(Ganz) Junge Kritik: La sangre brota
Blutige Familienbande
Zwei Jugendliche haben auf dem Flachdach eines Hauses in Buenos Aires Sex. Nach dem lieblosen Akt, verlässt der Junge, Leandro (Nahuel Pérez Biscayart), hastig den Ort des Geschehens. Davor stillt er sein Verlangen nach dem Drogenrausch und greift zu einem Tütchen mit Ecstasy-Tabletten.
Diese Szene eröffnet Pablo Fendriks zweiten Spielfilm La Sangre brota, in dem die Geschichte einer argentinischen Familie erzählt wird, die sowohl mit finanziellen als auch zwischenmenschlichen Schwierigkeiten zu kämpfen hat. Als Ramiro, der ältere Sohn, sich überraschend aus den Vereinigten Staaten meldet und dringend Geld braucht, sieht sich sein Vater Arturo gezwungen binnen 24 Stunden 2000 Dollar aufzutreiben. Der, nach langem Zögern gefasste Entschluss seinem Sohn zu helfen, treibt Arturo letztlich sogar soweit, gegen seine ehrlichen und aufrichtigen Grundsätze zu verstoßen, indem er erstmals seit Jahren wieder Gewalt gegen seine Frau und Leandro, seinen jüngeren Sohn, an.
La Sangre Brota zeichnet ein äußerst lebendig wirkendes Bild der argentinischen Hauptstadt, indem beispielsweise bei Straßenszenen bewusst auf den Einsatz von Statisten verzichtet wird und stattdessen zufällig vorbeikommende Passanten als solche einbezogen werden. Allerdings schreckt der Film auch nicht vor der besonders grausamen Darstellung von Gewalt zurück. Leandros minderjährige Freundin etwa, beißt ihm unter Drogeneinfluss die Zunge ab, die Brutalität der Kampfszene zwischen Vater und Sohn kann kaum in Worte gefasst werden.
Trotz der möglicherweise als übertrieben auffassbaren Darstellungsweise betont Fendrik, dies sei eine Familie, wie er sie selbst kennengelernt habe. Alle Charaktere entsprächen realen Vorbildern.
Mit fortdauernder Handlung rücken die Probleme der in Buenos Aires lebenden Familienmitglieder immer stärker in den Vordergrund, während die finanziellen Nöte des „amerikanischen“ Bruders am Ende überhaupt nicht mehr beleuchtet werden. Obwohl er mehr Fragen aufwirft, als er beantwortet, vermittelt der temporeich erzählte Film ein schwer verdauliches Abbild der Wirklichkeit Lateinamerikas.
Kritik von Sebastian Gratz und Moritz Bürger (Hölderlin Gymnasium, Nürtingen)
La sangre brota (Blood Appears)
Pablo Fendrik zeigt einen Einblick in das pulsierende, unberechenbare Leben in den Straßen von Buenos Aires und beleuchtet 24 Stunden im Leben einer argentinischen Familie.
Der gesamte Film zeichnet sich durch detailgetreue, sowie obszöne Szenen aus, welche sich durch Nahaufnahmen der Gesichter äußert. Bereits am Anfang wird der Zuschauer auf eine provozierende Art und Weise in das Milieu von Drogen und Sex eingeführt, das den Film prägt.
Schon früh zeichnen sich zwei Handlungsstränge ab, die zum Ende deutlich werden. Auf der einen Seite der Vater Arturo (Arturo Goetz), der offensichtlich bereits seinen älteren Sohn zur Flucht gedrängt hat und jetzt mit allen erdenklichen Mitteln versucht, seine Familie wieder zusammen zu führen. Dabei weicht er jedoch von seinem geordneten Leben als Taxifahrer ab.
Auf der anderen Seite steht der drogenabhängige, perspektivlose Sohn, der versucht sich durch den Drogenhandel eine Flucht vor dem Vater zu ermöglichen. Beide Stränge finden ihren Höhepunkt im Zusammentreffen von Vater und Sohn. Hier wird dem Betrachter bewusst, wie gewaltgeladen das Verhältnis von Vater und Sohn ist.
Die gesamte Handlung wird durch gute schauspielerischer Leistung umgesetzt, die sich durch die Authentizität der Darsteller äußert. Die musikalische Untermalung in Verbindung mit den Alltagsgeräuschen machen es dem Zuschauer unmöglich, seine Gedanken schweifen zu lassen. Zudem lassen die persönlichen Erfahrungen des Regisseurs den Film real erscheinen, denn er selbst sieht seinen Film als ein Stück Aufarbeitung seiner Jugend.
Kritik von Franziska Jens und Roland Koch (Oranienburg)
2-5-1, bitte kommen!
„Lehnen Sie sich zurück und entspannen Sie sich. Ihr Körper wird ganz schwer.“ Arturo, ein in die Jahre gekommener Taxifahrer und leidenschaftlicher Bridgespieler, versucht sich durch Meditation in seine eigene Welt zurückzuziehen. Passiv und von der Außenwelt abgeschnitten, wird er mit den verschiedensten Situationen und Menschen konfrontiert. Erst einmal aus dem Taxi ausgestiegen, muss er sich seinen finanziellen und familiären Problemen stellen. Flucht? Unmöglich. Denn zu Hause erwartet ihn seine dominante Ehefrau, die in Sachen Geld das letzte Wort zu haben scheint. Auch sein jüngster Sohn, Leandro, bereitet ihm Sorgen: drogenabhängig und ständig high, träumt er davon eine Karriere als Drogendealer zu starten und seinen in Houston lebenden Bruder zu besuchen. Dieser benötigt währenddessen dringend Geld, das ihm seine Familie schicken soll. Die einzige finanzielle Reserve ist die Familienkasse, die jeder für sich beanspruchen will. Der Kampf um das Geld beginnt.
Pablo Fendrik hat es geschafft die persönliche Welt des Taxifahrers Arturo als sehr individuell und isoliert zu gestalten. Auffällig hierfür ist der Wechsel zwischen lauter Außenwelt und stillem Taxi, das von Meditationsmusik und einer warmen Stimme beherrscht wird. Im totalen Kontrast dazu steht Fendriks Darstellung der Jugend, wie z.B. die Anfangsszene, in der Leandro zu harten Rocktönen die Strasse entlang hastet, verdeutlicht. Ebenfalls kontrastreich scheint die verwahrloste Präsentation Leandros, und der Restjugend, die ohne jegliches Ziel und Orientierung durch die Strassen von Buenos Aires umherstreifen, verglichen mit Arturo, der gewissensvoll arbeiten geht. Diese unterschiedlichen Lebensweisen werden durch zahlreiche Nahaufnahmen unterstrichen, die Fendriks Liebe zum Detail zum Vorschein bringen. So wird einerseits Geld, als auch Blut, die Hauptbestandteile des Films, hauptsächlich in Grossaufnahmen wiedergegeben. Im Laufe des Filmes, fällt die aufgesetzte Maske Arturos, sodass am Ende sein wahres, aggressives „Ich“ zum Vorschein kommt. Ein sowohl erschreckender als auch berührender Film, der sich mit zersplitterten Familienverhältnissen und der Gier nach Geld beschäftigt. Denn Blut fließt immer…
Kritik von Teresa Burgardt und Lara Gretscher (Saarbrücken)
Survival of the fittest
Ein junger Mann mit blutverschmiertem Gesicht liegt erschöpft in den Armen seiner Freundin. Ein Lichtstrahl fällt auf eine Haarstähne, die mit Blut verkrustet ist. Ein Hoffnungsschimmer im Großstadtdschungel? Präsentiert wird dem Zuschauer das Portrait einer Raubtierfamilie in Argentinien: Ein junger Dealer mit wolfsähnlichen Zügen und wilder Frisur, der durch sein Revier streift; sein Vater ein Taxifahrer, der seinen in Amerika lebenden Sohn vermisst; und schließlich die Mutter, die vom Bridge-Spiel besessen, das Geld der Familie verspielt. Der Zuschauer wird auf einer Safari durch die Straßen Buenos Aires' in das wilde Leben der Protagonisten katapultiert. Die Brutalität auf verschiedenen Ebenen der Gesellschaft wird in diesem Film zum Leitmotiv. Bei einer körperlichen Auseinandersetzung zwischen Vater und Sohn hört man aus dem Off nur noch das Knirschen splitternder Zähne und den rasselnden Atem des Sohnes, während der Blick auf die unablässig einschlagende Faust des Vaters gerichtet bleibt. Dem Zuschauer wird kein durchgehender Handlungsfaden geboten, er ist auf sich allein gestellt, die Motivation der Charaktere nachzuvollziehen. Der Regisseur Pablo Fendrik nimmt den Zuschauer nicht nur in den Großstadtdschungel mit, sondern lässt ihn auch irritiert und ohne Machete im Dickicht zurück. Kritik von Janice Thelen und Anais Jaenisch (Werner-Heisenberg-Gymnasium, Neuwied)Solche Nahaufnahmen bis hin zu Makros vermitteln einerseits Details, führen jedoch andererseits zur Orientierungslosigkeit. Die Begleitung der einzelnen Protagonisten, meist mit der Handkamera, ergibt kein einheitliches Gesamtbild der Familie und ihrer Beziehungen. Nur klar ist, dass die Einzelkämpfer sich gegenseitig berauben, ganz nach dem darwinistischen Prinzip "Survival of the fittest". Der familiäre Mikrokosmos, der sich uns präsentiert, wird so zum Bild für die Zustände im Heimatland des Regisseurs.
La sangre brota (Blood Appears); Argentinien, Frankreich, Deutschland 2008; 100 Minuten; Regie: Pablo Fendrik; Drehbuch: Pablo Fendrik; Produzent:Juan Pablo Gugliotta; Mit Arturo Goetz, Nahuel Pérez Biscayart, Guillermo Arengo, Stella Galazzi, Ailin Salas, Guadalupe Docampo, Susana Pampin
Diese Kritiken sind entstanden im Rahmen von La Toute Jeune Critique
Semaine internationale de la Critique de Cannes 2008.
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