(Ganz) Junge Kritik: Voleurs de chevaux
Bruderliebe im finsteren Osten
Erst als die Leinwand schwarz wird, hat der Zuschauer endlich Zeit aufzuatmen und sein Puls kann wieder eine normale Geschwindigkeit annehmen. Zwei Brüderpaare im 19. Jahrhundert kämpfen jedes für sich in den Wäldern Osteuropas um ihr Überleben.
Überall herrschen Gewalt und Brutalität. Der Zuschauer schreckt jedes Mal buchstäblich von seinem bequemen Kinosessel hoch und in ihm steigt ein Gefühl der Wut auf, wenn er sieht, wie Jakub von dem Ausbilder der Kosaken malträtiert wird oder wie sein jüngerer Bruder Vladimir von mehreren Kosaken in der Nacht sexuell missbraucht wird und dann die beiden Brüder grundlos tagelang in einen Holzverschlag eingesperrt werden.
Bei den Erlebnissen des anderen Brüderpaars, Roman und Elias, als Pferdediebe kann der Zuschauer ebenfalls mitfühlen, als jedoch Jakub sich auf die Jagd nach Roman macht, um den Tod seines Bruders zu rächen, ändert sich die Gefühlslage des Publikums. Es geht nur noch darum, welchem der beiden es zuerst gelingt den anderen umzubringen und fragt man sich, ob sich beide nicht anders verständigen könnten als mit Säbel und Axt.
An Gewaltszenen wird in Micha Walds Film Voleurs de chevaux wahrlich nicht gespart, dennoch fesselt er sein Publikum für 86 Minuten und lässt es erst beim Abspann wieder los.
Kritik von Judith Lübke (Primo-Levi-Oberschule Berlin)
Die Rache des Bruders
Voleurs de chevaux, ein Western, der im Osten spielt. Panoramaschwenks, die die wunderschöne Natur und deren Weite einfangen und Abenteuer voraussagen. Allerdings ist es hier nicht die Weite der Steppe, wie man sie aus dem klassischen Western kennt, sondern die Wälder und Flusslandschaften der Ukraine. Gewissermaßen ein Western in Grüntönen.
Wer Micha Walds ersten Spielfilm im Kino sieht, wird von zwei Dingen gepackt: zum einen von rührend dargestellter Bruderliebe, zum anderen von brutalster Gewalt. Rache ist das Thema, das diese beiden Aspekte vereint.
Der junge Kosak Jakub verliert seinen geliebten Bruder. Mörder ist der ältere der beiden Pferdediebe, zweier Brüder, die in ähnlich enger Beziehung zueinander in der Wildnis leben. Nun tut Jakub alles, um sich an den Pferdedieben zu rächen.
Wer keine Gewalt sehen kann ist hier im falschen Film. Die Rache Jakubs ist brutal und Micha Wald zensiert nicht. Wenn auf 25 Quadratmetern Kinoleinwand die Wunden klaffen, ist es nicht leicht den Blick nicht abzuwenden. Die Kameraführung scheut nicht im Geringsten davor, die animalische Gewalt des 19. Jahrhunderts zu fokussieren, den Zuschauer direkt mit Kampfszenen zu konfrontieren, so unangenehm sie auch sein mögen. Die Gewaltdarstellung wird nicht stilisiert, was den Film schwer verdaulich macht, ihn aber auch für einen Film dieses Genres ungewöhnlich realistisch wirken lässt.
Kritik von Caroline Reiter (Schulzentrum Walle, Bremen)
Nicht ohne einen Bruder
Liebe und Rachsucht sind zwei große Mühlräder im Fluss des Lebens, die antreiben, Energie erzeugen für große Taten und kleine Gesten. Micha Walds erster Langfilm Voleurs de chevaux lebt intensiv von diesen zwei Gefühlen, indem er zwei Bruderpaare im 19. Jahrhundert porträtiert und mitverfolgt, wie sie an jenen Emotionen zu verzweifeln und auch zu sterben drohen. Jakub und sein kleiner Bruder Vladimir einerseits, die sich den Kosaken anschließen, und Roman und sein jüngerer Bruder Elias andererseits, die den Ersteren ihre Pferde stehlen und dabei Vladimir umbringen, woraufhin Jakub Rache schwört. Jene Szenen zwischen Jakub und Vladimir vor diesem Vorfall zeugen von unerschütterlicher Bruderliebe, die nicht zuletzt durch eindrucksvolle, stille Szenen und der beachtlichen Leistung der Schauspieler vermittelt wird und tiefe, unverwischbare Spuren im Herzen hinterlässt. So anders die Beziehung indes zwischen Roman und Elias sein mag, so anrührend ist es auch, wie Roman, der seinen Bruder sonst unbekümmert für seine Zwecke auszunutzen scheint, ihn vor anderen, vor Enttäuschungen beschützt. Die Charaktere sind zwar ausgesprochen flach, doch nichtsdestoweniger ausdrucksstark durch Bilder, Handlungen und Dialoge beschrieben. Vor diesem Hintergrund erscheint keine Aufnahme überflüssig, kein Moment der Stille zu lang.
„Die Struktur des Films gleicht der eines Abenteuerfilmes“, sagt Micha Wald über sein Werk – und trifft damit den Punkt, an dem sein Film steigt und fällt. Zweifellos hat Wald es geschafft, Kampfszenen – zumeist zwischen den zwei großen Brüdern – nah an der Realität anzusiedeln: schnell, ruckartig, entschieden spielen sich die brutalen Momente ab, zeigen genau, wofür Zusammenhalt in jenen Zeiten notwendig war. Doch demgegenüber bleibt die Frage, wie man nach derartigen Kämpfen letztendlich doch noch leben kann – so wie Jakub. Oder wie der emotional schwache Elias nach Jakubs Mord an Roman Jakub immer noch wie ein Naivling nachlaufen kann, nur um irgendjemanden zu haben. Mal schnell irgendeinen Bruder eben, mit dem er im brutalen 19. Jahrhundert überleben kann.
Kritik von Christina Gerhard (Gymnasium Neubiberg, München)
Den Pferdedieben auf der Spur
Kennen Sie das? Sie sitzen gemütlich im Kino und zucken plötzlich zusammen. Dem belgischen Regisseur, Micha Wald, gelingt es, dies bei den Zuschauern zu erreichen. Er entführt den Zuschauer in das Jahr 1810, in dem Kosakenstämme mordend und plündernd durch das Land ziehen, unter ihnen die beiden Brüder Vladimir und der ältere Jakub. Fernab der Zivilisation leben Roman und sein kleiner Bruder Elias, welche um zu überleben, Pferde stehlen und verkaufen, daher der Titel Voleurs de chevaux.
Der Jungregisseur schafft es, die Geschichte der beiden Brüderpaare dramatisch und filmisch grandios darzustellen, die, obwohl so verschieden, in ihrer Beziehung zueinander sehr viele Gemeinsamkeiten haben, z.B. die überzeugende Fürsorge der grossen Brüder.
Die Brutalität und Lebensweise der Zeit werden für den Zuschauer sinnlich erfahrbar durch starke visuelle Reize, die auch den Elementen (Erde, Wasser und Luft) zuzuordnen sind. So wird Elias von seinem großen Bruder mit Erde eingerieben, als Tarnung und ein innerirdischer Zufluchtsort stellt die Verbundenheit mit dem Element dar.
Durch die exzellente Tontechnik wird der Zuschauer fühlbar in die Handlung ge- und entführt, so dass es in den sehr brutalen, sehr gut gespielten Rachekampfszenen so schmerzvoll erfahrbar wird, dass einige, ältere Zuschauerinnen diesen „Männerfilm“ verließen.
Die Kameraeinstellungen, größtenteils variierend zwischen Halb- und Nahtotal, unterstreichen die epische Handlung und die verwendeten Musiksequenzen verstärken den Eindruck der idyllisch wirkenden Natur, die in Kontrast zur Heftigkeit des Geschehens steht. Wenn es Geruchskino gäbe, könnte man auch die Exkremente an der Latrinenwand riechen, die das eine Brüderpaar reinigen muss, denn nach Aussage des Regisseurs wurde hier mit Realia gearbeitet.
Also ein Film, der dem Zuschauer historische Elemente und große Gefühle von Angst und Liebe bis Hass und Zorn sinnlich sehr nahe bringt.
Kritik von Lisa Carina Krick, Mario Karbowiak, Ann-Kathrin Malzkorn (Gesamtschule Welper, Hattingen)
Voleurs de chevaux; Belgien, Frankreich, Kanada 2007; 86 Minuten; Regie: Micha Wald; Drehbuch: Micha Wald; Produzent: Jacques-Henri Bronckart, Olivier Bronckart; Mit Adrien Jolivet, Grégoire Colin, François-René Dupont, Grégoire Leprince-Ringuet, Igor Skreblin, Mylène Saint-Sauveur
Diese Kritiken sind entstanden im Rahmen von La Toute Jeune Critique
Semaine internationale de la Critique de Cannes 2007.
Zur Übersicht der Semaine Internationale de la Critique de Cannes 2007
Kommentare zu „(Ganz) Junge Kritik: Voleurs de chevaux“
Es gibt bisher noch keine Kommentare.