Fundgruben voller Rätsel: Retrospektive Bo Widerberg
Das Werk Bo Widerbergs durchzieht weniger das große Drama als eine existenzielle Melancholie der kleinen Momente. Das Arsenal widmet dem schwedischen Filmemacher im April eine Werkschau.

Immer wieder laufen sie durch die Filme oder sitzen in ihnen, sie schauen neugierig bis perplex oder ignorieren das Geschehen vollständig: Kinder. Gerade in den frühen Filmen von Bo Widerberg sind sie stille Beobachter, die von außen begutachten, was passiert. Unverständnis steht in ihrem Blick. Die Erwachsenen, die an ihnen vorbeilaufen und vorbeiagieren, erscheinen tatsächlich wie Wesen einer unbegreiflichen Parallelwelt. Das gegenseitige Verhältnis von Erwachsenen und Kindern gibt dem Geschehen etwas Absurdes. Wenn das große Drama sich vollzieht, wenn sozialer Realismus und Romantik die Figuren niederdrücken, dann sind es die Kinder – auch wenn sie oft nur kleine Farbtupfer im großen Ganzen sind –, die einen daran erinnern, wie wunderlich das alles doch ist.
Ein scheiternder Knirps

Ein zentraler Film im Werk von Bo Widerberg ist demensprechend auch einer, der leicht zu übersehen ist. Dem das Ernstzunehmende nicht auf die Stirn geschrieben steht, und der sich auch sonst nicht viel aus Ernstzunehmendem macht. Fimpen (1974) handelt von einem sechsjährigen Wunderfußballer (Johan Bergman), der kurz nach seiner Entdeckung nicht nur in der ersten schwedischen Liga, sondern auch gleich in der Nationalmannschaft spielt. Es ist ein Film mit herrlich naiven Fußballszenen, mit Gegentoren, die dadurch verursacht werden, dass ein Mitspieler dem titelgebenden Knirps die Schuhe zubinden muss, mit Stürmern, die ob des neuen, sie verdrängenden Stars in Sinnkrisen verfallen und nicht mal mehr durch Fußgängerzonen kommen ohne das Gefühl zu haben, auf eine undurchdringliche Abwehrreihe gestoßen zu sein. Und mit Erwachsenen, die mit abstrus großen Teddys im Arm auf Tribünen sitzen und sie vor Anspannung aufreißen. Kurz, es ist ein drollig-grotesker Kinderfilm.

Es ist aber auch ein Film des gegenseitigen Scheiterns aneinander. Der Knirps wird daran scheitern, die in ihn gesetzten Erwartungen zu erfüllen, die Trainer und Mitspieler daran, ihm etwas Lebenswertes zu bieten. Wo der Knirps sich fast gar nicht ausdrückt bzw. ausdrücken kann, da treten die Erwachsenen als Phrasendrescher und Schreihälse auf: So wenig dies dramatisiert und meist in Pointen aufgelöst wird, so existenziell ist die Melancholie durch die Sprachlosigkeit zwischen den Fraktionen. Zwei Welten treffen aufeinander, die durch eine grundlegende Kluft vom gegenseitigen Verständnis getrennt sind.
Eindrücke und Fragmente

In den anderen Filmen Widerbergs scheitern Männer an Frauen, Frauen an Männern, Väter an Söhnen, Söhne an Vätern, die Gesellschaft am Individuum oder an sozialen Gruppen, die Realität an der romantischen Liebe, oder es scheitert der ganze Polizeiapparat an sich selbst. Dieses vollzieht sich aber weniger im großen Stil als in kleinen Momenten. Widerbergs Filme basieren auf einem Impressionismus, der viele kleine Tupfer setzt, die wiederum zusammen ein Bild ergeben.

Drei mehr oder weniger willkürliche Beispiele: Mannen på taket (1976) besteht aus kleinen Eindrücken aus dem von Irritation bestimmten Berufs- und Privatleben von Polizisten, die verbunden ein vieldeutiges und vielseitiges, vor allem aber wenig hoffnungsvolles Bild der Polizei abwerfen. Kvarteret Korpen (1963), der einen Entwurf über das Leben in einem Armenviertel bietet, setzt sich aus vielen kleinen Fragmenten des Hoffens, des Sinnierens und Existierens, des Alkoholismus, der Ausgrenzung und der eigenen Makel zusammen. Victoria (1979) wiederum zeichnet sich durch steife Dialoge aus, die durch die englische Nachsynchronisation noch verstärkt werden. Dialoge, die der Vielzahl der porträtierten oder implizierten Gefühle nicht gerecht werden können – oder eben wieder an diesen scheitern.
Schönheit in der Düsternis

Etwas Fatalistisches steckt oft in dem, was diese einzelnen Impressionen zusammen ergeben. Durch die Proportionen steht dem doch immensen Drama der meisten Filme etwas Entscheidendes entgegen. Schon in Widerbergs Debütfilm Barnvagnen (1963), einem Film, der deutlich von der Nouvelle Vage geprägt war, steckt der Hang zu Zärtlichkeit und einem sehr lakonischen Witz, der seine Filme auszeichnen wird. Denn im Kleinen ist die Trostlosigkeit zuweilen so minimal überzogen, dass es grotesk und komisch wird. Der bei Ådalen 31 (1969) Ko-Regie führende Roy Andersson wird seine Komödien auf diesem Prinzip aufbauen, nur weit weniger dezent als Widerberg.

Und so sehr das Ganze voller Düsternis erscheinen kann, so ist Widerbergs Werk stets auch immer voller Schönheit. Nirgends ist dies deutlicher als in Elvira Madigan (1967). Ein Doppelselbstmord wird die Liebe zwischen der Hochseilartistin Elvira Madigan (Pia Degermark) und dem adligen Soldaten Sixten Sparre (Thommy Berggren) beenden – worauf uns die den Film eröffnende Texttafel vorbereitet. So sehr die Bilder aber schattiger werden, so sehr sich Hunger und Enge über die Idylle einer aus gewisser Sicht perfekten Liebe legen, so sind es doch die flirrenden Bilder der Zweisamkeit, des stillen Genusses und der Kontemplation, die sich nicht unterkriegen lassen und den Film entgegen aller Entwicklungen seine Identität geben.
Insistenz der kleinen Momente
Voller Rätsel sind Bo Widerbergs Filme. Sie betonen die Lücken ebenso wie die Zusammenhänge, sind dabei von einem schweifenden statt von einem konzentrierten Blick bestimmt. Sie erzählen in einem sozialen Realismus, der aber doch immer mit romantischen oder expressiven Anteilen durchzogen ist. So leichtfüßig sie mitunter wirken, so sehr entziehen sie sich dem Klaren und Eindeutigen. Durch seine Insistenz auf die kleinen Momente öffnet Widerberg seine Filme und macht sie zu Fundgruben. Und so ist es kein Wunder, dass sich auch immer wieder die Staunenden aus Parallelwelten einfinden und nochmals betonen, wie Seltsam das Schöne, Absurde und Melancholische doch ist, das so intuitiv nachvollziehbar scheint.
Hier gibt es das komplette Programm der Reihe.
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