Für Nebenschauplätze offen: Kurzfilmtage Oberhausen 2024
Vom Streit und den Boykottaufrufen, die der diesjährigen Ausgabe nach einem antisemitismuskritischen Post des Festivalleiters vorausgingen, bekam man vor Ort kaum etwas mit. Stattdessen gab es Entdeckungen, kundige Einführungen und Filme die zeigten, wie sich Privates in einer durchdachten Form erzählen lässt.

Vom 1. bis zum 6. Mai fanden in Oberhausen die 70. Internationalen Kurzfilmtage statt. Wenn man sich wie ich weitgehend auf die filmhistorischen Sektionen des Programms konzentriert hat und – zugegebenermaßen – die zahlreich angebotenen Diskussionsformate umschiffte, bekam man vor Ort wenig vom Streit um die diesjährige Ausgabe mit, der seit Monaten virulent ist. Im Kern geht es um die durch Unterschriftenlisten orchestrierte Boykottinitiative, die ein israelsolidarischer und meines Erachtens verzerrt als rassistisch ausgelegter Post vom Festivalleiter Lars Henrik Gass anlässlich des antisemitischen Massakers vom 7. Oktober 2023 ausgelöst hat (wer sich zur historischen wie aktuellen politischen Dimension des Oberhausener Festivals informieren möchte, findet zahlreiche Artikel und Redebeiträge in der deutschen Tages- und Wochenpresse, hier sei auf ein Gespräch zwischen Gass und Patrick Wellinski für das Format „Vollbild“ von Deutschlandfunk Kultur verwiesen). Viele der gegen das Festival Protestierenden reisten wohl erst gar nicht an, sagten, sofern sie an der Gestaltung selbst beteiligt waren, ihre Mitarbeit ab. Andere waren nach dem Bekanntwerden eines der offiziellen IHRA-Antisemitismus-Definition folgenden Verhaltenskodex, dem bei jeder Ticketbuchung zuzustimmen war und der, so wie ich das sehe, einerseits das Festivalteam vor möglichen Anfeindungen schützen und andererseits irrationaler Hamas-Apologetik Sanktionen in Aussicht stellen sollte, nicht mehr bereit, Teil des Publikums oder der geladenen Gäste zu sein.
Zumindest an den Wochentagen war es wohl in den Sälen spürbar leerer als sonst. Da es mein erster Besuch beim Festival war, kann ich das aber nur aus zweiter Hand behaupten. Was ich wiederum selbst mitbekommen habe, ist, dass etwa vom schwedischen Verleih Filmform in dem Segment, bei dem sich internationale Verleihfirmen mit ihren back catalogues und Digitalrestaurationen vorstellen und das meiner Kenntnis nach am stärksten von politisch motivierten Absagen betroffen war (über zehn Verleiher zogen ihre Teilnahme zurück), ein dezidiert antiimperialistisches bis -zionistisches Programm präsentiert wurde. Einen vor Publikum vorgetragenen und sichtlich um deeskalierende Ausgewogenheit bemühten Widerspruch zur offiziellen Festivalposition habe ich auch von einem der Kuratoren erlebt. Beide Protestformen waren uneingeschränkt möglich und erhielten in Teilen Beifall von den Besucher:innen. Aus meiner Sicht herrschte zu keinem Zeitpunkt eine Atmosphäre der Einschüchterung oder eine solche Situation vor, die man als Beschneidung der Redefreiheit verstehen könnte.
Bezogen auf das von mir gesehene Programm waren es Tage der Entdeckungen, kundiger Einführungen und nicht zuletzt des Wiedersehens mit befreundeten Kinoenthusiast:innen, von denen nicht wenige wie ich erstmals oder seit Langem wieder vor Ort waren. Hier drei Impressionen zu Filmen, die sich bei aller Verschiedenheit darin treffen, sich so bewusst wie unangestrengt mit der Frage zu befassen, wie sich Privates in einer durchdachten Form erzählen lässt, die nicht Unmittelbarkeit vorgaukelt und zugleich die Menschen im Blick behält.
Profil Abraham Ravett: Lunch with Fela (Abraham Ravett, US 2005)

Eines der vier dem Œuvre einzelner Filmemacher:innen gewidmeten „Profile“ nahm bei den Kurzfilmtagen den US-amerikanischen Regisseur Abraham Ravett in den Blick. 1947 in Polen geboren, wanderte er mit seiner Familie zunächst nach Israel, als Achtjähriger schließlich in die USA aus. Sein filmisches Gesamtwerk, das neben kurzen auch (mittel-)lange Filme umfasst, realisiert er bis heute unabhängig und entlang seines „day jobs“ an US-amerikanischen Kunst- und Filmhochschulen ganz nach eigenem Rhythmus. Wenn die Verpflichtungen gegenüber Produktions- und Distributionsfirmen fehlen, kann man sich Zeit nehmen, angefangene Filme auch mal ruhen lassen, sich innerhalb des Werkes grenzenlos „wiederholen“, schließlich Dinge ausprobieren, die womöglich scheitern. Ravetts in Oberhausen gezeigte Filme sind im Festivalkatalog mit „filmische Untersuchungen über das Wesen von Zeit, Erinnerung und Verlust“ überschrieben. Das trifft den thematischen Kern dieser autopoetischen, alltags- und geschichtsreflexiven Filme, lässt aber von der Formulierung her aber weit Strengeres erahnen, als sich bei einem Film wie Lunch with Fela (2005) auf der Leinwand zeigt.
Lunch with Fela ist im Kern ein Tagebuchfilm, der die Konvention des essaydokumentarischen Subgenres immer wieder links liegen lässt, frei flottiert. Fela, Ravetts liebenswürdig resolute Mutter, ist über neunzig und nach einem Schlaganfall von ihrem Zuhause ins Altenheim umgezogen. Über die Nase bekommt sie Sauerstoff zugeführt, das Reden fällt ihr schwer, laufen kann sie nicht mehr. Ihr Sohn „Aby“ kommt sie regelmäßig besuchen, stellt eine statische Mini-DV-Kamera auf. Fela ist schon seit Jahrzehnten mit dem Gefilmtwerden durch ihren Sohn vertraut, es ist für beide mehr ein Festhalten als ein Performen. In diese Szenen des Alltags, in denen schon der nahende Tod Felas „anklopft“, sind Fragmente der leidvollen Vergangenheit der Auschwitzüberlebenden eingeflochten, dazu Bilder und Töne, die uns in Form monochromer Farbflächen, unübersetzter Satzschnipsel und unentzifferbarer Objekte Rätsel aufgeben. Sie entschlüsseln zu wollen dürfte weniger produktiv sein, als sich ihnen hinzugeben. Sie laufen zu einer herkömmlichen Dramaturgie offensichtlich quer und wirken doch unbemüht, logisch hineincollagiert. Das scheint mir Ravetts Filme allgemein auszuzeichnen: Es sind assoziative, durch Zeit und Raum springende „Experimente“, die zu keinem Zeitpunkt kunstangestrengt daherkommen. Sie wirken bei aller Durchdachtheit intuitiv. Das trifft auch auf Ravetts Präsenz in den Q&A im Anschluss zu den Programmen zu: stets präzise, dem Menschen zugewandt, für Nebenschauplätze offen.
Verleiher-Programm: Impression of Sunset (Shirouyasu Suzuki, JP 1975)

Im Programmsegment der Verleiher stellte das japanische Image Forum eine Auswahl an experimentellen Kurzfilmen aus den 1960ern bis 2020ern zusammen. Die Vorläuferorganisation des Verleihs begann bereits 1971 als Kinemathek für unabhängiges Undergroundfilmemachen und wandelte sich mit der Zeit zum Verleih eben eines solchen experimentellen Private Cinema jenseits der klassischen Verwertungswege – in ihrer Kontinuität und Spezialisierung wohl eine einzigartige Institution in Japan. Aus der eklektischen und ansprechend materialbewusst digitalisierten Auswahl stach für mich ein Film besonders heraus, bei dem sich, wie im „Profil“ Ravetts, ein radikal persönliches Filmerzählen mit formaler Experimentierfreunde verbindet. Shirouyasu Suzukis knapp 25-minütiger Impression of Sunset ist ein augenzwinkerndes Home-Movie, ein Zeugnis obsessiv (vor-)gelebter Kinoliebe. Unser Protagonist, der Filmemacher selbst, berichtet in rauen 16-mm-Schwarzweißbildern, die immer wieder von kreisrunden Ausstanzungen durchzogen sind, wie er sich eine Kodak 16 aus der Vorkriegszeit besorgt, um nicht mehr nur mit seinen Mitstreitern und Studenten über Film zu reden, sondern sie selbst zu machen. Mal im Voice-over, mal über Zwischentafeln kommentiert er die Versuche, die wir – als Fiktion der Unmittelbarkeit – „live“ sehen. Das ist auch komisch. Am Anfang sei er aufgeregt gewesen, die Kamera auf die Welt zu halten, sodass ihm nichts in den Fokus geraten ist – dazu psychedelisch wackelige POV-Shots von Stadtszenerien. Doch dann entdeckt er „sein“ Sujet: sein kleines Kind, seine Frau, die eigene Wohnung, alltägliche Abläufe. Miniaturen, die etwas vom impressionistischen Kino Jonas Mekas’ haben. Doch Suzukis Kino ist dabei weniger „lyrisch“, sein Film funktioniert mehr als cinephile Ansprache ans Publikum. Eine Fingerübung, deren nach außen gestülpte Obsession viel Schönheit festhält.
Deutscher Wettbewerb: Merkur (Johannes Lehnen, DE 2024)

In seinem Debütfilm Malle (2020) war Johannes Lehnen noch wackelkameramäßig nah dran, wenn seine Freunde auf Mallorca das Sangria-Trashdisco-Programm absolvierten. Steckte darin noch ein gewisser Direct-Cinema-Lyrismus, ist Merkur (2024) auf mehreren Ebenen ein hochgradig vermittelter Film geworden, jedoch wie sein Vorgänger ein Porträt sozialer Räume, die für diejenigen, die sie aufsuchen, Zufluchtsort, Verheißung und große Ernüchterung zugleich bedeuten können. Merkur handelt von den gleichnamigen Spielhallen, konkret vom Spielotheken-Komplex im Frankfurter Bahnhofsviertel. Er porträtiert den hermetisch abgeriegelten Mikrokosmos bis ins Kleinste, etwa seine Raumaufteilung und Wegführungen, die sich aus den kreativ umgangenen Vorgaben zur Spielsuchtprävention ergeben. Auch die Merkur-Angestellten kommen mit ihren Leiden und Hoffnungen zu „Wort“. All das aber nicht, indem uns Lehnen Aufnahmen vom Inneren der Spielhallen zeigen würde, gar Talking Heads oder Reportage-Voice-over präsentiert. Stattdessen achtet er die Integrität (und Prekarität) des Ortes auf eine Weise, in der viel Zärtlichkeit steckt.
Er stellt dem Setting nämlich Bilder und Töne zur Seite, die den Ort zwar plastisch werden lassen, aber nicht durch ein vermeintliches Abbilden. Hard Facts zur Spielhallenökonomie und -soziologie laufen wie auch die persönlichen Aussagen der Angestellten lediglich als Untertitel zu Schwarzbildern über die Leinwand, Letztere in indirekter Rede über die Autorenperspektive Lehnens gefiltert. Die für Außenstehende merkwürdig verschachtelt wirkenden Raumfolgen werden wiederum durch eine Pappminiatur erfahrbar, die die Kamera abfährt, aus der heraus sich mitunter auch weitere Bildebenen durch hereingelegte Smartphones ergeben. Das hat auf den ersten Blick alles etwas Strenges, Protokollarisches, Hyper-Konzeptuelles. Der sphärische, die Brutalität ununterbrochenen Spielautomatengedudels aufnehmende Ambientscore, aber auch die dichte Gefühlswelt der Angestellt:innenberichte stehen vielmehr für einen anteilnehmenden Blick. Man merkt hier zu jeder Sekunde, dass Lehnen der Ort nicht als Kuriosum, sondern als Lebenswirklichkeit interessiert, dass er ihn nicht nur von „außen“, sondern von innen kennt.
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