Fragen, die bleiben – Duisburger Filmwoche 2025
Wer kommt vor und zu wessen Bedingungen? Wer darf das Bild mit eigenen Erzählungen bewohnen? Auch 2025 widmete sich die Duisburger Filmwoche diesen und ähnlichen Fragen.

Das Bild einer behaarten Raupe, die ein Blatt überquert, nimmt mich zunächst gegen, dann für diesen Film ein. Leicht genervt winke ich innerlich erst ab, ob einer Einstellung, die, wie so viele vor ihr, die Dauer zu beschwören und den langsamen Rhythmus des Lebens in dem aussterbenden bulgarischen Bergdorf Pirin zu verdoppeln scheint. Dann aber bemerke ich hinter der Raupe einen dunklen Fleck auf dem grünen Blatt, eine Verfärbung, die noch an Sättigung gewinnt, während sich die Raupe schon von ihr entfernt, und die ich mir bald nur so erklären kann, dass diese Raupe vor unser aller Augen aufs Blatt gekackt hat. Das Tier wird von der Metapher zum Akteur, wie überhaupt die Tiere in Eliza Petkovas Silent Observers bald recht selbstbewusst das Zentrum des Films besetzen und eigene kleine Erzählungen bewohnen.
Wer wird eigesperrt, wer darf handeln?
Wer wird ins Bild gesperrt, zum Zeichen verurteilt, und wer darf darin handeln, aufs Bild selbst einwirken; wer kommt vor, wer tritt auf, und zu wessen Bedingungen – das sind Themen, die auf der Duisburger Filmwoche in verschiedenen Varianten immer wieder anklingen. Das Festival ist bekannt dafür, die grundsätzlichen Fragen, die das Dokumentarfilmmachen aufwirft, sehr ernst zu nehmen, nicht also einfach die besten Werke des Jahres zu zeigen und zu würdigen, sondern die ausgewählten Filme tatsächlich zu befragen, ihre Strategien zu diskutieren und ihre Bildpolitik zu überprüfen. Dafür gibt es nach jeder Vorführung genügend Zeit im Nebenraum, wo die Filmemacher*innen der Moderation und dem Publikum Rede und Antwort stehen; die sich ihrerseits oft nicht mit diesen Antworten begnügen und zu Gegenreden ansetzen.

Die Protokollierungen dieser Gespräche sind seit Anbeginn des Festivals Teil der Duisburger Praxis – weniger als wortgetreue Abschriften denn als subjektive Zusammenfassungen und Kommentierungen. Diese Abschriften werden auch selbst wieder zum Teil des Gesprächs, als Stefan Hayn nach der Vorführung seines aktuellen Films 2024 (2023), die wegen technischer Fehler mehrfach unterbrochenen werden musste, auf der Bühne sitzt und sichtlich angefasst vorausschickt, sich mit dem Sprechen auf dieser Bühne sehr unwohl zu fühlen, auch weil er sich von einem Duisburger Protokoll schon einmal sehr missverstanden gefühlt habe. Es ist ein so denk- wie merkwürdiger Moment, und ich schwanke beim Zuhören zwischen der Irritation über das Herausholen längst vergangener Rezeptionshaltungen und Kritikersätze einerseits und der Faszination für einen Filmemacher andererseits, dem es bei seinen Überlegungen zum Filmemachen und seinem Verhältnis zur Malerei durchaus um mehr zu gehen scheint als um eigene Befindlichkeiten.
Als Festivalleiter Alexander Scholz, der das Gespräch moderiert, durch kluges Intervenieren und wertschätzende Worte die Kurve zum Film selbst bekommt, ist meine Aufmerksamkeit für die Diskussion jedenfalls eher geschärft. So kann ich Hayns Gedanken zur Malerei, dem Verhältnis von Werk und Motiv sowie generell zur Frage der Bildproduktion in Zeiten des Smartphones auch deshalb gut nachvollziehen, weil sie mit einer gewissen emotionalen Dringlichkeit vorgetragen werden – auch wenn mich diese Emotionalität zugleich ein wenig befremdet hat.
Wetter, Körper und Geschichte

2024 (2023) besteht vorwiegend aus Handy-Aufnahmen, mit denen Hayn den eigenen Schaffensprozess ausstellt, zunächst im Wohnzimmer der Mutter, später im öffentlichen Raum Berlins. Die Staffeleien mit den Malereien verdecken dabei zumeist das Objekt, das gemalt wird; zwischendurch werden Motiv und Bild abgeglichen, Pinselbewegungen (wie in anders gelagerten Malerei-Filmen, über die Hayn sich auf der Bühne kritisch bis abfällig äußerst) lässt der Film ganz weg. Durch das Abfilmen unterschiedlicher Stadien eines Bildes ist es eher die Montage, die malt, bemerkt Scholz. Dahinter, darunter, dabei läuft eine zeithistorische Ebene mit, wenn sich vor öffentlichen Gebäuden die Beflaggungen verändern, nach Russlands Invasion der Ukraine etwa eine Pride-Fahne von einer Deutschland-Fahne verdrängt wird, oder wenn im Voice-Over zwei antisemitische Vorfälle erzählt werden.

Ich bin unsicher, wie viel mir diese politische Ebene im Hintergrund tatsächlich sagt; ich mag aber das Mitschwingen einer Geschichte der Gegenwart, die Teil des Außens des gemalten Bildes ist, aber natürlich dennoch auf dieses Bild einwirkt – ebenso wie der Wind, der das Handybild manchmal erschüttert, wenn Hayn die Staffelei auf einmal festhalten muss, oder die eigene körperliche Präsenz des Malers, die durch das Atmen auf der Tonspur beschworen wird. Wetter, Körper und Geschichte: Der schöne Filmtitel legt nahe, dass ein neues Jahr das vorherige nicht verdrängt, aber in Klammern setzt.
Das Gespräch mit Hayn ist trotz oder gerade wegen seines etwas schrägen Beginns ein Beispiel für eine Diskussion, die dem Film etwas hinzufügt und über das Gesehene nochmal anders nachdenken lässt. Bei anderen Gesprächen passiert mir fast Gegenteiliges: Filme, mit denen ich noch längst nicht fertig bin, deren ambivalente Reaktion in mir ich noch zu deuten versuche, werden durch Sätze auf dem Podium in eine Richtung vereindeutigt, die meine Zweifel am Film eher wachsen lassen. So etwa bei Laura Coppens’ Sedimente oder bei Carmen Trockers Personale.
Das Private und das Politische
Coppens hat mit Sedimente einen Film über ihren Großvater gedreht, der sowohl den Nationalsozialismus als auch die DDR miterlebt hat und über den es eine Stasi-Akte gibt. Im Dokumentarfilmbereich erscheint mir das Subgenre der Vergangenheitsbearbeitung durch persönliche Geschichten in den letzten Jahren ziemlich allgegenwärtig, sicherlich auch befruchtet durch den Boom autofiktionaler Formen in der Literatur. Ich mag viele dieser Filme, aber habe manchmal das Gefühl, dass schon allein die Befragung der eigenen Geschichte – weil sie in einem Kontext stattgefunden hat, den wir derzeit für historisch relevant halten – für den politischen Gehalt dieser Filme bürgen soll. Manche dieser Filme machen sich gar nicht mehr die Mühe, die biografische Ebene in die gesellschaftliche oder historische zu integrieren.

Sedimente ist für mich so ein Fall: Die Filmemacherin spricht nach der Vorführung im Filmgespräch über ihren Versuch, den eigenen Großvater zunächst einmal dem Publikum näherzubringen und erst im Verlaufe des Films die problematischeren Aspekte seiner Biografie zu Tage zu fördern. Das funktioniert – tatsächlich lernen wir erstmal einen sympathischen, immer wieder verschmitzten Herren kennen, dem wir dann umso genauer auf den Zahn fühlen, wenn er mit seinem Verhältnis zum SED-Regime konfrontiert wird – aber dieses Funktionieren ist vielleicht Teil des Problems; es scheint mir irgendwie zu einfach gedacht, das Ergebnis zu glatt. Fast scheint mir, Coppens ist zu nah dran, um hier eine Geschichte zu erzählen, die über das eigene Verhältnis zum Großvater hinausgeht, aber zu interessiert an den aufgeworfenen Fragen, um konsequent bei diesem Verhältnis zu bleiben.
So haftet dem Film bis zuletzt etwas Unentschlossenes an, und doch wird Sedimente vielleicht irgendwann einmal Teil einer größeren, kollektiven Arbeit an der Geschichte gewesen sein. Schließlich ist es unbedingt zu begrüßen, auch in filmischen Arbeiten die Stimmen einer Generation zu hören, die sich aus Perspektive der noch in der DDR geborenen, aber nicht mehr in ihr sozialisierten Ostdeutschen kritisch mit der eigenen Eltern- und Großelterngeneration auseinandersetzt – eine Perspektive, die in der Literatur bereits etabliert , worauf sich Coppens auch ganz bewusst beruft. So lädt ihr Film durchaus ein, darüber nachzudenken, wie ein solches Unterfangen auch filmisch produktiv gemacht werden kann.
Von Unsichtbaren verwischte Spuren Unsichtbarer

Im Filmgespräch über ihren Dokumentarfilm Personale wiederum spricht Regisseurin Carmen Trocker von ihren Überlegungen dazu, wie sie ihre Protagonist*innen – die Angestellten eines Spa-Hotels in Norditalien – porträtieren und sie zu ihren Arbeitsbedingungen befragen könne, ohne ihnen zu nahe zu treten oder sie in Gefahr zu bringen, diese Arbeit zu verlieren; das Hotel hört schließlich mit. Wenn sich Sedimente eher unentschlossen anfühlt, ist es in Personale eher ein Gefühl der falschen Entschlossenheit, das als Seherfahrung in Erinnerung bleibt. Trocker spart das Hotel als ausbeutende Instanz ebenso aus wie das Leben der Ausgebeuteten jenseits ihrer Arbeit. So bleiben wir stets nah an den konkreten Tätigkeiten, dem Besprechen von Schichtplänen und den Gesprächen zwischen Kolleg*innen über Berufliches und Privates.
Personale definiert die überwiegend migrantischen Arbeiter*innen über ihre Arbeit, in dem Maße, wie diese wegen prekärer Bedingungen, Zeitverträgen und fehlender Organisierung nun einmal ihr Leben bestimmt. Das scheint konsequent. Aber es bleibt die Frage, ob diese Konsequenz nicht ein ästhetischer Trugschluss ist – ob Filme eine solche materielle Fremdbestimmung nicht auch unterlaufen können. Oder sich irgendwie anders zu ihr verhalten als, wie die Regisseurin einmal eine ihrer Strategien erklärt, in der Verdopplung der Enge eines Lebens durch die Enge des Bildformats. Personale ist dennoch ein aufrichtiges und behutsames Porträt einer Arbeit, die für Urlauber*innen weitgehend unsichtbar ist. Im Film sind es die Hotelgäste, die niemals zu sehen sind, außer in ihren von den Arbeiter*innen zu verwischenden Spuren – diese Konsequenz gefällt mir wiederum sehr gut.
Echte Menschen unter Reptoiden
Auch wenn beide Filme also etwas zu wünschen übrig lassen, ist es genau dieser Rest, also das, was übrig bleibt, was in Duisburg nicht nur produktiv diskutierbar ist, sondern auch über die einzelnen Filme hinausführt, zu grundsätzlichen Fragen des Sehens und Beschreibens der Welt. Nochmal stärker aufgeladen sind diese Fragen bei Julian Vogels und Johannes Büttners Soldaten des Lichts, der grundsätzlich und auch auf dieser Seite bisher eher wohlwollend rezipiert wurde, in Duisburg aber auch nochmal kritisch diskutiert wird. Der Film folgt einem Reichsbürger-Health-Influencer und widmet sich nicht zuletzt seinem Einfluss auf Timo, der für einige Wochen gegen Verpflegung und ein kleines Taschengeld für die KRD-Veggie-Kommune arbeitet – und dabei offensichtlich eine psychische Erkrankung mit sich herumträgt, die eine andere Form von Hilfe nötig machen würde.
Wer hier ins Bild gesperrt wird, wer aufs Bild selbst einwirken darf, wer hier vorkommt und zu wessen Bedingungen, das sind angesichts der hier betretenen Welt besonders dringliche Fragen. Und so einleuchtend manche der von den Regisseuren im Gespräch dargelegten filmischen Strategien der Distanzierung bei gleichzeitiger Nähe zu den rechtsextremen Protagonisten auf den ersten Blick erscheinen mögen – etwa der Verzicht auf Nahaufnahmen, um die Social-Media-Produktion der rechten Influencer und Sektenanführer in den Blick zu nehmen – so unbefriedigt lassen sie mich am Ende zurück, gerade in der Souveränität, mit der sie dargelegt werden.

Viel eher habe ich das Gefühl, dass bis zum Schluss die Frage gar nicht geklärt ist, wie der Erfolg solcher Strategien überhaupt bemessen werden könnte, ob hier nicht ständig große Verunsicherung herrschte, sowohl beim Umgang mit den Leuten, die selbstbewusst davon sprechen, zu den wenigen Prozent echter Menschen unter lauter Reptoiden zu gehören, als auch beim Umgang mit einem psychischen Leiden, das vor den Augen der Kamera immer deutlicher wird. Es bleibt der Eindruck, einem Film beim (vielleicht produktiven) Scheitern zuzusehen. Einem Film aber, der vom ZDF mitproduziert wurde und – gerade nach Julian Vogels großem Erfolg mit der unbedingt sehenswerten Einzeltäter-Trilogie – mit größeren finanziellen und kulturellen Ressourcen ausgestattet ist und von einem größeren Publikum gesehen werden wird als die meisten anderen Filme in Duisburg. Weshalb er sich vielleicht auch dieses Scheitern nicht eingestehen kann.
Bleibende Bilder
Dass bei fast jedem Film Fragen bleiben, spricht in jedem Fall für die Programmauswahl. Und dass bei dem Festival konzeptionell keine Parallelveranstaltungen stattfinden, alle also prinzipiell dasselbe sehen und sich auch nach und zwischen den offiziellen Anlässen ständig über den Weg laufen, lässt ein kontinuierliches Gespräch über diese Fragen zu.

Doch natürlich bleiben von Duisburg nicht nur Fragen, sondern auch Menschen und Bilder, nicht zuletzt aus zwei schönen Kurzfilmen: In Predid Vatre porträtiert Regisseur Jakob Krese in Bosnien Hazira, die Srebrenica überlebt hat und ihr Trauma selbst sehr offen analysiert: über den Zwang zur Sauberkeit und über die eigene ständige Rastlosigkeit, von der sie nicht glaubt, dass sie je vorbeigehen wird. In Bahar Biss von Franziska von Stenglin ist die Stimmung eine gänzlich andere, in sich ruhende. Stenglin ist nach dem Tod ihres Vaters auf Malta umhergewandert und hat die Fischer getroffen, die dort nach Fischen angeln, die es längst nicht mehr gibt. Der alte Punta schält sich als Protagonist heraus, wir sehen ihn eine Reuse flechten, die schließlich eine Klippe herunter- und später wieder hochgelassen wird. Auch die 16mm-Bilder von einsamen Felsen, von letzten Fischen, von flechtenden Händen werden bleiben, ebenso wie die unheimliche Stimmung einer Post-Apokalypse im Kleinen, einem Foreshadowing, in dem das leere Meer für eine leere Welt steht.
Bleiben werden auch die Bilder von Silent Observers und die Tiere, die sie bestimmen; nicht nur kackende Raupen, auch erkältete Pferde, Hunde auf Abwegen und Katzen, in denen Menschenseelen vermutet werden. Eliza Petkovas Dezentrierung des Menschen funktioniert besonders schön über das Sound Design. Irgendwo in der Ferne bellt ein Hund, so ist es ja manchmal im Kino und im Leben, aber in diesem einen Moment ist es andersherum: Irgendwo in der Ferne ruft ein Mensch, und ich bin kurz zum Tier geworden.








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