(Ganz) Junge Kritik: Orlando Vargas
Raues Meer, kahle Dünenlandschaften und ein einsames Küstendorf – vor diesem Hintergrund spielt der Film Orlando Vargas und handelt von der Geschichte der gleichnamigen Hauptperson, die mit seiner Frau Alice und seinem Sohn Thomas in Uruguay lebt. Orlando leidet unter dem Druck des politischen Regimes und wird ständig von einem Polizisten überwacht, scheint die Gefahr aber vollkommen zu ignorieren und sucht Zuflucht im Alkohol. Sein Sohn Thomas spürt die Veränderung des Vaters, welcher sich mehr und mehr von jeglichem familiären Kontakt abschottet. Orlando organisiert eine Reise mit seiner Familie nach Josefina, das letzte Dorf vor der brasilianischen Grenze. Noch am Tag der Ankunft verschwindet er ohne irgendeine Nachricht zu hinterlassen. Es scheint, als habe ihn die Natur verschluckt. Diese nimmt, wie es in "südamerikanischen Produktionen üblich ist" (O-Ton des Regisseurs) im Film eine besondere Position ein. Auf der einen Seite bildet die faszinierende Landschaft Uruguays Rahmen und Kulisse der Erzählung, auf der anderen Seite aber scheint der Natur Charakter und Persönlichkeit gegeben zu sein. Der Autor, der sein Hauptaugenmerk auf die Wirkung der Natur auf seinen Betrachter richtet und diese in langen Szenen vorstellt, räumt ihr also auch eine bedeutende Rolle in der Handlung ein. Die Natur erscheint als eine Übermacht, die für Orlando Vargas, Opfer politischer Hetze, den letzten entscheidenden Schlupfwinkel bildet. Der Zuschauer ist bewegt von der fast feindlich scheinenden Szenerie, die die Verschlossenheit und Melancholie der Charaktere spiegelt. Die Natur ist also hier nicht nur ein die Handlung zusammenfügendes Element, sie baut gleichzeitig eine Brücke zum Zuschauer, der an die fremde, unbekannte Umgebung herangeführt werden soll. Auch weckt sie Verständnis für Orlandos Situation. Sein Tod am Ende wird nicht explizit dargestellt. Dem Regisseur ist es gelungen, die Hauptperson, die bis auf wenige Szenen am Anfang nie wirklich anwesend ist, dennoch aber im Bewusstsein des Zuschauers ständig präsent sein zu lassen. Diese Undefiniertheit, die sich durch den ganzen Film zieht, steht ganz im Sinne des Autors, der in diesem Film sein eigenes Schicksal sowie das seiner Familie verarbeitet und dem Zuschauer viel Freiraum zur Interpretation geben will. Der Film ist in Bezug auf Dialoge und Handlungsaktionen minimalistisch gestaltet und lebt von den endlosen Landschaftsbildern. Leider führt diese Umsetzung dazu, dass die Handlung sich in der Landschaftsdarstellung verliert und der Film den Zuschauer auf eine Geduldsprobe stellt.
Kritik von Moritz Bender, Ariane Hengst und Bernhard Lubomski (Gymnasium auf der Karthause, Koblenz)
Zwischen Himmel und Erde
Eine schlaue Lebensweisheit besagt, Weglaufen sei keine Lösung. In manchen Situationen jedoch möchte man genau das tun, man kann nicht mehr, man muss einfach weg.
Der Geschäftsmann Orlando Vargas flieht wegen zu starkem politischen Druck, dem er nicht standhalten kann, in eine kleine Ortschaft kurz vor der brasilianischen Grenze und nimmt seine Familie mit. Man merkt dem Mann an, dass er nicht mit beiden Beinen im Leben steht und beobachtet, wie er seine Sorgen im Alkohol zu vergessen versucht. Der Film teilt sich in zwei Abschnitte, einmal das Leben in der Geschäftswelt und zum Anderen das ruhige Leben auf dem Dorf. Der Gegensatz wird sehr gut verdeutlicht durch die vielen Dialoge im ersten Teil und die Dominanz des Schweigens im Zweiten. Die Verbindung dieser beiden Lebensabschnitte wird durch die sehr lang dargestellte Autofahrt verdeutlicht.
Danach flieht Orlando Vargas jedoch erneut, lässt seine Familie im Stich und wendet sich seinem vorherigem Leben ab. Es scheint als wäre es ein Abschied für immer, genau weiß der Zuschauer das jedoch nicht, da der Regisseur Juan Pittaluga die Gefühle des Mannes nicht offen darstellt und die Figur nie selbst darüber spricht. Man ist ausschließlich dazu in der Lage, Schlussfolgerungen aus seinem Handeln zu ziehen. Der Film gibt generell viel Platz für eigene Interpretationen und regt die Phantasie des Publikums zum freien Lauf an.
Ein klares Stilmittel ist jedoch das Wasser, das im zweiten Teil eine wichtige Rolle spielt. Es ist das Symbol der Veränderung und die lauten Wellengeräusche demonstrieren die Macht und den Zwang des Wandels. Als Verdeutlichung der Unsicherheit der Hauptfigur werden lange, stillstehende Kamerabilder von Himmel und Meer gezeigt. Dies soll dem Publikum näher bringen, dass er sich seiner Entscheidung nicht sicher ist und sinnbildlich in der Luft zu schweben scheint.
Juan Pittaluga wurde durch eigene Erfahrung zu seinem sehr poetischen Werk inspiriert, er widmet den Film seinem Vater. Orlando Vargas ist sehr ruhig und zeigt in schönen Bildern die einzigartige Landschaft. Sehenswert und einfach poetisch.
Kritik von Theresa Walther, Anne Bolick (Erich-Fried-Gymnasium, Berlin)
Melancholie und Sprachlosigkeit
Haben wir uns nicht alle schon einmal gewünscht, in einem einsamen Haus am Meer zu leben, in dessen Umgebung es keine lärmenden Autobahnen oder Flughäfen gibt; wo Menschen alle etwas stiller sind und ohne Stress und Lärm leben können? Doch ob damit jeder glücklich wäre? Eine schöne Landschaft, das Meer und ein luxuriöses Haus können nicht die wichtigen Gespräche ersetzen, die der Mensch im Leben braucht. Der Film Orlando Vargas des Regisseurs Juan Pittaluga zeigt eine solche Umgebung. Eine Familie verbringt mehrere Tage an der Küste Uruguays nahe der brasilianischen Grenze. Dort wohnt sie in einem traumhaften Haus inmitten einer wunderschönen Landschaft. Doch die Familie, deren unter politischer Verfolgung leidender Vater nach kurzer Zeit verschwindet, besteht offensichtlich aus mehreren Einzelgängern. Es findet so gut wie keine Kommunikation statt und die Menschen zeigen keine Gefühle. Durch lange, abwechslungslose, die Personen zeigenden Kameraeinstellungen, die meistens nicht durch Musik oder Sprache begleitet werden, kann sich der Kinobesucher nur schwer mit ihnen identifizieren. Anstelle der Personen spielt die Landschaft die Hauptrolle. Im gesamten Film werden verschiedene malerische Perspektiven gezeigt, wie etwa das Meer, sodass der Film sehr an ein Fotoalbum mit Landschaftsaufnahmen erinnert. Diese werden oft durch harmonische Melodien untermalt, die Idylle ist also perfekt. Jedoch wird der Zuschauer durch die magere Darstellung der Handlung verwirrt und kann dem Film oftmals nicht folgen. Besonders ist dies am Ende der Fall, denn es wird nicht ganz klar, was mit dem Vater passiert. So ist viel Raum für eigene Gedanken und Spekulationen. Der Kontrast zwischen der Harmonie der Landschaft und der Disharmonie der Menschen und insbesondere dessen Darstellung ist sicher nicht jedermanns Geschmack.
Kritik von Alexander Koch, Mira Möll, Anjana Siwert (Friedrich-Magnus-Gesamtschule, Laubach)
Man bräuchte mehrere Seiten für die Kritik dieses minimalistischen Films Orlando Vargas von Juan Pittaluga um die vielseitigen Aspekte zu würdigen, die der Film umfasst.
Ein Film, der weniger wie ein Spielfilm, sondern eher wie ein Besuch in einer Fotogalerie erscheint. Durch die in diesem Sinne ungewöhnlich langen Naturaufnahmen, die als Metaphern für die Emotionen der Protagonisten dienen, kommt Orlando Vargas ohne Dialoge und abwechslungsreiche Kameraeinstellungen aus. Auch die traditionelle und an Tango erinnernde Musik von César Lamschtein hat deutlich mehr Gewicht als der Dialog. Dies unterstützt die Sprachlosigkeit und steht im Gegensatz zur Ausdruckskraft des Dekors. So ist zum Beispiel die nächtliche Autofahrt durch die scheinbar endlose Dunkelheit ein Sinnbild für die ungewisse Zukunft der Familie. Gefühle und Gedanken werden durch die schauspielerische Leistung, vor allem durch die gekonnte Mimik und Gestik auch der Laiendarsteller, hervorgehoben.
Der Fakt, dass der Film als Hommage an den Vater des Regisseurs dient, lässt auf autobiographische Hintergründe schließen. Für den Regisseur mag das Werk vergangenheitsbewältigend sein, jedoch ist er für Kinobesucher schwer nachvollziehbar.
Ein Film, der erst im Nachhinein seine Tiefrgründigkeit erschließen lässt, jedoch für Kino ungeeignet erscheint, da er im Ganzen eher schwer zugänglich ist.
Kritik von Julia Claus, Nadja Momotow und Alena Schmitz (Hildegardisschule, Bochum)
Orlando Vargas; Urugay, Frankreich 2005; 80 Minuten; Regie: Juan Pittaluga; Drehbuch: Juan Pittaluga; Produzent: Paulo Branco; Mit Aurélien Recoing, Elina Löwensohn, Diego Bernabe, Hector Guido, Ximena Decuadro
Diese Kritiken entstanden im Rahmen von La Toute Jeune Critique
Semaine internationale de la Critique de Cannes 2005.
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