(Ganz) Junge Kritik: Fresh Air (Friss levegö)

Im Januar des Lebens

Kälte herrscht im winterlichen Budapest, sowohl physisch, als auch auf das bloße Aussehen des alten, betonversiegelten Platzes bezogen. Er ist der Treffpunkt der jungen Angela und ihrer Freundin und hat nichts außer Beton und kahler Erde unter scheinbar ewig grauem Himmel vorzuweisen.

Fresh air (Friss levegö) zeichnet eine triste und unscheinbare Umgebung irgendwo in Budapest, in der Angela und ihre Mutter Viola leben. Während jene eine Schule für Näherei besucht, arbeitet diese in einer öffentlichen Toilette. Angela, die jede Gelegenheit nutzt, um ihre bescheidenen Verhältnisse verlassen zu können, hat für die Arbeit ihrer Mutter nicht mehr als Abscheu übrig.

Die Bilder, die die Regisseurin Agnes Koscis auf die Leinwand bannt, wollen einschüchtern und neben der sozialen Kälte innerhalb wie außerhalb der Familie auch die Ausweglosigkeit der Lage von Mutter und Tochter vermitteln. Dazu dienen vor allem lange, starre Kameraeinstellungen, die die volle Länge und daraus erwachsende Beklemmung einer Situation transportieren. Die extreme Dauer solcher Szenen, in denen die Handlung nur mäßig vorankommt, behindert jedoch die Spannung und verhindert, dass der Zuschauer am Schicksal der beiden Hauptfiguren teilnehmen möchte. Dass Spannung nur verhalten aufkommt, liegt zum anderen auch an der teilweise undurchsichtigen und unbelegten Entwicklung der Ereignisse, wie dem Fortlaufen Angelas; aber auch an unvorhersehbaren und nicht ins Bild des Handlungsverlaufes passenden Vorfällen, so dem Besuch eines alten Onkels und einem Raubüberfall.

Obwohl der Film auf seine Weise die Verfahrenheit eines ärmlichen Lebens in einem Teil des ehemaligen Ostblocks vermittelt, sind die einzelnen Szenen für einen mitreißenden Spannungsaufbau zu lang. Beeindrucken kann der Film nur durch Vermittlung von Gefühlen und Problemen, die den Zuschauer nicht kalt lassen können, sondern sich auf ihn übertragen und in ihren Bann ziehen werden.

Kritik von Manuel Klein (Europagymnasium Wörth)


Frische Luft dringend benötigt

Wollten sie schon immer mal zwei Stunden in einem Kinosessel sitzen und nur darauf warten, dass der Film endlich ein Ende hat? Friss levegö, zu Deutsch „Frischluft“, lädt Sie dazu ein.

In ihrem Debüt als Spielfilm-Regisseurin beschreibt Ágnes Kocsis das Leben von Viola, einer Klofrau des Budapester Bahnhofs. Ihr Gesichtsausdruck ist gezeichnet von stupider, entwürdigender Arbeit und einem inhaltslosen Leben. Sie flüchtet sich in die Welt von synthetischen Gerüchen. Die Konversation zu ihrer Tochter Angela findet praktisch nur in Form von Zetteln statt und das einzige was sie verbindet ist die Fernsehsendung, die sie sich jeden Abend gemeinsam ansehen. Auch die Suche Violas nach einem Mann bleibt erfolglos. Ihr Leben hat wirklich keine besonders guten Seiten.

Fresh air (Friss levegö) hat keine schnellen Schnitte, vielmehr Aufnahmen, die dem Zuschauer unendlich vorkommen und ihn dazu veranlassen nervös zu werden. Der Film regt förmlich auf, aber vielleicht ist genau das das Ziel des Films – den Zuschauer vor Ungeduld zur Weißglut zu treiben. Aus diesem Blickwinkel betrachtet, beschreibt der Film sehr gut, was er dem Zuschauer vermitteln will, nämlich die extreme Tristesse. Der Zuschauer fühlt das, was die Menschen dort gar nicht erst fühlen, da es ihnen auch nicht weiterhilft. Er fühlt die Empörung, die Wut, die Enttäuschung. Von der ersten bis zu letzten Minute fehlen Friss levegö Höhepunkte und Tiefpunkte. Alles ist derart hoffnungslos und deprimierend, dass es den Zuschauer auch nicht überrascht, als Viola an ihrem Arbeitsplatz ausgeraubt und zusammengeschlagen wird, ihre Tochter sie zwar im Krankenhaus besucht, aber das Verhältnis der beiden deswegen auch nicht besser wird.

Ágnes Kocsis hat nicht unbedingt einen schlechten Film gedreht, aber es ist ein Film, der schlechte Laune macht und dem es eindeutig an frischer Luft fehlt. Schade.

Kritik von Simon Oldenbruch (Gymnasium Gonsenheim)


Sehnsucht nach frischer Luft

„Hast du schon gegessen?“. Viel mehr als diese Worte werden zwischen Mutter und Tochter in dem ersten Spielfilm von Ágnes Kocsis, Fresh air (Friss levegö), nicht gewechselt.

Die nonverbale Beziehung resultiert aus dem Beruf der Mutter Viola, gegen den ihre Tochter Angela eine starke Abneigung empfindet. Viola ist Toilettenputzfrau. Angela hingegen möchte Designerin werden und die weite Welt sehen. Dieser Gegensatz und die ebenso bestehende Zusammengehörigkeit werden vor allem durch die dominierenden Komplementärfarben rot und grün deutlich.

Der Alltagstrott und die Tristesse in ihrem Leben werden dem Zuschauer besonders durch die Statik der Kamera bewusst, in wenigen Einstellungen lässt sie nur einen minimalen Einblick zu. Aufgrund der vorherrschenden Stille zieht sich der Film sehr in die Länge.

Die Sehnsucht nach frischer Luft zeigt sich in den Handlungen beider Frauen. Viola versucht die schlechten Gerüche mit Hilfe von Raumspray zu überdecken, während Angela die Flucht als einzigen Ausweg sieht.

Trotz des heiklen und zugleich interessanten Themas, das den Zuschauer anregt, über sein eigenes Leben nachzudenken, fehlt es dem Film an Dynamik, um wirkliche Begeisterung aufkommen zu lassen.

Kritik von Madeleine Stein, Rebecca Lepadus, Anja Seidemann und Corinna Mückenheim (Martin-Luther-Gymnasium, Lutherstadt Eisleben)


Auf der Suche nach sich selbst

Zwei Frauen sitzen auf einem Sofa in einem Aquarium. Das ist das Plakatmotiv des ungarischen Films Fresh air (Friss levegö) von Ágnes Kocsis, welches auf den ersten Blick für Verwirrung sorgt.

Nachdem man den Film gesehen hat, wird deutlich, dass es sich durchaus um eine treffende Darstellung der Lebenssituation von der Mutter Viola und ihrer Tochter Angela handelt. Wie Fische in einem Aquarium sind die beiden in ihrem tristen Alltag eingesperrt.

Mit der vermeintlichen Perspektivlosigkeit ihrer niedrigen Gesellschaftsschicht gehen beide Frauen unterschiedlich um. Die siebzehnjährige Angela eifert ihrem Traum nach Modedesignerin zu werden. Sie schämt sich für ihre Mutter, die als Reinigungskraft in einem Toilettenhaus arbeitet und versucht daher so wenig Zeit wie möglich mit ihr zu verbringen.

Nur zur täglichen Fernsehserie treffen sie sich auf dem Wohnzimmersofa, wobei jedoch keine Kommunikation stattfindet. Für Angela besteht darin die einzige Möglichkeit, mit ihrer Mutter in Kontakt zu treten, ohne gleichzeitig etwas ihres Inneren preiszugeben. Wie viele andere Jugendliche auch ist Angela auf der Suche nach sich selbst und versucht krampfhaft sich von ihrer Mutter zu distanzieren. Dieses darzustellen gelingt der Regisseurin über die Kleidung. Sie wählt die Komplementärfarben Rot, für Viola und Grün, die Farbe der Hoffnung, für Angela.

Am Ende schließt sich der Kreis - eher unbewusst tritt Angela in die Fußstapfen ihrer Mutter.

Kritik von Sabine Pietruske, Amélie Streubel, Anna Ellereit und Kevin Heinken (Altes Gymnasium Bremen)

 

Fresh Air (Friss levegö); Ungarn 2006; 109 Minuten; Regie: Ágnes Kocsis; Drehbuch: Ágnes Kocsis, Andrea Roberti; Produzent: Ferenc Pusztai; Mit Izabella Hegyi, Júlia Nyakó, Anita Turóczi, Zoltán Kiss


Woman and Gramophone
(Kvinna vid grammofon)

 

Wenn Bilder sprechen

Wie riecht die Sonne? Wie schmeckt Kälte? Wie klingt ein Kuchen?

Im Film Woman and Gramophone (Kvinna vid grammofon) von Ola Simonsson und Johannes Stjärne Nilsson werden visuelle Eindrücke hörbar gemacht.

Ein sommerlicher Nachmittag. Eine Frau sitzt am Grammophon, hört eine Platte und isst Kuchen. In der Stille nach Ende der Platte sucht sie nach neuen Klängen: aus einem alten Foto erklingen aufgeregte Stimmen, der Kuchen blubbert vor sich hin und aus einem Bild mit Sonnenblumen hört der Zuschauer das Summen eines Bienenschwarms. Schließlich erforscht die Frau ihre eigene Hand mit der Schallplattennadel und es ertönt ein Geräusch, das an das Fließen von Blut und an Kinderstimmen erinnert.

Die menschlichen Sinne werden hier miteinander verknüpft: Als synästhetischer Vermittler dient die Nadel des Plattenspielers, welche Bilder in Töne umwandelt. Die Frau nutzt diese dazu, ihre Welt auf ganz neuartige Weise zu erfahren. Sie hört in sich hinein und entdeckt dabei verborgene Stimmen.

Die an sich befremdliche Handlung gewinnt durch die Selbstverständlichkeit, mit der sie von der Darstellerin ausgeführt wird, einen ganz eigenen Humor. Durch Charme und Witz entsteht eine Leichtigkeit, die den Film auf ungewohnte Art unterhaltsam macht.

Kritik von Anna Hanson, Veronica Hess, Ida Mederos Leber und Amnueporn Wiegandt (Lessing-Gymnasium, Frankfurt am Main)

 

Woman and Gramophone (Kvinna vid grammofon); Schweden 2006; 4 Minuten; Regie, Drehbuch, Kamera, Schnitt, Produktion: Ola Simonsson und Johannes Stjärne Nilsson; Mit Sanna Persson

Diese Kritiken entstanden im Rahmen von La Toute Jeune Critique
Semaine internationale de la Critique de Cannes 2006.



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