Funky as Fuck – Karlovy Vary 2024

In den Wettbewerbsfilmen des Festivals in Karlovy Vary geht es um peruanische Rekruten für den War on Drugs und um einen jungen Mann, der in Georgien Teil einer faschistoiden Jugendbewegung wird. Zwei nachdenklichere Filme erinnern sich an eine Transition oder suchen Trost in Stein und Fels.

Mark Cousins kennt das Publikum in Karlovy Vary gut. Zahlreiche seiner spekulativ raunenden Essayfilme hat er hier vorgestellt, in der Jury saß er auch schon. Man wird Cousins also glauben dürfen, wenn er bei der Premiere seines neuen Films A Sudden Glimpse to Deeper Things über die schottische Künstlerin Wilhelmina Barns-Graham auf der Bühne in der Grand Hall steht – standesgemäß in Kilt und Tanktop, auf dem das Konterfei seines Sujets prangt – und über das Publikum sagt, es sei im besten Sinne „funky as fuck.“ Tatsächlich passt diese Beschreibung; die Vorstellungen in Karlovy Vary sind immer nahezu bis auf den letzten Platz besetzt, mit begeisterten oder zumindest begeisterungsfähigen Menschen jeder Altersklasse, sogar in den Pressevorführungen wird mitunter herzhaft gelacht.

Cousins Film hingegen stehe ich nicht bis zum Ende durch. Als die unnachahmliche Off-Stimme des Regisseurs über Barns-Grahams Genie sagt, „her brain was jumping the fence“ und die Kamera gleichzeitig ihrerseits über ein schottisches Mäuerchen stolpert, versuche ich mich noch zu beherrschen, bis ich – Cousins hält mittlerweile seine Tattoos in die Kamera und schwärmt von Fibonacci-Zahlen – dann doch selbst nicht anders kann als zu hüpfen, nämlich raus aus dem Kino und in die Pressevorstellung von Bertrand Bonellos The Beast (La Bête). Der lief schon letztes Jahr in Venedig, ist in Karlovy Vary aber an der Seite von ausgewählten Highlights der zurückliegenden Festivals in Cannes, Berlin und Locarno Teil des illustren Begleitprogramms. Doch die beiden hauseigenen Wettbewerbssektionen, deren Premieren den Kern des Festivals bilden, brauchen sich nicht zu verstecken, schon gar nicht vor dem Publikum, das hier ebenfalls stets zahlreich und gut gelaunt aufschlägt.

Quallen am Himmel

Das Debüt des Peruaners Paolo Tizón Night Has Come bedient sich streckenweise bei Claire Denis’ ikonischen Bildern aus Beau Travail (1999), inklusive des Abspanns, ohne den Fehler zu begehen, sie kopieren zu wollen. Night Has Come folgt einer Gruppe junger Rekruten, die sich freiwillig zum Militärdienst gemeldet haben, um in der durch die Kokain-Produktion berüchtigten VRAEM-Region im War on Drugs zu kämpfen. Kampfhandlungen bekommt man keine zu sehen, es geht – wie in Beau Travail – um die Vorbereitungen auf den Ernstfall, Choreografien und uniformierte Männlichkeit. Gleich am Anfang werden Haare kurzgeschoren, auf die Helme sind Nummern geschrieben, die Individualität tilgen sollen. Auf einem Baumstamm, der zu gemeinsamen Bauchmuskelübungen gebraucht wird, steht das Motto der Drill-Torturen, die der Film in langen, immer dunkler werdenden Sequenzen nebeneinanderreiht: Schmerz geht vorüber, Ruhm hält ewig.

Die auf Immersion abzielenden Bootcamp-Stationen werden von Szenen der Freizeit und des Zeitvertreibs unterlaufen, in denen die Rekruten verschämt über ihre romantischen Hoffnungen und Ängste sprechen, mit ihren Familien telefonieren oder einfach in der Gruppe abhängen. Auch hier ist man sehr nah dran, bekommt plötzlich ein Gefühl für diese zerbrechlich wirkenden Teenager, deren Erwachsenwerden nun darin besteht, töten zu lernen und die Angst vor dem eigenen Tod zu verlieren, was vielleicht dasselbe ist. Insofern liest sich die eindrücklich fotografierte Eröffnungsszene emblematisch: Aus der Flugzeugluke springen sie einer nach dem anderen Richtung Boden, aus dem Bild heraus, bis sich der Fallschirm öffnet und sie in der Bildtiefe wieder auftauchen. Tizón filmt das auch aus der Bodenperspektive, fängt ein, wie die Fallschirme am Himmel vorübergleiten, wie Quallen oder Geister.

Gebrochener Voyeurismus

Gleitbewegungen bestimmen auch Burak Çeviks Historiendrama über eine Gruppe linker Istanbuler Studenten etwa zwei Jahre vor dem Militärputsch 1980. Nothing in Its Place ist vermeintlich in einer einzigen Einstellung gedreht, was den Titel ein bisschen ironisch anmuten lässt, kann ein solch planungsintensives Drehvorhaben doch nur dann gelingen, wenn alles seinen Platz hat. Anstatt die für One-Shot-Filme üblichen Sogeffekte schlicht abzugreifen, entkräftet Çevik den häufig vorgebrachten Gimmick-Verdacht und entwickelt ein strukturelles Programm. Sein Film ist in zwei über die Bildsprache miteinander kommunizierenden Hälften gegliedert. Zur Geburtstagsfeier eines Freundes versammeln sich fünf Studenten, die gemeinsam für eine kommunistische Zeitschrift aktiv und auch sonst sehr belesen sind. Angesichts der zunehmenden faschistischen Gefahr wird beim Essen über Kursänderungen des Magazins wie der gesamten politischen Linken diskutiert (die bekannte Frage nach Theorie und Praxis des Widerstands); es liegt etwas in der Luft, politisch, dramaturgisch, zunächst visuell: Zigarettenqualm wabert unter der Deckenlampe, bis einer der Männer nach draußen geht, um Nachschub zu holen. Die Kamera folgt ihm, schwenkt nach draußen auf das nächtlich-urbane Panorama, aus dem sich zwei Schemen herausschälen. Es sind Anhänger der Grauen Wölfe, die sich Zutritt zur Wohnung verschaffen und die Studenten ermorden werden.

Diese tragische Wendung zum Thriller passiert genau zur Hälfte des Films. Die Kamera folgt dem, was sich anschließend abspielt, in unveränderter Manier, nämlich in ruhigen Gleitbewegungen, zeigt die Brutalität aus der Halbdistanz, eine Art gebrochener Voyeurismus. Die rostrote Deckenlampe wird erneut ins Visier genommen, nicht des Zigarettenrauchs wegen, sondern um nicht draufzuhalten, wenn darunter Menschen erwürgt werden. Von diesen Echos aus der ersten Hälfte gibt es einige. In ihnen klingt das Verhältnis von Wort und Tat nach, das erst intellektuell verhandelt, später mit plumper, ideologischer Gewalt weggewischt wird. Einer der Peiniger foltert seine Opfer auch mit Worten und Gesten, wenn er den Mythos vom Grauen Wolf vorträgt, dazu zeigt er den Wolfsgruß: jenen Gruß, mit dem der türkische Nationalspieler Merih Demiral wenige Tage vor der Premiere des Films sein Tor bei der Fußball-EM bejubelte. Zur Aktualität von Nothing In Its Place ist damit alles gesagt.

Sehen und Gesehenwerden

Spätestens seit das georgische Parlament Mitte Mai das sogenannte Agentengesetz verabschiedet hat, das erhebliche Einschränkungen für die unabhängige Arbeit von Medien und Zivilgesellschaft bedeutet, wächst das allgemeine Interesse für die Zustände im Land, das nicht zuletzt eine historisch herausragende Filmnation ist. Panopticon von George Sikharulidze versammelt viele der drängenden Probleme Georgiens, hüllt sich aber in das universelle Gewand eines Coming-of-Age-Dramas. Sandro steht kurz vor dem Schulabschluss, hat jedoch andere Dinge im Kopf, perverse Dinge, die im Kopf nicht bleiben, sondern ausagiert werden. Im öffentlichen Nahverkehr findet er eine geeignete Spielwiese, um mit perfiden Taktiken ungestraft Frauen zu begrabschen. Sein aufkeimender Exhibitionismus veranlasst ihn zu ähnlichen Handlungen. Das sexuelle Erwachen steht im Widerspruch zu seiner ultrareligiösen Erziehung (der Vater beschließt zu Beginn des Films, Sandro zu verlassen und Mönch zu werden), beim Masturbieren darf der gekreuzigte Jesus an der Wand nicht zuschauen. Ums Sehen und Gesehenwerden geht es diesem Film, darauf verweist schon der Titel, der Michel Foucaults Gefängnisstudie entlehnt ist. Auf der einen Seite arbeitet er diesen Themenkomplex anhand der kinky Teenage-Gelüste sehr gekonnt, aber auch etwas überdeutlich durch (am Ende wird bedeutungsschwanger ein Foucault-Zitat gedroppt: Sichtbarkeit ist eine Falle); auf der anderen Seite wendet er die Blickstrukturen, von denen er spricht, nicht gegen den male gaze der Kamera und gewinnt der Schaulust eher ihre Schauwerte ab, als sie zu dekonstruieren.

Das liegt auch an den notorisch unterentwickelten Frauenfiguren, die bis auf eine Ausnahme höchstens Platzhalterinnen für Diskursives sind. Sandro hat überraschenderweise eine Freundin, die man dem Äußeren nach wohl als eher links beschreiben würde. Die Konflikte sind erneut sexueller Natur, da Sandros Glauben ihm verbietet, mit Tina intim zu werden – die Argumentation erinnert aber auch an Incel-Kreise. Vom religiösen Fundamentalismus ist es nicht weit bis zum politischen: Als Vater- oder mindestens Bruderersatz tritt Lasha auf den Plan, ein Kollege aus dem Fußballverein, der den orientierungslosen Sandro in die Arme einer faschistoiden Jugendbewegung treibt. Das passiert eher nebenher, sogar, wenn sich Sandros aufgestaute Frustration auf einer Demo gewaltsam entlädt. Überhaupt will Sandro durch Lasha nur an dessen Mutter herankommen, die sich durchaus empfänglich für seine romantischen Avancen zeigt. In ihrem Friseursalon lässt er sich von ihr die Haare schneiden, genießt jedoch vor allem die sinnlichen Handgriffe, mit der sie seine Haare wäscht. Ein differenziertes Bild der georgischen Gesellschaft bleibt hinter diesen Schablonen nur zu erahnen.

Nur Konfetti

Ein Film über die sexuelle und politische Aufladung von Körpern, wenn auch in einem ganz anderen Kontext, ist Trans Memoria. Anhand verschiedener Erinnerungsstücke blickt die Schwedin Victoria Verseau auf die lebensverändernde geschlechtsangleichende Operation zurück, der sie sich 2012 in Thailand unterzogen hat. Es gibt ein Video-Tagebuch aus den Wochen vor und nach der Transition, das immer wieder eingespielt wird, in dem sie unbeschönigt vom eigenen Gefühlszustand Zeugnis ablegt – körperlich, aber auch psychisch. Anderes Bildmaterial liefern Home Videos aus dem Kindesalter der Regisseurin sowie suchende Passagen, die verlassene Orte und ihre verwesenden Hinterlassenschaften erkunden, während ein kryptisch-poetischer Off-Kommentar die Tonspur bestimmt. Verseaus Transition ist zwar einerseits eine Geschichte von Selbstbestimmung und Erfolg, berührt aber stets düstere Aspekte dieses aufreibenden Prozesses. Meril, eine gute Freundin, mit der sie nicht nur die Trans*-Erfahrung, sondern auch das Klinikzimmer teilte, nahm sich 3 Jahre nach der Operation das Leben.

Die Trauer über diesen Verlust strukturiert auch die fluide Form von Trans Memoria, die sich immer wieder selbst hinterfragt. Verseau reist zurück nach Thailand in besagte Klinik, wo sie Aamina und Athena kennenlernt, die sich gerade am Beginn ihrer Transition befinden. Dadurch entsteht eine Mehrstimmigkeit, die durchaus programmatisch funktioniert: Die eine Trans*-Erfahrung gibt es eben nicht. In gemeinsamen Gesprächen wird verständnisvoll, aber kontrovers diskutiert. Wie erfüllt oder leer fühlt man sich nach dem Erreichen eines großen Zieles? Wie spricht man über reale medizinische Risiken, ohne politisch vereinnahmt zu werden? Und wo bleibt die Hoffnung? Die Intentionen des Films werden nicht nur von der Regisseurin selbst in Frage gestellt, sondern auch von ihren Gesprächspartnerinnen – bis Aamina sich mit dem Projekt nicht mehr identifizieren kann und aussteigt. Das wird erst in einer Mid-Credit-Scene klar, die nochmal später entstanden ist, um die Fertigstellung des Films zu feiern. Eine starre Einstellung einer kargen Steinlandschaft: „Isn’t it a nice ending location? It’s not too depressing, is it?“ Victoria und Athena einigen sich, dass das schon okay sei, während sie durch die Steinwüste gehen. Mit einem Knall soll es enden, doch aus den Kanonen, von denen man sich Rauch versprochen hat, kommt Konfetti. Das sehe man schlecht auf der Kamera, kein befriedigendes Schlussbild, es muss weitergehen.

Trauerphasen und Sedimentschichten

Lapilli von der slowakischen Regisseurin und UdK-Absolventin Paula Ďurinová könnte auch in der Experimentalfilmreihe des Festivals laufen, denn der einstündige Film besteht ausschließlich aus Steinformationen. Mit Trans Memoria teilt Lapilli die Absicht, existenzielle Erfahrungen wie Trauer und Verlust in geeignete Bilder zu übersetzen. In Ďurinovás Fall bildet der Tod ihrer Großeltern durch die Corona-Pandemie den Ausgangspunkt für eine persönliche Reise an mit Stein und Fels übersäte Orte, die gemeinhin nicht gerade als empathische Trostspender gelten. Der Regisseurin taugen sie trotzdem als stiller Resonanzraum für ihre Trauerarbeit – „a soft film about hard matter“ heißt es auf dem Plakat. Ein Voiceover, das so vielschichtig ist wie die ausgetrockneten Rückstände des Aralsees, bildet die Tonspur des Films. Abgesehen von geologischen Hintergrundinformationen streut die Regisseurin tagebuchartige Notate ein, die sich mit dem Verhältnis zu den Großeltern, aber auch der Faszination für die Natur befassen. Vor allem für das, was nicht mehr ist oder nur noch auf vergangene Lebensformen verweist.

Phasen der Trauer treten so in Korrespondenz mit Sedimentschichten, die von vergangenen Zeitaltern zeugen. Von Steinwüsten geht es in Tropfsteinhöhlen (es wird dunkel, sogar die Voiceover-Stimme wird auf Untertitel reduziert), immer wieder spielt Wasser eine Rolle. Eine Kindheitsszene, wie die Großeltern der Regisseurin das Schwimmen beibringen, wird im Text evoziert. Wie Felsen über Jahrtausende von Zeit und Wasser zu Kieselsteinen geschliffen werden, ist filmisch nicht darstellbar, man sieht nur das Ergebnis, nicht den Prozess. Selten mischt sich Menschliches zu den Mineralien: ein Hund, ein alter Mann, beide liegen am Flussufer. Ďurinová selbst legt die Finger auf spitze Steine oder schnuppert an Sulfidkrusten, die auf Gase im Boden zurückzuführen sind. Ähnlich taktil verfährt auch die Tonspur, auf der Wind und Wasser rauschen, aber auch dissonante Harfenmusik. Durch die herzerweichende Auseinandersetzung mit harter Materie verleiht Lapilli dem etwas abgegriffenen Sprichwort, dass die Zeit alle Wunden heile, eine profundere Bedeutung.

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