Fucking First Times – Kleine Bildersammlung zur Zeit

Unser aufpoppendes Selbst, das uns beim Skypen kalt erwischt: Der Shutdown bringt ganz neue Bildtypen hervor. Warum der erste Schritt nach der Selbsterkenntnis Versöhnung sein wird und wie die Netflix-Serie Unorthodox den cringy Geist der ersten Male einfängt.

Dieser Tage werden Dinge sichtbar, schon klar. Systemdefizite, die Fragilität des falsch oder nicht genug regulierten Kapitalismus und, einmal wieder, die Lebensgefährlichkeit rechtspopulistischer Politik. Auch die Verteilung der Ressourcen, Menschen und Dinge, die nicht zur Verfügung stehen, die man – jetzt erst sieht man es scharf – offenbar nie besaß, ein Haus mit Garten, eine Tante in Lippstadt, die dicht am Waldrand wohnt. Phantome, oder besser: images énervantes, nervige Bilder des Mangels. Der neue Terminus technicus, den es unbedingt geben muss.

Nach dem Shutdown einmal synchron tief Luft holen

Da dieser Tage vieles in die Zukunft vorgelagert wird, schwirren viele Wunsch- a.k.a. Hoffnungsbilder im Kopf. Der Deutsche Ethikrat wettet darauf, auch Danielle tut es, die schöne YouTuberin in meinem Lieblings-Hip-Hop-Workout-Tutorial. „Just picture the body you gonna have at the end of it. It’ll be worth it!“ Und ich verlasse mich darauf, mache tiefe Squats und stelle mir vor, wie wir nach dem Shutdown einmal synchron tief Luft holen werden. Eine platonische Verschmelzung wird es sein, und gegenseitiges Wohlwollen, beides ordentlich gestretcht. Ein Stummfilm, hier und da Technobeats aus offenen Fenstern, sozrealistische Gruppenornamente auf Straßen und Supermarktparkplätzen, die wie unsere Brustkörbe vom tiefen Ein- und Ausatmen geweitet sind. Sprache wird nicht notwendig sein, dafür rote Shorts und strahlend weiße Tank-Tops. Falls auch Ihre Hoffnungsbilder so aussehen, dann ist das nicht schlimm, dann sind wir schon zu zweit. Wir müssen uns nicht dafür schämen.

Ein weiterer Bildtypus beschreibt das Jetzt und lässt sich derzeit viel im Alltag beobachten. Ich meine Skype, Facetime, Zoom, Jitsi, Cisco etc. pp., die unverzichtbaren Kommunikationsumgebungen, Arbeitsroutinen und distant drinking tools in einem. Je nach Anwendung variieren die Ansicht und das Arrangement der Fenster. Die Funktionsleisten tauchen auf und ab, digitale Handmeldungen, riesige pulsierende Herz-Emojis, Klingklang im Chat. Oops, da teilt jemand aus Versehen ihren oder seinen Desktop. Gemeinsam ist diesen Medien-Dispositiven jedoch eins – bei keinem davon lässt sich die unerwünschte Selbstbetrachtung ganz kontrollieren, geschweige denn vermeiden. Zusammengeschrumpft seitlich, im oberen oder unteren Bereich des Bildschirms bis hin zum Vollbild („Sie sind der einzige Teilnehmer“) – unser aufpoppendes Selbst im Passbildformat. Selfie Culture wurde in der Medienwissenschaft ausgiebig behandelt, das war einmal, Bände wurden geschrieben, Forschungsnetzwerke und Exzellenzcluster gebildet. Doch das hier ist praktisch und vom Gefühl her eine völlig neue Bildart. Sie entzieht sich jeder akademischen Komfortzone. Sie erwischt uns jedes Mal kalt.

Die Kontrolle übers eigene Bild loslassen

Das Unbehagen, von der ungewollten Selbstbetrachtung ausgelöst, findet seinen Ausdruck in dem umherwandernden Blick, im Rutschen auf und mit dem Stuhl, in versuchten Einsatz der Lichtverhältnisse, im unnötigen Zurechtlegen der Haare, im Kopfneigen, im süßen Lächeln. Und das ist total in Ordnung! Versuchen wir die Kontrolle über das eigene Bild loszulassen. Schauen wir uns an ohne die sonst übliche Wertung. Der nächste Schritt nach Selbsterkenntnis wird Versöhnung sein. Diese Bildart nenne ich foto simpático.

Das führt nicht zum guten Jacques Lacan – o nein! –, das führt direkt zur absolut fabelhaften Brené Brown. Brené ist Professorin an der Universität Houston, Bestseller-Autorin und Podcast-Macherin, die seit vielen Jahren zu Scham und Verletzlichkeit forscht. Menschen lieben Brené. Im Netflix Special Brené Brown. The Call to Courage (hier und im Folgenden: Bildtypus inspiring) redet sie auf der Bühne, während die Bewunderung des immer wieder gegengeschnittenen Publikums bis über den Laptop-Rand ins Afilmische schwappt. Im sehr empfehlenswerten TED Talk The Power of Vulnerability, mit dem die Forscherin 2010 weltbekannt wurde, spricht sie in Begleitung gefühliger Power-Point-Slides über das Mitgefühl für sich selbst und den Mut zur Unvollkommenheit. Den Mut, uns so zu zeigen, wie wir nun mal sind, mit unseren ganzen Unsicherheiten. Brenés Mantras sind vielleicht simpel, aber doch mindestens so cool wie die Kritik des falsch oder nicht genug regulierten Kapitalismus. In ihrem Podcast Unlocking Us rät sie dazu, Ängste beim Namen zu nennen, das ist ihre FFT-Strategie für alle Lebenslagen. Ob jemand von uns schon mal eine Pandemie erlebt habe? Natürlich nicht. Na bitte schön, ein FFT unter vielen anderen. Fucking First Time.

Die Affekte liegen ungeschminkt auf der Hand

Die Miniserie Unorthodox handelt auch von FFTs. Der cringy Geist der ersten Male manifestiert sich auf Plotebene und im Schauspiel, er wohnt jedem Einzelbild inne. Der Netflix-Vierteiler beruht auf dem autobiografischen Roman von Deborah Feldman und erzählt die Geschichte einer jungen Frau namens Esty, die aus der ultraorthodoxen jüdischen Gemeinschaft im New Yorker Stadtteil Williamsburg nach Berlin flieht. Esty, von Shira Haas gespielt, ist von nie gesehener kleiner, fragiler Statur. Wie die Suchvorschläge in Google verraten, haben schon viele nach ihrer außergewöhnlichen Größe gefragt.

Den Flug Brooklyn – Berlin absolviert Esty ohne Gepäck. Landung auf dem Flughafen Tegel, Taxi zum Winterfeldtplatz, vor einem der Baller-Häuser wird sie abgesetzt, spitze Ecken, schiefe Winkel, aufschwingende Balkonlinien, mintgrüne Lackierung. Noch traut sich Esty nicht herein. Sie wandert stattdessen durch Berlin, das hier komplett aus luftiger Architektur und unbeschwerter Geometrie besteht. Den Potsdamer Platz, um den sich vieles dreht, inszeniert Regisseurin Maria Schrader als urbane Oase mit Kiezcharakter. Esty schleicht sich in eine Konzertprobe ein, dort hält die Kamera in einer Ranfahrt fest, wie der jungen Frau von der Musik die Tränen kommen.

Weitere erste Male folgen. Die ersten Skinny Jeans kauft sie bei Humana, die erste Schinkenstulle, der Clubbesuch, der Freundeskreis, in dem es so peinlich zugeht wie auf einer nie enden wollenden Erasmus-Party. Esty agiert und reagiert. Ihr eigenes sich zusehends wandelndes Äußeres ist ihr jedes Mal eine Offenbarung. Und Menschen reagieren auf Esty, alles eng gekoppelte Bildabfolgen sind das, ein ganz simples Schema, dessen Affekte ungeschminkt auf der Hand liegen. Vor Rührung muss ich beim Gucken in die Bettdecke beißen. Alleine schon wegen der ganzen Outfits macht Unorthodox großen Spaß: die Kopftücher, die Hütchen, die Turbane, die Nachtwäschesets für Damen und Herren. Unvorteilhafte Rocklängen, Scheitel, Schtreimel, Schläfenlocken und die skurrilen Hochzeitstänze. Dass das alles problematische Dinge sind, macht die Serie natürlich auch sichtbar. Der erste Lippenstift, den Esty benutzt, ist rot. Und – Achtung – die Marke heißt Epiphany.

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