Himmlische Begegnungen – Il Cinema Ritrovato 2024
Auf dem Retrospektiven-Festival in Bologna konnte man dieses Jahr Nahtoderfahrungen miterleben, in eine Luxus-Kinowelt hinabsteigen und (nicht nur) Gläser und Glasschalen mit anderen Augen sehen lernen.
(Fast) alles beim Alten in „la rossa“

2019 hatte ich zum ersten Mal die Ehre und Freude, ein paar Gedanken zu meinen Filmbesuchen beim Cinema Ritrovato an dieser Stelle teilen zu dürfen. Damals schrieb ich noch vom brütenden „Backofen Bologna“ – heuer hingegen fand die Hitzeschlacht, zumindest in den Tagen meiner Anwesenheit, nicht statt, bzw. anders: Als im negativen Sinne die inneren Temperaturen erhöhend sorgte das erratische wie schlicht nicht funktionierende Reservierungssystem für kleine Koller, ein Flugausfall für überraschenden Nervenkitzel und Verzögerung meiner Anreise. Ansonsten wieder alles beim Alten in „la rossa“ – wobei, nicht ganz: Mit dem Cinema Modernissimo gibt es ein ganz neues, recht präsentables Kino im Untergrund der Piazza, auf der Abend für Abend die – heuer etwas verregneten – Großvorstellungen stattfanden. Und ja, die haben nach wie vor was für sich, auch wenn ich’s dieses Mal nur zu The Conversation (1974) geschafft habe (tolle digitale Restaurierung im Übrigen) und dabei nach einer halben Stunde selbst lieber eine solche gehalten habe.
Recht ereignislos waren sie, meine dreieinhalb Tage, an denen ich von Kino zu Kino gehuscht bin, zwischendurch liebe Freunde (zu kurz) wiedergesehen und natürlich versucht habe, möglichst viel von der autentica cucina dell’Emilia Romagna mitzunehmen (heurige Neuentdeckung, etwas kurios, das recht umständlich benannte „Capra & Cavoli cucina da passeggio…e non!“ in der Via del Pratello, wo man zwar mit Plastikgeschirr und -besteck auskommen muss, aber dafür überraschend lecker und echt günstig), und trotz Regenwetter natürlich gelato (wie immer bei meinem Liebling „Gianni“, der Zabaione-Eis jetzt noch besser semifreddo verkauft). Aber das wollt ihr vermutlich gar nicht lesen. Filmisch ist beim Il Cinema Ritrovato wie jedes Jahr die Hölle los. Meine Kritikpunkte am Überangebot haben sich nicht geändert bzw. können in älteren Ausgaben dieser Textsammlung hier nachgelesen werden. Und die vielfach verschenkten Chancen, unter dem Banner der Filmvermittlung den großen Gästenamen mehr Redezeit zuzugestehen bzw. die Interaktion mit einem durchaus wissbegierigem Publikum zu fördern, sind mir dieses Jahr auch wieder aufgefallen.
Ein paar filmische Leckerbissen: Zum ersten Mal habe ich eine berühmte japanische Riesenechse auf der großen Leinwand gesehen (sehr schlechte digitale „Restaurierung“, übrigens), wie sie durch liebevolle Pappkulissen stapft – ohne dabei auf die ohnehin sichtbar vom Zweiten Weltkrieg traumatisierte Zivilbevölkerung Rücksicht zu nehmen. Bei allem nostalgischem Charme, den man Godzilla (Gojira, 1954) nach wie vor nicht absprechen kann, waren es eher die Zwischentöne, die dem Film eine noch heute relevante politische Schlagseite geben: Wenn etwa die Angehörigen der anfangs versenkten Boote verzweifelt versuchen, Informationen zum Verbleib ihrer Liebsten zu erhalten, und die öffentlichen Stellen ihnen die kalte Schulter zeigen. Man spürt förmlich die Zerrüttung zwischen Wissenschaft und Militär, zwischen Politik und Bevölkerung, nicht als Resultat, sondern als Bedingung für das Auftauchen des antiken Urwesens – und man hat das Gefühl, in diesem Film viel über Japan und seine Mentalität zu lernen.
Ein Landsmann, der das ebenfalls recht gut unterstreicht, ist Kōzaburō Yoshimura. Leider konnte ich nur einen seiner Filme sehen, Night River (Yoru No Kawa) aus dem Jahr 1956, einen der ersten japanischen Farbfilme, der diesen Umstand gleich aufgreift und seine Heldin zu einer Kimono-Designerin macht, die vor allem mit ihren gewagten Mustern und Farbkombinationen bekannt wird – und eine Affäre mit einem verheirateten Mann eingeht. Was da in knapp zwei Stunden auf der Leinwand los ist – einfach nur WOW: Yoshimura transportiert ein extrem modernes Frauen- und Gesellschaftsbild, ganz anders, als es sogenannte Großmeister zur selben Zeit getan haben.
Auch von der anderen Seite des Globus gibt es ähnliches zu berichten: Da war es Anthony Mann, der den Finger in die Wunden seiner fellow americans legte: Ganz egal, wie hoch dekoriert man aus der Armee zurück ins normale Leben kommt, eine „Rothaut“ bleibt trotzdem eine Rothaut – ganz besonders dann, wenn finanzielle Interessen der Weißen im Vordergrund stehen. In Devil’s Doorway (1950) muss das kurz nach dem Bürgerkrieg der Protagonist Lance Poole (Robert Taylor) erkennen, der sich sein Lebtag lang assimiliert hat und dem nun von einer Gruppe Viehbesitzer sein fruchtbares Land streitig gemacht wird. Extrem finstere Americana (Kamera: Noir-Meister John Alton), im Laufe derer sich Poole auch äußerlich immer mehr seinen „Wurzeln“ anzugleichen beginnt. Irgendwann einmal im Lauf des Films wird er zu seinem weißen Love-Interest, einer beherzten Anwältin, sagen, dass es vielleicht in hundert Jahren einmal möglich sein werde, dass Weiße und Nicht-Weiße in diesem Land in Frieden zusammen leben könnten. Ob er damit recht behalten würde, lässt sich knapp 75 Jahre nach Erscheinen des Films wohl anzweifeln.
Florian Widegger
Mahnende Materie

Ich kenne kein Filmfestival, bei dem man abseits des Kinosaals eine so verlässlich tiefenentspannt gesellige, angenehm verfressene (und mitunter pegel-beschwipste) Zeit hat. Die über die Jahre liebgewonnenen Lokale, Eisdielen, Bars und Märkte zu besuchen würde allein schon die Reise rechtfertigen, doch dann gibt’s da ja noch die Qual der Wahl des Programms – nicht immer in der denkbar besten Weise präsentiert („Fuoco! Fuoco!“), aber was soll’s: dieses Jahr etwa die weitgehend analog projizierten Personalien zum „cinematic nomad“ Anatole Litvak (1902–1974) und zum mir bis dato unbekannten Bürgertumssezierer Kōzaburō Yoshimura (1911–2000), eine Reihe zu den düsteren Gefilden des deutschen und österreichischen Heimatfilms der Nachkriegszeit (catchy: „Dark Heimat“), ferner eine vielseitige Schau zu Farbexperimenten und -exzessen innerhalb der nunmehr gut hundertjährigen Schmalfilmkinematografie, „Great Small Gauge“. Sehr willkommen war mir dieses Mal auch, dass der erbarmungslose italienische Sommer es zur Abwechslung gut mit einem meinte, das heißt, dass einem nicht von konstant 38 Grad der Schädel gespalten wurde – auf der Piazza Maggiore, wo am Eröffnungsabend John Fords The Searchers (1956) von einer neu gezogenen 70-mm-Kopie im Wind sanft wabernd über die Leinwand zog, war es sogar frisch. Neue Erfahrung.
Gewohnt toll war, dass das Festival auf dem Papier zunächst einmal aus einzelnen, eng abgesteckten Sektionen, teils gar aus „Special-Interest“-Programmen zu bestehen scheint, dass sich beim Sichten selbst jedoch ständig Fäden zwischen dem vermeintlich Disparaten spinnen ließen, sich das Gefühl einstellte, dass alles doch film- und kulturgeschichtlich miteinander verwoben ist. So ging es mir dieses Jahr etwa mit zwei Filmen, die auf der Ebene der Produktion und Inszenierung denkbar wenig gemein haben und doch als Komplementärpaar vom ruinösen Deutschland der Nachkriegszeit „berichteten“.
Litvaks Decision Before Dawn (1951) präsentiert uns eine Geschichte aus den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs; die zerbombten deutschen Städte, darunter Nürnberg, München und Mannheim, die der Film als gleichrangige Darsteller:innen neben seinen Held:innen etabliert, sind nicht etwa zusammengezimmerte Studiobauten, sondern tatsächlich liegengebliebene Schutthaufen: mahnende Materie. Es ist ein grunddepressives und für eine „Siegererzählung“ unglaublich humanistisch gegenüber den Besiegten eingestelltes Reenactment, das die fiktive 1944er-Story merkwürdig mit dem dokumentarisch verbrieften „Trümmerfilm“-Szenario in eins fallen lässt. Eine Reise bis ans Ende der Nacht, bei der die Figur Oskar Werners als Kriegsgefangener mit den Amerikanern kollaboriert, um für ein anderes, neues Deutschland zu kämpfen. Ein Film voller Schuld, Hoffnung und Widerstand – und fast gänzlich ohne Liebe. Alle Figuren, die sie geben könnten, verschwinden so schnell von der Bildfläche, wie sie gekommen sind (z. B. Hildegard Knef). Es ist mehr ein Film der Orte als der Figurenpsychologie, ein Film, der einen schonungslos in die Orte des Geschehens hineinziehen möchte.
Anders beim folkloristisch-satirischen Die seltsame Geschichte des Brandner Kaspar (1948), den Josef „Münchhausen“ von Báky im selben Jahr wie seinen weit bekannteren Der Ruf schuf. Hier dominiert das Märchenhafte und Weltentrückte – und doch, so habe ich den Eindruck, ist auch dieser Film ein Reflex auf das Massensterben und die Verwüstungen, die bloß drei Jahre zuvor in Europa ein Ende nahmen. Pünktlich zu seinem siebzigsten Geburtstag wird der Brandner Kaspar vom Boandlkramer, dem fleischgewordenen Tod, heimgesucht. In einer denkwürdig rustikal inszenierten Saufkaskade ringt er dem Gevatter Tod zwanzig weitere Jahre ab, was in der Himmelsbürokratie (die mich an den onkeligen Käutner-Kostümfilm Der Apfel ist ab aus selbigem Jahr denken lässt) überhaupt nicht gut ankommt. Es dauert seine Zeit, und weitere Figuren müssen den Tod finden, bis der Kaspar erkennt, dass er sich diesen urbayerischen Almhimmel samt aufgehobenen Klassengegensätzen doch zeitnaher ansehen sollte. So irre wie diese Szenerie mit ihren im Kreis tänzelnden Putti und bajuwarischen Erzengeln auch ist, so düster-abgründig ist letztlich die Grundierung des Ganzen. Den Film prägt von der ersten bis zur letzten Sekunde das Nachdenken über den Tod, ob er abzuwenden sei, was auf ihn folgen könnte. Sicher ist das nicht der Eskapismus, der beim Reden vom deutschen-österreichischen Heimatfilm vermeintlich so naheliegend ist. Die Ruinen fehlen, der Krieg ist dennoch anwesend.
Tilman Schumacher
Aufpassen, mit wem man wie anstößt

In Waiting (Entezar, 1974) von Amir Naderi setzt sich ein Junge immer wieder ins Wohnzimmer seiner Pflegeeltern, in dem er offenbar nicht einmal den Teppich betreten darf. Es ist kein behaglicher Raum, und doch kann er nicht aufhören, dort aufzuschlagen, sich in eine Ecke zu kauern und die Glasschale anzustarren, die im Regal steht. Sie glänzt, blinkt und bricht das Licht in alle Farben des Regenbogens. Es verlangt ihn danach, sie anzufassen, sie im Licht zu drehen, mit ihr durch das iranische Dorf zu laufen, an einer Tür zu klopfen, dort einer Hand die Schale zu übergeben und sie mit Eis gefüllt wiederzubekommen. Von einer Hand, die er begehrt, deren Trägerin aber bis auf die Hand gänzlich hinter der Tür oder ihren Kleidern verborgen bleibt. In den Wiederholungen des Gleichen lädt der Film die Glasschüssel zunehmend mit Sex und Begehren auf – und das Eis bringt eine kurze Abkühlung, die schnell wieder versiegt ist. In den knapp 50 Minuten von Waiting verlieren Glasschalen ihre Unschuld vielleicht für immer.
In Chijō (On This Earth, 1957) von Kōzaburō Yoshimura sitzt die Frau vor ihrem Mann, dem Betreiber eines Geisha-Hauses, und zwei Jugendlichen und löffelt aus einer Glasschale Eis – wie in Waiting keine Eiscreme, sondern gefrorenes Wasser. Eine weitere, schon geleerte Schale steht vor ihr. Früher hätte ich mir nicht viel dabei gedacht, jetzt sah ich den Höhepunkt ihrer Dekadenz. In G.W. Pabsts Geheimnisvolle Tiefe (1949) verführt Stefan Skodler Ilse Werner mittels seines Reichtums und seiner sozialen Stellung. Unter seinen Besitztümern: eine Glasschale, die der Verführten sichtlich gefällt – denn nicht nur materiell, sondern auch sexuell hat er der Frau etwas zu bieten, denke ich nun.
In drei weiteren Filmen von Kōzaburō Yoshimura spielten Gläser eine Rolle. In A Woman’s Uphill Slope (Onna no saka, 1960), in Undercurrent (Yoru no kawa, 1956) sowie in The Naked Face of Night (Yoru no sugao, 1958) wird jeweils einmal in Großaufnahme angestoßen. Beim ersten Mal sind die drei Gläser von Freundinnen in totale Schwärze getaucht, nur der Inhalt leuchtet in drei unterschiedlichen, grellen Farben. Im nächsten Film stoßen zwei Liebhaber mit zwei unterschiedlich farbigen Getränken an. Zuletzt werden einfach nur noch zwei kaum zu unterscheidende Gläser mit Bier gegeneinander gestupst. In allen drei Momenten sagen diese kleinen, unscheinbaren Momente sehr viel über die Intensität der Emotionen aus, über Gemeinsamkeiten und Unterschiede, über das Zusammensein und die baldige Trennung. Gläser und Glasschalen nehme ich nach dieser Woche auf dem Il cinema ritrovato viel starker und bewusster wahr. Ich sehe mit anderen Augen und werde aufpassen, mit wem ich wie anstoße.
Robert Wagner
Eine Sehnsucht oder Liebe

Ich höre gern von Leuten, die schon mal Nahtoderlebnisse hatten. Mancher rauscht sofort ins Licht, zu himmlischen Begegnungen. Andere aber müssen erst in eine Art Kino, um ihr Leben zu betrachten und daraus zu lernen.
In Die seltsame Geschichte des Brandner Kaspar (Josef von Baky, 1949) in der von Olaf Möller kuratierten Reihe „Dark Heimat“ ist es im Jenseits wie in einer Operette. Über eine bayerisch beflaggte Alpenwiese purzeln Kinder mit Flügelchen und nackten Popos und essen übergroße Weißwürste. Das jung verstorbene Mädchen Mena aus dem Dorf ist glücklich, weil sie jetzt so einen Hut wie die Kaiserin Sissi hat. Kaspars Schutzengel ist so edel, blond und langhaarig wie der Sänger von Led Zeppelin, spricht aber mit Kaspars ureigenem Mundwerk, auf dass er ihn verstehen kann. Chefs und Feinde sind verschwunden. Wiederauferstanden aber sind die unschuldigen Rehlein, die Kaspar einst wilderte, und auch Lacki, sein geliebter Hund. Paul Hörbiger als Kaspars ungepflegter, trinklustiger Tod ist eine Offenbarung von Trolligkeit und Weisheit, hintergründiger Mystik und abgründigem menschlichen Humor. Wie exzessiv er das Besäufnis mit dem Sterbekandidaten gestaltet, wie er sich gehen lässt und suhlt, mit einer so selbstverständlichen Wildheit – das ist wie Iggy Pop und sprengt alles. Archaische Romantik, uralte Jodel Folk Culture, grobe Spottgesänge (ich glaube „Gstanzln“ nennt man sie) … der liebe Gott drückt beide Augen zu.
Olivia de Havillands ungeschminktes, weiches, verstörtes Gesicht in The Snake Pit (Anatole Litvak, 1948). Hier ist sie mit anderen, vom Wahnsinn aus ihren Leben katapultierten Frauen in einer Nervenheilanstalt. Einmal trennt sich ihre Seele vom Körper, schwebt nach oben und schaut herab auf das schlangengrubenartige Durcheinander der anderen, die ihre wahnhaften Rollen üben, ihre Texte vor sich hinmurmeln oder sie aus sich herausschreien. Eine alte Frau springt provokant auf den kostbaren neuen Teppich, dessen Betreten die Anstaltsleitung verboten hat, schürzt ihr Kleid und steppt zu ihrem Gesang von „Sweet Georgia Brown“. Am Ende singen die Patientinnen beim Anstaltsfest „Coming Home“ zum 2. Satz der „Sinfonie aus der neuen Welt“, und etwas bricht in ihrem und auch meinem Herzen auf. Litvak war die Musik der Hochromantik wichtig, das merkt man in der ihm gewidmeten Filmreihe in Bologna. Sinfonien von Dvorak, Bruckner, Brahms, die machen, dass man spürt, es ist etwas Grenzenloses in einem eingesperrt, eine Sehnsucht oder Liebe, von einer übermenschlichen Dimension, die man nicht ertragen, geschweige denn leben kann.
Mariko Okadas leichter, freudiger Gang in Onna na saka (Kōzaburō Yoshimura, 1960). Sie ist so graziös in ihren perfekt, doch augenscheinlich bequem sitzenden Anziehsachen, die ihr unfassbar gutstehen. Das in sich ruhende und doch lebhafte und schalkhafte Gesicht. Diese frische, strahlende Souveränität teilt sie sich mit ihrem ebenfalls hübschen Papa, den man leider nur einmal kurz kennenlernt, als er ihr augenzwinkernd eine Coca-Cola-Flasche entwendet und sie gnadenlos austrinkt. Die beiden verkörpern die Zugewandtheit zu einer neuen, modernen Zeit, in der man frech und unbeschwert sein darf und auch als junge Frau unabhängig handeln, in der geerbten Fabrik arbeiten und selbstbestimmt Freundschaften schließen kann. Marikos Geliebter hat den gleichen Charme. Aber er ist verheiratet. Und als sie die Wäsche seiner Kinder auf der Leine sieht, weiß sie, warum er so zögert, sich für sie scheiden zu lassen, und sie entscheidet selbst, dass sie sich wieder trennen müssen. Der Film leugnet nichts von dem Schmerz, den das bedeutet. Aber er sagt, mit Mariko, auch: Nicht das Leben dafür schelten, niemandem die Schuld geben. Beherzt zurück zu den Kollegen, die auf einen warten und die einen mögen. Weitermachen mit der Arbeit und dem Dasein. Alles ist gut genug, auch so. Und es hat wundervolle Farben und Bilder (die ich zur Illustration dieses Artikels leider nirgendwo im Netz finden konnte).
Silvia Szymanski
Die Folter und das Wetter

Von Sankt Petersburg nach Paris – als exilierte russische Aristokraten leben Claudette Colbert und Charles Boyer, die selbst beide in Frankreich geboren sind und dann in die USA emigriert waren, in einem für Hollywood-Standards überraschend untypischen Kulissenparis. So wirken die beiden wie die französischsten Figuren in diesem Film, weit davon entfernt, Snobs zu sein. Die französische Bankiersfamilie, bei der sie, obwohl sie das Vermögen des ermordeten Zaren verwahren, aus Geldnot heraus als Haushälter arbeiten, wirken wie die borniert-überdrehten weißen US-Amerikaner, die man aus den Filmen George Cukors kennt. Es verschieben sich permanent die Vorstellungen von Fremde, Exil und Fremdheit. Wenn die Villa von den beiden Exilierten mehr und mehr russifiziert wird – das sichtbarste Zeichen wohl der Samowar –, dann entfaltet Anatole Litvak das Spiel der großen Veränderungen: Jede und jeder muss sich in diesem Film verändern. Am Ende nehmen die Aristokraten die neue Situation an und überlassen dem Agenten der Sowjetunion das Vermögen.
Von Kiew nach Sankt Petersburg, nach Berlin, nach London, nach Los Angeles – als Anatole Litvak 1974 in Neuilly-sur-Seine bei Paris starb, lag hinter ihm ein Leben voller Migrationen. Jeder Landeswechsel war für ihn mit einem Sprachwechsel verbunden. Aus dieser Erfahrung machte er den russischen betitelten Film Tovarich, der in Hollywood gedreht wurde und in Frankreich spielt. Und für das geglückte Gespräch der amerikanischen Screwball-Comedy reichen auch manchmal die Smalltalk-Floskeln, mit denen man auch in Bologna im Sommer durchkommt. Als der Sowjet-Kommissar zur Dinner-Party erscheint, erinnert ihn der russische Prinz beim Servieren der Aperitifs daran, wie er von ihm mit einer brennenden Zigarette gefoltert wurde. Um die Situation aufzulockern, fällt die Gastgeberin, erprobt durch viele lockere Gespräche über das Wetter, redegewandt ein: „It’s not the heat, it’s the humidity.“ Diese Gespräche funktionieren in jeder Sprache.
Stephan Ahrens
Verändert zurück an die Oberfläche

Gerade als ich mich frage, ob mich Google Maps nicht in die Irre geführt hat, verstehe ich, dass ich schon am Ziel bin. Mitten auf der belebten Piazza El Ronzo, einem kleinen Nebenplatz der großen Piazza Maggiore, führt eine schmale Treppe in den Untergrund, in dem sich ein Kinotraum findet. Ich reihe mich in den Besucherstrom ein, durchquere ein funkelnagelneu erscheinendes Foyer mit Bar, vorbei an schneeweißen, mit Kino-Devotionalien bestückten Wänden, und bin kurz darauf Teil des den tempelartigen Jugendstilsaal bestaunenden Publikums. Ein Abstieg zu den Anfängen der Bologneser Kinogeschichte; das unterirdische Theater des Palazzo Ronzani, seit 1915 als Kino genutzt, wurde 2006 geschlossen und im November 2023 nach aufwendiger Restaurierung feierlich wiedereröffnet. In diesem Jahr ist das Cinema Modernissimo erstmals Spielstätte des Il Cinema Ritrovato und wahrscheinlich seine spektakulärste.
Zu sehen gibt es hier heute zwei Filme von Sergei Paradschanow; im 100. Geburtsjahr des Regisseurs zeigt eine kleine Werkschau unter dem Namen „Rapsodia Ukraina“ vom Künstler selbst wenig gelittene Frühwerke, entstanden in der poststalinistischen Ära im einst größten Filmstudio der Ukraine. Vor der Vorführung berichtet das Kuratorenteam Olena Honcharuk, Daniel Bird und Cecilia Cenciarelli von den Schwierigkeiten, das Material unter den gegenwärtigen Umständen zu beschaffen und zu restaurieren. Von Filmrollen, die Kiew nicht verlassen durften, und einem dorthin gesandten Filmscanner ist die Rede, schließlich von einem Mitarbeiter des Kiewer Dovzhenko Centers, der während dieser Arbeit in den Krieg eingezogen wurde; auf dem Podium fließen, leise und gefasst, Tränen, im Saal beklommenes Schweigen.
Für die nächste Stunde werden wir dann in ein moldawisches Märchen entführt; wenige Außenaufnahmen aus der ukrainischen Steppe treffen in Paradschanows Verfilmung dieses Stoffs auf artifizielle Studiobauten; Andreish, sein Langfilmdebüt von 1954, ist ein etwas windschiefes, sichtlich schmal budgetiertes, in seinem Licht- und Farbenspiel flirrend poetisches Werk. Titelheld ist ein flötenspielender Hirtenjunge mit weißer Lammfellmütze, sein Gegenspieler ein böser Zauberer in Form eines schwarzen Wirbelsturms, der manchmal Menschengestalt annimmt. Er entführt die Schafsherde des Jungen und seinen Hund und setzt sein Dorf in Flammen, so wie er es mit der ganzen Welt tun will; unter dem Bann des bösen Zaubers verstummt das Flötenspiel, doch mit der Hilfe sprechender Bäume und Bäche, eines Riesen und eines Glühwürmchens, nicht zuletzt mit seinem eigenen Mut kann Andreish, auf einem fliegenden Pferd unterwegs, den Dämon bezwingen und für immer hinter Fels verbannen.
Dem Märchen, in dem das Gute siegt, folgen wie Gespenster aus einer versunkenen Welt sowjetische Arbeiterchöre auf die Leinwand, schemenhafte Frauen in weißen Kleidern vor Männern in schwarzen Anzügen; in Dumka, Paradschanows früher, nach eben diesem Ensemble benannten dokumentarischen Auftragsarbeit von 1957 singen sie Volkslieder, Preisungen Lenins und der ukrainisch-russischen Freundschaft, die Beklemmung kehrt zurück; kurz darauf stehe ich blinzelnd wieder an der Oberfläche, von Geschichte und Gegenwart, Fantasie und Wirklichkeit noch verwirrt und erfüllt.
Maurice Lahde
Nimm dem Heimatfilm die Farben, und du nimmst ihm die Leichtigkeit

Der Heimatfilm hatte in Deutschland in den 1950er und 60er Jahren seine Hochform. Technicolortagträume von Sennerinnen, Jägern und Bauern, umgeben von Almidylle, Bergpanoramen und immer mit der Gefahr eines Tinnitus vom konstanten Kuhglockenläuten. Wo der Bergfilm als Vorgängergenre noch stärker soziologisch arbeitet und das Verhältnis zwischen Mensch und Natur abtastet, ist der Heimatfilm ontologisch angekommen. Es sind Filme, die sich ihrer sicher sind, die Natur ist bereits befriedet, der Mensch im Mittelpunkt. Ihre Kunst liegt vor allem in ihrer endlosen Reproduzierbarkeit. Ihr reaktionärer Kern ist sowohl logischer Endpunkt dieser Selbstsicherheit als auch ihr Charme. Es sind Filme, die bewusst versuchen auszuschließen. Man kann salopp gesagt in diesen Filmen Bayer sein, weil da Saupraiß sie eben ned versted – kulturell wie auch dialektisch.
Die von Olaf Möller programmierte Serie „Dark Heimat“ versucht das Selbstverständnis dieses Genres zu erschüttern, bedient sich dabei an den Rändern, findet Grotesken und deutet diese etwas schwermütig in Parabeln der Kriegsaufarbeitung um. Alle Filme im Programm sind in Schwarzweiß gedreht worden, aus Kostengründen oder um Zeit zu schinden, bis man technisch in der Lage war, auf Farbfilm zu drehen. Nimm diesem Genre die Farben, und du nimmst ihm die Leichtigkeit, tünchst es tiefer in Noir und verzerrt den narrativen Rhythmus. Von den vier Filmen, die ich sichten konnte, ist dies am eindrucksvollsten in Wilfried Fraß’ und Karl Kurzmayers Die Sonnhofbäuerin (1948) in Erinnerung geblieben.
Ein Film, der hervorsticht, weil er sich bewusst in seiner Zeit platziert und ein Liebesdreieck zwischen dem im Krieg verschollenen Mann, seiner Ehefrau und einem ihr aushelfenden Bauern konstruiert. Durch das Schwarzweiß liegt der Fokus automatisch auf den Schatten, was der Film versteht, aber technisch nur mit den rudimentärsten Mitteln umsetzen kann. Jesus’ Schatten fällt über dem Altar, der dem verschollenen Mann errichtet wurde. Die Frau geißelt sich in Zweifeln. Es gilt die Treue zu halten, aber für wie lange. Und dann ist da noch der Hof, der geführt werden muss. Das Herz arbeitet nicht anders als die Hände. Nichts fällt hier leicht, am wenigsten noch das Reden. Ein Film, der die Realität quasi seinen Protagonisten aufzwingt, der, auch wenn er sich narrativ über patriarchale Strukturen auserzählt, die Einsamkeit und Traurigkeit seiner Charaktere nie abmildert.
Florian Weigl
Der nötige Arschtritt

Der japanische Regisseur Kōzaburō Yoshimura wirft einen unmittelbar in den Alltag seiner Figuren. Es ist ein ständiges Kommen und Gehen in den traditionellen Holzhäusern Kyotos, in denen Wohn- und Arbeitsraum nicht selten nahtlos ineinander übergehen. Dementsprechend drehen sich die zwischen Melodram, Komödie und Nachkriegsporträt schwankenden Filme häufig um persönliche Sehnsüchte, soziale Zwänge und ökonomische Fesseln.
Wegen ihrer sich langsam entfaltenden Erzählung braucht man eine Weile, um sich in Yoshimuras Filmen zurechtzufinden. Manchmal wurde das durch die eigenwillige Präsenz der Schauspielerin Machiko Kyō erleichtert. Nicht nur ihr rundliches Gesicht und der verschlagene Blick unterscheiden sie von ihren oft anmutigeren und gefügigeren Geschlechtsgenossinnen, auch ihre Rebellion ist fordernder und expressiver. Als Geisha Kimicho in Clothes of Deceipton (Itsuwareru Seisou, 1951) nähert sie sich ihren Opfern wie ein Raubtier: schleicht aus sicherer Entfernung um sie herum, bevor sie zum Angriff übergeht. Die überhebliche Schwiegermutter wird in Grund und Boden beleidigt, ein älterer Kunde so lange mit Kniffen traktiert, bis er sich völlig irritiert den schmerzenden Arm reibt.
Im Laufe des Films nimmt Kimicho sich so viel heraus, dass man glaubt, das schillernde Biest müsse irgendwann bestraft werden. Den Männern zieht sie das Geld so kaltblütig aus der Tasche, dass einer von ihnen sie am Ende tatsächlich mit dem Messer durch die Straßen jagt. Lange wirkt es auch, als wäre Kimichos idealistischere und modernere Schwester Takeo (Yasuko Fujita) die Hauptfigur des Films. Sie trägt Hosen und sehnt sich nach dem fortschrittlichen Tokio. Einmal blickt Takeo melancholisch auf die alten Häuser und bedauert, dass nicht nur Kyotos Architektur vom Krieg verschont wurde, sondern sich auch der konservative Geist bewahrt hat.
Yoshimuras Filmen leben von einem komplexen Spannungsverhältnis zwischen der perfektionierten Schönheit des Alten und dem belebenden Gefühl der Veränderung. Es ist jedoch weniger ein Kontrast als eine Symbiose. Statt für ihre aus Standesgründen scheiternde Beziehung zu kämpfen, versinkt Takeo im Weltschmerz. Erst die zähe Kimicho, die als Geisha im Kimono die Tradition verkörpert, gibt ihr den nötigen Arschtritt. Wenn die Kamera am Ende aus den engen, dunklen Gassen ins gleißende Licht der Freiheit fährt, bleibt die eigentliche Heldin des Films zurück.
Michael Kienzl
Der gehörnte Horrorclown

Ein „slap“ ist eine Ohrfeige, aber keine schallende. Wer geslappt wird, bekommt keine gezimmert, sondern eher einen nachlässigen Nasenstüber verpasst. Was die Sache unter Umständen nicht besser macht. Für die Hauptfigur des Stummfilms He Who Gets Slapped (1924) jedenfalls ist der Slap gerade deshalb demütigend, weil aus ihm die komplette Missachtung des Empfängers durch den Austeiler spricht. Hätte sein Kollege ihm, Paul Beaumont (Lon Chaney), nachdem er ihn um die Früchte seiner wissenschaftlichen Arbeit betrogen und eine Frau ausgespannt hat, gleich auch noch richtig die Fresse poliert, hätte er das womöglich verwinden können. Aber nicht einmal diese Anstrengung war er, der dreifach Geschädigte, seinem Widersacher wert gewesen.
Pauls Reaktion auf diese Schmach ist so bizarr wie genial: Er gibt die Wissenschaft auf, verwandelt sich in einen Horrorclown (das Haar steht ihm von nun an in drei kläglichen Büscheln vom Kopf) und tritt im Zirkus auf – mit eben der Nummer, die dem Film den Titel gibt: He Who Gets Slapped. Tatsächlich nennt sich Paul hinfort nur noch HE. Selbst seinen Eigennamen kann er, vor verletztem Stolz innerlich zerfressen, nicht mehr tragen, fortan wandelt er als Fanal gebrochener Männlichkeit durch die Welt. Die Zirkusshow, mit der er alsbald große Erfolge feiert, besteht in der Tat ausschließlich daraus, dass er wieder und wieder geslappt wird, albtraumhaft, endlos, bodenlos. Das Zirkuspublikum tobt vor Lachen – obwohl an den entsprechenden Szenen wirklich gar nichts komisch ist.
Victor Sjöströms He Who Gets Slapped, 1999 erstmals auf DVD erschienen, ist kein komplett vergessener Film. Aber doch einer, der von der Filmgeschichte entschieden unter Wert verkauft wird. Erwähnung findet er meist nur als erste Produktion des legendären Studios MGM, als erster Film, in dessen Vorspann der ikonische MGM-Löwe auftaucht (allerdings, schließlich ist das Kino noch stumm, nicht brüllt), vielleicht noch als einer der großen Lon-Chaney-Erfolgsfilme. Aber in dem Film steckt so viel mehr. Nämlich das Urbild einer masochistischen psychosexuellen Verformung, der das Kino, von Sternberg bis Scorsese, vom Film noir bis zur Commedia all’italiana unendlich viel kranke Schönheit zu verdanken hat. Man möchte sofort eine Filmreihe daraus machen: Those Who Get Slapped. Jede Menge großer Horrorfilme wären da natürlich auch dabei.
Gesehen habe ich dieses Meisterwerk im Cinema Modernissimo, einer neuen, spektakulären Spielstätte. Unter den Pflastersteinen der Piazza Maggiore, dem Herzstück des historischen Zentrums Bolognas, wurde hier ein historisches Katakombenkino restauriert. Direkt aus der touristischen Trubelmeile führt eine Treppe hinab in eine liebevoll wiederhergestellte Kino-Luxuswelt. Wann, frage ich mich, wurde wohl zuletzt in Deutschland so viel Geld für einen Kinobau ausgegeben? Bologna hat es eben, allem Ärger über die langsame Übernahme des einstmals in der Programmierung deutlich ambitionierteren Festivals durch totdigitalisierte Kanonfilme zum Trotz, nach wie vor besser. In der zum Ende des Festivals hin glücklicherweise doch wieder zuschlagenden Sonne ein Eis essen, dann runter zum Horrorclown, später das vom Chaney’schen Wahnwitz eh schon lädierte Gehirn im Park mit einem Aperitivo weiter aufweichen. So lässt es sich leben.
Lukas Foerster
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