certain Regard widmen sich der Gewalt von Jungscliquen im Sportinternat – und beide brechen auf ihre Weise das Gerüst des Themenfilms inszenatorisch auf.
Wild Foxes

Wie Mufasa im König der Löwen oder Cary Grant und Eva Marie Saint in Der unsichtbare Dritte hängt Camille (Samuel Kircher) am Abgrund, kriegt gerade noch so den steinigen Boden zu greifen, aber wie lange noch? Ikonisches Bild der Filmgeschichte, und sofort sind wir dabei, hören die Schreie seines besten Freundes Matteo (Faycal Anaflous) und hoffen, dass er es noch rechtzeitig zu ihm hin schafft, aber dann passiert’s: Das tägliche Klimmzugtraining bringt da nichts, die Finger halten nicht mehr, Camille stürzt. Wild Foxes landet mit einem harten Schnitt direkt im Krankenhaus, wo Matteo mit blutbeflecktem T-Shirt im Flur sitzt, ziemlich am Ende.
Der Sturz hat nur für eine tiefe Wunde am Arm gesorgt und ist zum Glück nicht tödlich, auch weil Matteo seinen bewusstlosen Freund allein durch den Wald zurückgetragen hat. Regisseur Valery Carnoy erspart uns den Sturz selbst in seinem Debütfilm, und das ist nicht nur rücksichtsvoll, sondern auch konsequent. Für den Fortgang der Handlung von Wild Foxes sind der eigentliche Sturz und seine medizinischen Folgen nämlich viel weniger entscheidend als die paar Sekunden davor am Abgrund und ihre psychologischen Folgen.
Wild Foxes spielt in einem Sportinternat, und Camille ist der Champ einer Gruppe jugendlicher Boxer, die miteinander trainieren und sich gegenseitig supporten, ein eingeschworenes Team. Bald stehen die internationalen Meisterschaften an, und Camille ist die Hoffnung des Vereins. Er und Matteo träumen schon vom Paris-Aufenthalt während des Turniers und schmieden Pläne. Zwischen den Einheiten gehen sie manchmal in den Wald und hängen rohes Fleisch aus, um Füchse anzulocken – ein Ritual, das es aus der gemeinsamen Kindheit in die gemeinsame Jugend geschafft hat.
Todesangst in der Welt kompetitiver Männerbünde

Mit dem Unfall hält nun die Angst, der Zweifel, die Unsicherheit Einzug in Camilles Leben. Seine berüchtigten Ausweichmanöver kriegt er kaum noch hin, die vernarbte Wunde am Arm tut weh, obwohl die Ärzte ihm versichern, es sei damit alles in Ordnung, nachts begleiten ihn Panikattacken. Und weil Carnoy sein Milieu als eines zeichnet, in dem all dies Zeichen von Schwäche und kein Grund für Hilfestellung ist, ist es bald vorbei mit dem gegenseitigen Support. Camille verliert nicht nur den Nr.1-Spot im Verein, sondern auch den Respekt der Jungs.
Wild Foxes ist ein rasanter, ein intensiver, ein schneller Film, und das nicht nur in den toll gefilmten Boxszenen. Kaum mal weicht die Kamera von Camilles Seite. Seine zunehmende Verzweiflung, sein vernarbter Arm, seine Angst und seine Zweifel, all das erzählt nicht nur das Drehbuch, all das pocht auf der Leinwand.
Diese kleine Dosis Todesangst in die Welt kompetitiver Männerbünde einzubringen, ist eine zwar schlichte, aber effektive Idee, und Wild Foxes verfolgt sie konsequent. Und dann wird die einfache Grundbewegung des Films auch flankiert von schönen Drehbucheinfällen, die weit weniger generisch sind: Weil da, wo die Boxkarriere leidet, Platz für die éducation sentimentale ist, begleiten wir Camille nicht nur in die Angst, sondern auch ins Leben. Das love interest – ein Mädel von nebenan, das Taekwondo macht, aber auch im Wald Trompete übt – bleibt aber zum Glück nur ein interest. Denn schließlich, das deutet der Film beim male bonding über Fabrizio Di Andrés Ballade “Via del Campo” an, ist hier vielleicht auch eine Challengers-artige Liebesgeschichte am Start, zumindest eine Ode an die erste Freundschaft.
The Plague

Auch The Plague findet in einem Sportinternat statt, und auch Regisseur Charlie Polinger nimmt sich für sein Langfilmdebüt eines vom generischen Festivalfilm bekannten Themas an, zieht aber die Zügel an und dreht die Boxen auf. Die Jungs sind hier mit 12 oder 13 Jahren ein paar Jahre jünger als die Wild Foxes, sind aber noch viel grausamer. Ben (Everett Blunck), Protagonist und der Neue in der Wasserballgruppe, bekommt das direkt zu spüren, als er beim ersten Mittagessen für seinen Bostoner Akzent ausgelacht wird und den Spitznamen Soppie (weil er das ‘t’ in “Stop!” nicht artikuliert) bekommt.
Zweite Lektion beim ersten Kantinenlunch: Dazugehören funktioniert über Ausschluss, und das heißt in diesem Fall, sich nicht mit dem leicht autistisch scheinenden Eli (Kenny Rasmussen) abzugeben, der wegen einer Hautkrankheit auch im Wasser ein Sportshirt tragen muss. Diese Krankheit gibt dem Film ihren Namen: “The Plague” nennen die anderen Kids, was eher nach Neurodermitis oder Schuppenflechte aussieht, und verbreiten das Gerücht, die Krankheit sei durch Kontakt übertragbar, wenn man sich nicht direkt gründlich wäscht.
Es geht also um den Horror des Mobbings − weniger als Lehrstück denn als Carrie-Variante, denn Polinger lässt psychische Schocks gern mal in physische übergleiten; Blut und Schmerz sind zumindest als Drohung immer präsent. Auch Eli ist beileibe nicht nur Opfer, sondern auch manchmal Agent des Schreckens, wenn er etwa in der Umkleide so tut, als habe er sich mit einer Schere den Daumen abgeschnitten, um Ben zu verarschen. Überhaupt setzt The Plague dem ruppigen Realismus von Wild Foxes eine hyperstilisierte Form entgegen, die die stakes der frühen Pubertät erfahrbar machen will. Vor allem der Score von John Lenox ist geradezu nervenaufreibend mit seinen Stakkato-Schreien, wie ein das Publikum mobbender Männerchor.
Struggelnd den Schein der Souveränität wahren

Steven Breckons 35mm-Bilder nehmen gern die frühpubertären Gesichter in den Blick – vor allem den Cliquenleader Jake (Kayo Martin), einen so unendlich fiesen wie unschuldig grinsenden Lockenboy, der jede kleinste Schwäche der anderen beobachtet und ausnutzt. Die Kamera interessiert sich aber genauso für die unheimlichen Settings des Internats: das ewige Schwimmbecken, ob am Tag mit viel Gewusel oder nachts schrecklich leer; den Schlafsaal, denn die Nacht bietet sich für Drangsalierungen aller Art besonders an; und, in einer der abgefahrensten Szenen, auch eine Art Hinterhof, in dem die Kids inklusive Eli Müll verbrennen und völlig ausrasten.
Manche der Bilder unter und über Wasser erinnern an einen anderen Film: Schon Celine Sciammas Water Lilies hat den Wassersport und entsprechende Unterwasserbilder – brutal struggelnde Beine, die hart arbeiten müssen, um über Wasser den Schein der Souveränität zu wahren – als Metapher fürs Aufwachsen genutzt. War es bei Sciamma die weiblich konnotierte Welt der Synchronschwimmerinnen, so ist es hier der harte Wasserball, in dem sich Gegner schon mal absichtlich verletzen, um an den Ball zu kommen.
Wie in Wild Foxes läuft es auch in The Plague schließlich auf die Klärung des Verhältnisses zwischen Ben und Eli hinaus, für das die Clique nur der Kontext ist. Ein wenig schematisch spitzt der Film das im letzten Drittel auf die Frage zu, ob Ben sich für die Clique und damit fürs Mobbing oder für die andere Seite entscheidet − eine Frage, bei der Joel Edgerton als Coach nur Phrasen übrighat und wahrlich keine Hilfe ist und. Dass all das Gerede wenig ausrichten kann gegen den Body Horror frühjugendlicher Rangkämpfe, macht Polinger dann im Showdown klar, der, natürlich, beim Ball in der Turnhalle stattfindet.
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