Gelebtes aus der Drehung begriffen – Dietrich Schubert zum 85.

Der Eifler Dokumentarästhet Dietrich Schubert ist ein Suchender und Stichwortgeber, seine bescheidenen wie ausgetüftelten Filme ein präzises Erforschen im wandernden Nebel von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Eine Huldigung zum Geburtstag. 

12.08.1940: da war nicht abzusehen, welche Auswirkungen der verheerendste Krieg und – in ihm inbegriffen – das sich in seiner Gesamtheit dem kühl abwägenden Zugriff am nachhaltigsten entziehende Verbrechen des 20. Jahrhunderts auf auf die Einwohner jenes Landes haben sollte, das diesen Abstieg in die Barbarei ursächlich verantwortete. Man schloss ein Verrechnungsabkommen mit dem schweizerischen Nachbarn, versprach sich einen regeren Warenaustausch für das Folgejahr – etwas historisch Aufsehenerregenderes hatte der Tag nicht zu bieten, an welchem der später einmal möglicherweise bedeutendste Chronist dieser spezifischen Alltagsruhe inmitten des alles Alltägliche graduell Erschütternden das Licht der Welt erblickte: der Dokumentar- und gelegentliche Spielfilmregisseur Dietrich Schubert.

Viel geben seine Filme darüber preis, wie es in jenen Tagen gewesen sein muss – und doch hat er sich all dies nachträglich erschlossen. Er musste es tun, denn ein zum Kriegsende Vierjähriger begreift nicht, er nimmt schlicht auf. Liebe daheim, triviale Begegnungen fern wortwörtlicher wie innergesellschaftlicher Frontverläufe, die Wärme des Vaters, der zeitweise im kalt-maschinell operierenden Konzentrationslager Buchenwald zum Wachpersonal gehörte, dort in den Schichtpausen mit dem Sohne im Schnee innerhalb der Bäume und außerhalb der Zäune herumtollte. Es gibt Bilder einer solch unschuldigen Begegnung von Vater und Sohn in Buchenwald, am Orte, den selbst Stiefel, Bagger und Rodungen über Jahrhunderte hinweg nie in Gänze von aufgesogener, vielleicht auch nur mitangesehener Schuld reinigen könnten. Sie finden sich in Nicht verzeichnete Fluchtbewegungen oder: Wie die Juden in der West-Eifel in die Freiheit kamen (1990), jenem unter Schuberts Filmen, der die Geisteshaltung hinter dem Schritt zum Filmemachen, die Integrität des Filmenden womöglich am eindrücklichsten fassbar macht.

Eingebettet zwischen den Fluchtrouten Entkommener, im Ungewissen auf ewig Verlorengegangener und ihrer helfenden Hände auf der einen Seite sowie dem festungsartigen Gefängnis Fort Breendonk, das so manchem bittere letzte Heimat ward, wirken solche Aufnahmen mit banaler Harmlosigkeit auf die Zuschauenden ein, geben den unverstellten Blick frei auf ein anderes Leben. Das der bewusst oder unbewusst, unfreiwillig oder freiwillig lediglich Beobachtenden.

Dietrich Schubert, rechts vorm Fenster, ausnahmsweise sichtbar inmitten eines Gespräches in Nicht verzeichnete Fluchtbewegungen oder: Wie die Juden in der West-Eifel in die Freiheit kamen

Neben den Opfern gilt auch ihnen, den Beobachtenden, stets der Schubertsche Blick. Er stellt sie selbst unter Beobachtung, wohl wissend darum, wie viel Erkenntnis schon dem simplen Akt der Wahrnehmung innewohnen kann. Sein Schaffen reflektiert diese Haltung, damit gleichsam dauerhaft das ungeheure Privileg, welches dem jungen Schubert vorbehalten war. Oftmals verhält sich die Kamera rein passiv, empfindet nach, was andere durch ihre Taten und Worte vorgeben – sie bleibt ein Zaungast, ihr Blick blendet jedoch nichts aus, sondern bleibt gebannt. Verbannt hingegen sind die Täter, entkörperlicht im Anekdotischen, bestenfalls arglos in alten Dokumenten oder Bildern, gänzlich präsent hingegen in den Tränen, den ringenden bis brechenden Stimmen gepeinigter Zeitzeugen – dort also, wo sie nicht mehr in der Lage sind, neuen Schmerz zu erzeugen, weil der alte nie verschwinden konnte.

Auch Dietrich Schubert selbst bleibt physisch meist unsichtbar, ein Suchender und Stichwortgeber, einer, der seines Charismas wegen klingeln muss, um dem Filmteam Einlass zu verschaffen, der aber nicht mehr benötigt wird, wenn die Geräte ihre Arbeit verrichten. Wer spricht, für wie lange, in welcher Einstellung und Akzentuierung – das alles ist genau bedacht in Schuberts Filmen; in ihrem präzisen Ausrichten der Mikrophone, in der Ruhe der Bildkadrierungen sind sie die bescheidensten des deutschen Dokumentarfilmes … und die ausgetüfteltsten. Manchmal ist es ein kurzes Standbild als Illustration der Ansagen des Regisseurs, manchmal nur eine einzige Geste, die in Interaktion mit der Kamera ein Gesicht, einen gesamten Menschen dahinter begreifbar werden lässt, so fern dieser uns auch durch die gläserne Barriere und die nunmehr bis zu 40 zusätzlichen Jahre, die seit den ersten Wesensvermessungen der Eifler Mentalitäten jen- wie diesseits des Krieges ins Land gezogen sind, wirken muss. 

Was diese Filme heute so aktuell und relevant wirken lässt, ist der Mut, Schuld, vermeintliches wie echtes Ausblenden, jedoch auch Großherzigkeit sowie gelegentliche Courage über die Grenzen der eigenen Sicherheit hinaus, umzuverorten: aus dem Individuellen mit all seinen inhärenten Reduktionen ins Kollektive, darüber hinaus in ein eigenes, Schubertsches, Bezugssystem. Zumeist ist das die Eifel. Keiner unter Schuberts Zeugen steht je isoliert im Blauen herum, sie sind stets auch Originale, die sich ohne ihre Umgebung nicht denken lassen, Teile einer Landschaft, deren raue Abgeschiedenheit sie prägt, im Guten wie Schlechten. Im dichten Tann der Wälder wuchsen die Fluchthelfer aus Nicht verzeichnete Fluchtbewegungen über das hinaus, was die Stadt Köln den unglückseligen Edelweißpiraten, mit deren fortgesetzter Verleumdung sich Schubert zu Beginn seiner Langfilmkarriere in Nachforschungen über die Edelweißpiraten (1980) ausführlich auseinandersetzte, baulich zugestand. Der Schutzschirm der Lebenslandschaften kann idealistische Motivation in Teilen aufwiegen, bisweilen zu einer solchen werden – kaum ein Filmschaffender reflektiert diesen eigentümlichen Vorgang vielschichtiger.

Zwei Originale, Ein blindes Pferd darf man nicht belügen [1992]

Es existieren Heldentaten in Schuberts Eifel, jedoch nicht die dazugehörigen Heldenfiguren, aller Kitsch über ungeschliffene, aus einem Gefühl eigener Gottverlassenheit menschelnde Eifler liegt den Filmen ungreifbar fern. Schuberts Menschen – sie lebten schlicht, in einer Zeit, in einer Landschaft, sind das Produkt beider Zuschliffkonstanten, der zeitlichen und der räumlichen, und sie ziehen nüchtern bis ernüchtert Bilanz, meist im Herbst ihrer Existenz. "The only glory in war is survival", hat der amerikanische Filmemacher und Veteran Samuel Fuller einmal gewohnt pragmatisch festgestellt. Dietrich Schubert ergänzt die Wechselwirkungen zwischen dem Rahmen und den Menschen in ihm; nicht selten ist die Erklärung für das, was man gemeinhin "Heldenmut" nennt, simpel – einfach ein Freiraum, der sich fand. So manch einer hat gehandelt, andere tragen das als Kind oder aus angsterfüllter Passivität Beobachtete weiter und erweisen der Erinnerung an Vergessene und Unterschlagene dergestalt einen letzten, zarten Dienst. Vor dem Kameraauge sind sie alle gleich – eine Reihe selbst im Widersprüchlichen ungekünstelter Facetten, ausgelesen und folgerichtig in ein filmisches Anstoßsystem übertragen durch die mechanisch erweiterte Agilität des Blickes. Die Kamera regt zum Nachdenken an, und wird wiederum durch das zu Tage Geförderte angeregt.

Kriegsjahre in der Eifel (1989) beispielsweise setzt in seiner zweiten Hälfte prominent auf Situationsnachstellungen, wie sie Joshua Oppenheimers The Act of Killing (2012) zu einem der bemerkenswertesten künstlerischen wie kommerziellen Erfolge des längst aus den Kinos und Sendeanstalten in die Streaminggräber abgewanderten Dokumentarfilms machten. Die Kadrierung wandelt sich, von der antwortlosen Weite der Felder und Pfade zieht es die Reenthusiasmierten in die Enge der Keller, wo sie ganz zu sich, zur ruhenden Erinnerung finden. Es weht ein leiser Windhauch des Belebten durch die sonst so ernsten Züge, die illustrierenden Hände, zuvorderst durch Münder, die abseits der hellhörigen Panoramen Persönliches vermitteln. Wo Bewegung des Geistes herrscht, muss man sie nur mehr auffangen – in Momenten wie diesen erlahmt das Arbeitsgerät des Chronisten nahezu völlig, wird es selbst zum reinen Beobachter. Wechselsysteme, elegante Kontraste gestalterischer Ebenen, Gestaltender und Gestaltete im Rollentausch – das Kino Dietrich Schuberts beruht auf Interaktion, ist stets umsichtig auf ihrer Spur, lässt sich von ihr affizieren, nicht zuletzt in jener speziellen Kamerabewegung, die zum Markenzeichen des Wahlkronenburgers wurde. 

Eifelpfade in Ein trefflich rauh Land [1987]

Gemeint ist der die Umgebung lesende Kameraschwenk um 180 oder gar 360 Grad. Ihm bleibt nichts verborgen: die undurchdringbar bewaldete Ausweglosigkeit jener Auswege, die sich fliehenden Juden an der deutsch-belgischen Grenze nur unter vertrauensvoller Auslieferung an völlig Fremde auftaten genauso wenig wie das Seelenreich Wüste mit seiner in alle Himmelsrichtungen identischen Tiefe, die Schubert in den abermals reduzierteren Alterswerken Die Seele aber wird allein in der Wüste gewaschen (2007) und Allein die Wüste (2011) zum Ausdruck auch des eigenen Geistes inspirierte. Als visualisiertes Frage- oder Ausrufezeichen erfasst der Schwenk Situationen, ob gegenwärtig oder aus dem Strom des Vergangenen gefischt und fürs Nachempfinden tastend rekreiert, ohne sie in irgendeiner Form kommentieren zu müssen. Bewegung ist ein bemerkenswert eigenständiges Instrument der Aufklärung in Schuberts Welt – man muss sich immerfort auf den Weg machen, flexibel bleiben, um zu tieferem Verständnis vorzudringen. Ist es nicht der Schwenk um die eigene Achse, so sind es Erkundungen aus der Subjektiven: Kamerafahrten, per pedes, motorisiert auf vier Rädern, quer durch die Stadt oder über die labyrinthartigen Feldwege der Eifel hinweg, gelegentlich bereits das Ziel im Auge, anderwärts ohne jegliches Begreifen in Sicht.

Drei Mal in stetem Wandel wiederholt sich eine Kamerareise entlang der Bahnerhöhung in der Ehrenfelder Hüttenstraße in Nachforschungen über die Edelweißpiraten. Ein Strukturierungselement, eine Dreigliedrigkeit geprägt von den Erkenntnissen, die aus den Fugen zwischen den von ihr abgegrenzten Abschnitten entspringen. Auch ein stiller Kommentar, ein eigener Schluss in visueller Vollendung: Unsere Sicht auf die Welt ist nie mehr exakt die Gleiche, wird sie erst einmal konfrontiert, aufgebrochen an den Achsgefügen ihres Horizontes.

Einmal ist Dietrich Schubert einer bewussten Reflektion seiner spezifischen Methodik sehr nahe gekommen: In dem ansonsten stilistisch bemerkenswert abweichlerischen, da in der zeitlichen Distanz zu den behandelten Ereignissen nahezu humorigen Kurzfilm Ein Film über den dichter werdenden Nebel im deutschen Winterwald (1981) unternimmt er für das Gros der etwa viertelstündigen Laufzeit ausgedehnte Fahrten über die eng eingewaldeten Straßen seiner Wahlheimat. Ausnahmsweise nicht auf der Suche nach allgemeingültigen Antworten, sondern beseelt von Grübeleien, die die eigene Existenz betreffen, genauer gesagt darüber, wie er in polizeiliche Untersuchungsakten gegen Günter Wallraff gelangte – als notorischer "Politfilmer" noch dazu. Während der Nebel über den Wipfeln dichter und dichter wabert, nimmt sein Auto die gleichförmigen Kurven mit hypnotischer Eleganz. Solange, bis eine wohl zufällig vorgefundene Polizeisperrung ihn zum Halten zwingt und uns ein Schnitt in das mit der kurzentschlossenen Radikalität des jungen Erwachsenen realisierte Kurzfilmfrühwerk überführt. Gedankenbahnen entlang des just Rezipierten - eben das sind diese Fahrtszenen, die sich in vielen seiner Filme wiederfinden, das ist die filmische Motorik Dietrich Schuberts. Seine Filme sind ein unentwegtes Erkunden, ein präzises Erforschen im wandernden Nebel von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.

Sie führen unentwegt in die Ausweitung dessen, was das bloße Thema vorgibt. Das war schon immer so, auch im den Blick noch spöttischer schleifenden Frühwerk. Soldat (1966) – eine der allerersten der über 70 Regiearbeiten, nach eigener Aussage kurzentschlossen als simple Bestärkungsreaktion auf die Musik des ostdeutschen Liedermachers entstanden – vermengt in seinen knappen Minuten Wolf Biermanns Soldatenmelodie (1965) mit Bildmaterial des jungen Schubert, pazifistische Wut mit diebischem Blick, Ost mit West in solidarischem Ausblick. Auf der einen Seite tönt es:

Soldat, Soldat, ich finde nicht
Soldat, Soldat, dein Angesicht
Soldaten sind sich alle gleich
Lebendig und als Leich

Auf der anderen schlendert ein junger Soldat mit seiner Partnerin ganz nahbar der nun unbewegten Linse entgegen, die doch zuvor noch schwenkend vermessene Gräber und ferne Körper in Uniform aufnahm. Ein Bruch, womöglich ein kleiner Scherz - so "gleich" schaut er gar nicht aus. Den aufrichtigen Pazifismus beider Künstler stellt das nicht in Frage und doch schleicht sich unweigerlich Empathie ein. Sich in die Objekte vor dem Objektiv hineinzuversetzen ist Wesenskern dieser Filmografie geblieben, die Einzelblicke auf Schriften, Musik und fremde wie eigene Bilddokumente in einen einzigen, einen holistischen Blick verwandelt. Denn Dietrich Schubert weiß, dass er von Haus aus nichts weiß, dass ein zumindest partielles Begreifen nur aus dem stetigen Nachjustieren des Sehens erwachsen kann. Ein anderer Scherz des hinter dem Ernst auch Verspielten: In Ziemlich weit weg (1983) – ein stark autobiografisch geprägter Spielfilm und nur einer von zweien, die Schubert jenseits des Dokumentarischen inszenierte – weist einer der Protagonisten eingangs darauf hin, wie viel man nun von ihm sehen können sollte, sofern der Kasch im Kino richtig gezogen ist.

Kamerabewegungen aller Art, nicht minder jedoch ihr Ausbleiben oder ihre längst verhärtete Erstarrung in als Zeitzeugen herangezogenen Fotografien, sind das Versmaß dieser bei aller Nüchternheit wieder und wieder erstaunlich lyrischen Filme. In einem Genre, das allzu oft auf trocken abgefilmte Geschichtsbücher, extern Vorbestätigtes statt auf eigene wissenschaftliche Untersuchung setzt, sozialdidaktisches Rattern einer weiteren, aus den filmischen Mitteln selbst geborenen Erkenntnisebene vorzieht, füllt und vermittelt Schubert Bücher mit einem Leben, das zweifellos gelebt, doch stets auch originär filmisch ist. Unter den deutschen Dokumentarschaffenden ist er der wagemutigste, derjenige, der kühn genug ist, zutiefst sinnlicher Ästhet zu sein und dem der Bilderfluss doch nie den analytischen Blick verklebt. Denn beides steht gar nicht im Widerspruch, im Gegenteil, es bedingt und ergänzt sich. Schubert findet Spuren dort, wo lange kein Schritt mehr gehallt. In den Tiefen und Untiefen abgelegener Landschaften, sowie, in diesen auf Gedeih und Verderb eingelassen: der deutschen Seele.

Das Zuhause exakt jener unbelebten Schweigsamkeit also, die, erst einmal abgespalten, drohend weit über das Handeln der Menschen hinauszuragen vermag. Den jungen Dietrich wog sie vor mehr als 80 Jahren in trügerischer Sicherheit und ließ ihn doch nie los, für ihre Kartografie tat er in nunmehr 85 Lebensjahren mehr als viele, die schon einst mehr hätten verstehen können. Wir sollten den Schwung einer lange überfälligen Kurzfilmretrospektive im Rahmen der diesjährigen Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen nutzen, sein Werk hegen und pflegen, es endlich dorthin zurücktragen, wo es hingehört – in die Kinos und Sendeanstalten, die erhaltenden Institute und Lehreinrichtungen dieses Landes. Denn das Leben des Menschen ist endlich, die Blicke, Fahrten und Schwenks, die er in diesem unternimmt, sind es nicht.

Knotenpunkte von Vergangenheit und Gegenwart, Nachkriegsjahre in der Eifel [1992]

[Sämtliches Bildmaterial ist Eigentum der SchubertFilm, Kronenburg]
[Ausgewählte Filme Dietrich Schuberts lassen sich als DVD-on-demand über seine persönliche Webseite www.schubertfilm.de beziehen.]

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