(Ganz) Junge Kritik: Moscow, Belgium


Was ist Glück?

Das Leben von Matty ist nun wahrlich kein Zuckerschlecken.
Die 43-jährige Frau lebt getrennt mit drei Kindern und droht im Alltagstrott zu versinken. Ihr sehnlichster Wunsch, die Rückkehr in ein normales Leben, erweist sich jedoch als ein großer Hindernisparcours, der sich das Leben nennt.

Nach einem Zusammenstoß mit einem LKW auf dem Supermarktparkplatz nimmt Johnny, der Fahrer des LKWs einen wichtigen Platz in Mattys Leben ein. Zunächst abweisend versucht sie Johnny, den 14 Jahre jüngeren Verehrer, und ihre Gefühle zu ignorieren, zumal sie für Werner, ihren fast Ex -Mann, immer noch etwas empfindet. Das Chaos wird perfekt als Johnny und Werner, der sich ebenfalls wieder für seine Frau interessiert, gemeinsam mit der gesamten Familie am Küchentisch zu Mittag essen und sich ein lautstarkes Wortgefecht liefern. Das ganze findet seine Krönung als nun auch die ältere Tochter anstatt dem erwarteten Freund eine Freundin präsentiert. Und zwischen all dem steht immer noch Matty, die alle Geschmäcke mit Senf zu verdrängen versucht und immer noch nicht den Ausweg aus ihrem faden Leben gefunden hat. Sie steht zwischen nostalgischer Vergangenheit und ungewisser Zukunft, zwischen Werner, der ein halbes Jahr  mit einer seiner Studentinnen zusammen lebte und Johnny, dem Cowboy mit krimineller Vergangenheit. Durch den jungen Johnny gewinnt die ausgelaugte Mutter wieder an Selbstvertrauen, und wird innerlich auch selbst jünger, sei es nun in Form neuer knallroter Schuhe oder spontanem Sex im Fahrerhaus des Lkw’s. Doch auch Johnny schafft es nicht alle Beulen und Kratzer von Matty zu beseitigen, denn auch er kann sich hinter der Fassade des Charmeurs nicht verstecken, der Matty mit seiner Italienromantik zu verführen versucht.

Denn dieser Film ist das Leben, das Leben, wie es ist. Mit seinen Illusionen und Desillusionen, denn nichts ist Fake, das Leben ist echt. Dafür reichen dem Film Alltagsplätze, wie man sie überall findet und Dialoge, die natürlich und tief zugleich sind. So schafft es Matty Johnny nach dem Unfall knallhart als im „toten Winkel“ lebend zu charakterisieren. Der Film überzeugt durch das glaubhaft dargestellte Leben kleiner Leute und seiner grotesken Situationskomik. Denn das Leben ist kein vorhersagbares Tarotspiel, sondern ein Spiel mit verdecktem Blatt.

 

Kritik von Janice Thelen und Anais Jaenisch (Neuwied)
 


Hilft Senf gegen Ausweglosigkeit?

Die 41-jährige Matti versucht es auf diese Weise. Einerseits indem sie ihre Mahlzeiten auf einen und denselben Geschmack bringt und andererseits, um mit ihren Problemen fertig zu werden. So lässt sie alles an sich vorbeirauschen. Sie sieht in dem Senf eine Art Betäubungsmittel. Jedoch betäubt sie nicht ihre Probleme, sondern sich selbst. Dadurch ist sie nicht mehr offen für neue Erfahrungen.

Schon in der ersten Szene, eine Großaufnahme ihres Gesichtes, wird verdeutlicht, wie teilnahmslos sie ihren Alltag bestreitet. So trifft sie vollkommen abwesend auf einem Supermarktparkplatz, durch einen Unfall auf den 10 Jahre jüngeren Truckerfahrer Johnny. Dieser redet ihr schon beim ersten gemeinsamen Essen den Senf aus und gibt ihr so ihr durch die Trennung ihres Mannes verlorenes Selbstwertgefühl zurück. Christophe Van Rompaey zeigt in seinem Erstlingswerk auf gefühlvolle und zugleich witzige Art und Weise die Entwicklung der Beziehung zwischen den Charakteren und die Verwandlung Mattis selbst, von einer gedemütigten, durch das Leben gezeichneten Person zu einer offenen, ungebundenen Frau. Während des gesamten Filmes fühlt man sich durch die realistische Umsetzung der Story mit den Protagonisten verbunden. Der Witz der Geschichte wird durch die sarkastisch geprägten Dialoge dargestellt.

Resultierend daraus kann man sagen, dass man Gefühle nicht betäuben kann, da es sonst irgendwann zu einem unkontrollierbaren Ausbruch kommt.

Kritik von Franziska Jens und Anke von Appen (Oranienburg)
 


Mut zur Realität

In seinem ersten Kinofilm Moscow, Belgium geht Christophe van Rompaey das besondere Risiko ein, nicht mehr als das wahre Leben zu zeigen. Seine Protagonisten lieben sich, hassen sich, schlagen sich, vertragen sich, essen Blutwurst mit Senf und bedienen dabei doch keines der gängigen Klischees.

Die, von ihrem Alltag und der bevorstehenden Scheidung von ihrem Nochehemann und Vater ihrer drei Kinder abgestumpfte Postbeamtin Matty (Barbara Sarafian) und Johnny (Jurgen Delnaet), der versucht als Trucker einen längst gescheiterten Traum von Freiheit, Abenteuer und einem „dolce vita“ in Italien zu leben, lernen sich bei einem heftigen Streit nach einem Autounfall kennen. Aus der anfänglichen Aversion entwickelt sich nach und nach ein vorsichtiges Verhältnis. Demgegenüber steht während des gesamten Films die gestörte Beziehung Mattys zu ihrem Ehemann Werner, der sich zwischen einem neuen Leben mit seiner 20 Jahre jüngeren Freundin und seiner Familie entscheiden muss.

Der im tristen Arbeiterviertel Moscow, im flämischen Gand spielende Film, beschäftigt sich nicht mit einer illusorischen Traumwelt, sondern mit dem grauen Alltagsleben, mit seinen Höhen, Tiefen und auch peinlichen Augenblicken. Er lebt von seinen wirklichkeitsnahen, wenig perfekten Charakteren, die zu jeder Zeit glaubhaft und lebendig wirken. Auch die Bildhaftigkeit, mit der Mattys Situation immer wieder beschrieben wird, macht den Film sehenswert. So wird etwa das sagenumwobene „vorgetäuschte“ Lächeln der Mona Lisa zur Metapher für Mattys Stimmungsbild.

Iris, die Freundin von Mattys Tochter, bringt gegen Ende Rompaeys Intention mit einem Satz auf den Punkt: „Alles ist echt.“

Matty findet am Schluss ihr bescheidenes Glück und kann in aller Ruhe entlang der Bahngleise spazieren, auf denen sich zuvor ihre Suizidgedanken abspielten.

Kritik von Sebastian Gratz und Moritz Bürger (Hölderlin-Gymnasium, Nürtingen)
 


Ist Liebe ein Traum?

Moscow , Belgium ist ein Film über die reale Welt, in der wir leben. Diese Realität wird jedoch durch eine Art Roadmovie Romanze durchgezogen. Es ist die Geschichte einer belgischen Frau, namens Matty, die sich zwischen Liebe und Bequemlichkeit, zwischen einem organischem und einem mechanischem Lebensstil entscheiden muss.   

An einem Tag wie jeder andere, geht Matty mit ihrer jüngeren Tochter und ihrem Sohn einkaufen. Beim Ausparken übersieht sie einen quietschgelben Laster, in den sie mit Wucht reinfährt. Dieses Ereignis entwickelt sich zu einem bedeutenden Einschnitt in ihrem Leben. Ihr vorher monotones Leben wird durch Johnny, der Lastwagenfahrer der in diesen Unfall verwickelt war, radikal verändert. Der Kleiderstil und die Akkordeontöne spiegeln während des ganzen Films die Stimmungslagen von Matty wieder. Der Film hat außerdem eine Tendenz zu einer emotionalen Unverdaulichkeit. Dies wird insbesondere von Johnny metaphorisch dargestellt, indem er ihre tägliche Senfration mit der Tatsache verbindet, dass sie nichts Neues ausprobieren möchte, dass der Senf ihre Vergangenheit und ihr aktuelles Leben übertönt. Im Gegensatz dazu genießt Johnny das süße Leben, das durch Eiscreme und Lutscher wiedergegeben wird. Diese unbestimmten und undefinierbaren Schwingungen in dem Film und die manchmal unprofessionellen Kamera-moves spiegeln das wacklige Leben Mattys wieder. Der Rhythmus des Films mit all seinen Höhen und Tiefen stellt auf eine geniale Art und Weise das chaotisch-alltägliche Leben dar. Die Schauspieler deren Interpretation sehr überzeugend ist, haben uns die Charaktereigenschaften der Filmcharaktere nahe gebracht in dem sie den Film real werden ließen durch ein alltägliches Styling und Kleiderstil.

Moscow, Belgium kann jedoch nicht das von Johnny erhoffte Italien werden, das Land der Liebe.

Kritik von Teresa Burgardt und Clara Dacharry (Lycée franco-allemand, Saarbrücken)


Moscow, Belgium (Aanrijding in Moscou); Belgien 2008; 102 Minuten; Regie; Christophe Van Rompaey; Drehbuch: Jean-Claude Van Rijckeghem, Pat Van Beirs; Produzent: Jean-Claude Van Rijckeghem; Mit Barbara Sarafian, Jurgen Delnaet, Johan Heldenbergh, Anemone Valcke, Sofia Ferri, Julian Borsani

Diese Kritiken sind entstanden im Rahmen von La Toute Jeune Critique
Semaine internationale de la Critique de Cannes 2008.



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